Die Archonen sind im Zustand der vollkommenen Reinheit und Unverdorbenheit.

Ihre Rechtschaffenheit und Güte ist das leuchtende Beispiel für den Rest des Multiversums.

Lasst uns diesem Beispiel folgen!“

Philosophie der Archoniten

 


 

Erster Untertag von Ligatus, 126 HR

Morânia hatte beschlossen, den Weg vom Großen Gymnasium zum Haus der Visionen zu Fuß zurückzulegen. Zum einen war die Strecke nicht allzu weit, zum anderen war Ligatus. Mochte man auch vom Monat der Anarchisten und der Freien Liga philosophisch gesehen halten, was man mochte, er brachte das mitunter angenehmste Wetter mit sich, das Sigil zu bieten hatte, und das drei Wochen am Stück. Es gab weder Regen noch Nebel, die Temperaturen waren lau bis warm und der Himmel schimmerte azurblau über den Dächern. Aber auch ungewöhnliche Wetter-Erscheinungen traten jetzt auf, die es außerhalb von Ligatus in Sigil nicht gab. Am sechsten Tag des Monats war es der Smaragdnebel: Ein grün glitzernder Nebel durchzog die Gassen, in dem urplötzlich merkwürdige, oft giftige oder fleischfressende Pflanzen gediehen. An manchen Ecken schossen grell-bunte Pilze aus dem Boden. Wo der grüne Nebel sich zurückzog, starben die Pflanzen allerdings schnell wieder ab. Auf ihrem Weg konnte Morânia diesen Nebel in einigen nahen Straßen erspähen und machte einen sorgsamen Bogen um ihn. Sie freute sich darauf, die anderen Erwählten zu treffen, da sie einander eine Weile nicht gesehen hatten. Nach wie vor wussten sie nicht genau, wo und wie sie bezüglich der Prophezeiung weitermachen sollten, und so war seit dem letzten Treffen ein wenig Zeit vergangen. Der einzige Hinweis schien Lawshredder zu bleiben. Lereia hatte ihnen von ihrer unheimlichen Begegnung mit dem Serienmörder im Haus der Vorboten erzählt, und da er der einzige Anhaltspunkt war, hatten sie beschlossen, sich im Haus der Visionen zu treffen, um die Botin zu befragen. Morânia hatte viel meditiert, um sich in ihre Gabe zu vertiefen und hoffte, die Seele des Erzengels erneut von sich aus wecken zu können. Drei Tage zuvor hatten Naghûl, Lereia, Jana und Kiyoshi sich bereits getroffen, um die Fragen vorzubereiten. Sgillin hatte als einziger gefehlt – er war mit den Klingenengeln unterwegs gewesen, bei denen er sich offenbar häufiger aufhielt, seit seine Mitgliedschaft bei den Anarchisten offenbar geworden war. Das konnte man ihm natürlich nicht anlasten – sie waren nun immerhin sein Bund, auch wenn sie sich nicht so nannten. Aber nach wie vor behagte die Sache Morânia nicht, und nach dem, was Naghûl ihr vom Treffen mit den anderen berichtet hatte, traf dies auf alle Erwählten zu. Die Bal'aasi fragte sich insgeheim, wie Lereia mit dieser Situation umging. Die junge Frau schien rechtschaffener Gesinnung zu sein und war Mitglied eines jener Bünde, gegen den die Anarchisten kämpften. Wie ihre und Sgillins Beziehung das verkraftete, wusste Morânia nicht genau, doch konnte sie sich lebhaft vorstellen, dass es zu Problemen führte. Jana war laut Naghûl offenbar ebenso angespannt gewesen, da ihre Verhandlung wegen der Tempelschändung kurz bevor gestanden hatte. Wenn Morânia sich richtig erinnerte, musste der Termin vorgestern gewesen sein. Die Hexenmeisterin hatte erzählt, dass Yelmalis ihr Anwalt sein würde – wohl ein von Bundmeister Hashkar selbst ausgehender Versuch, wieder einen gewissen Frieden zwischen den beiden Erwählten-Gruppen zu stiften, nachdem die Beziehungen durch die Vorfälle mit Mallin und Garush doch sehr angespannt waren. Auch wenn es ein rein pragmatischer Schachzug sein mochte, so war Morânia dem weisen Zwergen-Gelehrten doch dankbar für diese symbolische ausgestreckte Hand der Versöhnung. Als sie das Haus der Visionen erreichte, war die Tür leicht angelehnt und sie hörte die Stimmen der anderen gedämpft aus dem ersten Raum dringen. Leise trat sie ein und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Sie erblickte ihren Mann Naghûl, Jana, Lereia und Kiyoshi. Sgillin fehlte abermals, also war er wahrscheinlich wieder oder immer noch bei den Klingenengeln. Die anderen begrüßten sie freundlich bis herzlich, und Morânia entnahm dem Gespräch, dass es gerade um Janas Verhandlung gegangen war.

„Wie lautete das Urteil?“, fragte sie, so sachlich und höflich es ihr möglich war.

Jana schien ihr die Frage nicht übel zu nehmen, denn sie machte keinen verstimmten Eindruck, aber dennoch war es Kiyoshi, der antwortete. „Sie muss sechs Stunden lang die Wand des Tempels reinigen, den sie besudelt hat. Zusätzlich hat sie sechs Stunden am Pranger zu stehen und zweitausend Silbermünzen an die Stadt Sigil zu zahlen. Ein außerordentlich mildes Urteil.“

Morânia nickte Jana zu. „Ja, da bist du eigentlich ganz gut weggekommen.“

„Oh.“ Lereia schluckte ein wenig. „Ich finde, das klingt nach einem sehr strengen Urteil. Aber ich war noch nie bei einer Gerichtsverhandlung dabei und kann das schlecht vergleichen.“

„Nun ja, in Sigil kann man für so etwas mehrere Monate ins Gefängnis gehen“, erklärte die Bal'aasi. „Oder gebrandmarkt werden, wenn es dumm läuft. Daher hat sie Glück gehabt – und wahrscheinlich auch einen guten Anwalt.“

Jana nickte zustimmend. „Ja, Yelmalis hat seine Sache gut gemacht. Was nach dem Urteil passierte, war natürlich weniger erfreulich …“

„Ja, ich habe von dem Anschlag gehört“, erwiderte Naghûl ernst. „Wie geht es euch?“

„Es geht uns gut“, antwortete Kiyoshi sachlich, während Lereia erschrocken die Augen weitete.

„Ein Anschlag? Davon habe ich noch gar nicht gehört. Im Großen Gerichtshof?“

„Ja, es gab einen Anschlag auf Bundmeister Terrance“, erklärte Naghûl. „Zumindest wird das so behauptet. Ein Anarchist jagte sich in die Luft, hieß es. Im Gerichtssaal, direkt nach der Urteilsverkündung.“

„In der Tat“, bestätigte Kiyoshi. „Ein sehr unauffällig aussehender Zuschauer tötete sich selbst mit einem Sprengsatz.“

Morânia entging nicht, wie Lereia bei dem Hinweis auf die Anarchisten noch ein wenig blasser wurde, als sie es ohnehin war. „Wurde jemand verletzt?“, fragte sie leise.

„Ja“, erwiderte die Bal'aasi betreten. „Es gab auch einige Tote.“

„Herrje.“ Die Miene der jungen Frau wandelte sich von erschrocken zu bestürzt. „Das ist schrecklich.“

„Auf jeden Fall“, meinte Naghûl ernst. „Ein Gnadentöter kam auch dabei um, der sich angeblich zwischen Terrance und die Bombe warf.“

„Bundmeister Terrance ist unverletzt?“, fragte Lereia besorgt.

„Natürlich ist er das“, erwiderte Jana mit einem Lächeln, das andeutete, dass dies quasi außer Frage stand.

„Ich nehme an, für öffentliche Veranstaltungen in Sigil gibt es keine Kontrollen oder ähnliches?“ Lereias Frage klang ein wenig unsicher, so als könne sie sich dies selbst nicht ganz vorstellen.

„Doch, die gibt es“, meinte Morânia freundlich. „Aber wir haben auch Ligatus.“

Lereia dachte kurz nach und runzelte dabei die Stirn. „Der Monat der Anarchisten?“

„Und Freiligisten, genau.“ Naghûl nickte. „Er hat dieses Jahr Nihilum unterwandert.“

„Unterwandert?“ Lereia seufzte leise. „Ich fürchte, ich verstehe noch nicht ganz, was es damit auf sich hat.“

„Ligatus ist der vierzehnte Monat im Jahr von Sigil“, erklärte Morânia bereitwillig. „Er ist aber eigentlich nicht im Kalender vorgesehen. Er taucht jedes Jahr zu einem beliebigen, ganz anderen Zeitpunkt auf. Er unterwandert dann einen anderen Monat, wie die Anarchisten andere Bünde unterwandern.“

Dem Blick der jungen Frau war zu entnehmen, dass sie den Kalender Sigils als recht verwirrend empfand. Wer konnte es ihr verdenken? „Und wer legt das fest?“, fragte sie irritiert.

„Keine Ahnung, es passiert einfach.“ Morânia lächelte entschuldigend, da sie keine bessere Erklärung bieten konnte. „Man merkt es erst einmal am Wetter. Es ist in den drei Wochen von Ligatus ungewöhnlich warm, mild und vor allem stabil. Aber es gibt auch ungewöhnliche Erscheinungen, zum Beispiel diesen grünen Nebel, der zur Zeit in manchen Straßen hängt.“

Lereia nickte verstehend. Den Smaragdnebel hatte sie offenbar auf dem Weg zum Haus der Visionen auch gesehen. „Sollte man den meiden?“

„Er lässt merkwürdige Pflanzen gedeihen“, erklärte die Bal'aasi. „Oft fleischfressende oder giftige, daher sollte man etwas aufpassen.“

„Das ist wirklich … merkwürdig und ungewöhnlich“, stellte Lereia stirnrunzelnd fest.

„Ja, das Wetter und der Kalender von Sigil sind wirklich eine Sache für sich“, räumte Naghûl ein. „Aber aus diesem Grund sind wir nicht hier, nicht wahr?“

„Richtig“, erwiderte Morânia. „Wir wollen die Botin befragen. Ich habe mich in den letzten Tagen durch Meditation und ein paar Aufenthalte in der Kammer der Kadenz darauf vorbereitet. Ich denke, ich kann sie bewusst wecken, so wie letztes Mal. Aber vielleicht kann ich es noch besser steuern, die Verbindung länger aufrecht erhalten … Wer weiß, wir werden es sehen. Fragen habt ihr ja vorbereitet.“

Lereia nickte ernst. „Wenn du bereit bist, beginnen wir. Willst du dich setzen?“

„Nein, ich versuche es erst einmal im Stehen“, meinte Morânia nach kurzem Nachdenken. „Ich sollte lernen, das besser zu kontrollieren, für Situationen, in denen die Botin sich unverhofft meldet. Aber … fangt mich auf, falls es nicht klappt.“

„Immer“, versicherte Naghûl schmunzelnd.

Sie nickte lächelnd, dann schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf ihren Atem und Herzschlag. Sie versuchte, alle Gedanken aus ihrem Kopf zu vertreiben, den inneren Fokus allein auf die Verbindung zu der himmlischen Seele in sich zu richten. Erst war es wieder das Tappen im Dunkeln, das sie auch beim letzten Mal verspürt hatte, als er ihr gelungen war, die Botin zu rufen. Doch dann – und schneller als damals – nahm sie es wieder wahr: das warme, sanfte Gefühl, als würden große Schwingen sie sachte streifen, sie behüten und beschirmen … Dann wurde ihr Innerstes von Wärme und Licht durchflossen. - Sie war da. Durch den Schleier, der sie stets von der Engelsseele trennte, fühlte sie dennoch, dass sie fest und sicher stand. Ihre Stimme hatte jenen Nachhall, der nun schon fast vertraut war, wenn die Botin durch sie sprach.

„Fragt und euch wird geantwortet“, hörte sie sich sagen.

Naghûl räusperte sich und stellte dann wie besprochen die erste Frage. „Wird Sougad Lawshredder in naher Zukunft lebendig und in Freiheit das Haus der Vorboten verlassen?“

Morânia spürte, wie sich trotz der Anwesenheit der Botin ein mulmiges Gefühl ob dieser Frage in ihrem Magen ausbreitete. Und auch das kurze Stoßgebet, das sie instinktiv an den Morgenfürsten schickte, änderte nichts an dem Schauder, der sie überlief, als sie sich selbst antworten hörte: „Ja.“

Sie sah Naghûl kurz zusammenzucken und nahm wahr, wie Lereia sich auf die Lippen biss. Kiyoshi hingegen straffte sich, denn es war an ihm, die nächste Frage zu stellen.

„Ist Sougad Lawshredder ein essentieller Bestandteil der Geschehnisse, die von der Prophezeiung beschrieben werden?“

Auch bei dieser Frage war die Anspannung im Raum fast körperlich greifbar. Und auch diesmal antwortete die Botin: „Ja.“

Lereia atmete tief durch. „Sind die Erwählten durch ihre Gaben fähig, Sougad Lawshredder aufzuhalten?“, fragte sie.

„Wahrscheinlich“, vernahm Morânia sich die Antwort geben.

Ihr Blick, gelenkt von der Botin, wanderte zur Jana, doch die Hexenmeisterin schwieg. Scheinbar hatte sie es den anderen überlassen, die Fragen zu stellen. So ergriff wieder Kiyoshi das Wort.

„Ist eine oder mehrere der nachfolgend genannten Personen ein Ziel mit gehobener Bedeutung für Sougad Lawshredder: Der ehrwürdige Bundmeister Sarin-gensui, der ehrenwerte Legat Shar Tonat-taisho, der ehrenwerte Legat Caine Killeen-taisho oder der ehrenwerte Lord Valiant-sama?“

Im Gegensatz zu vielen sterblichen Gesprächspartnern schien die Botin unberührt von den verschiedenen Suffixen, die Kiyoshi stets an alle Namen anfügte. Und zu Morânias Erleichterung hörte sie sich antworten: „Nein.“

Obgleich der junge Soldat seine Gefühle stets so meisterhaft verbarg, konnte Morânia ihm nun doch ansehen, dass er erleichtert ausatmete. Die Bal'aasi versuchte, sich hinter der dünnen Wand, die sie von der Botin und somit ihrer Umwelt trennte, zu fokussieren und sich ganz auf die himmlische Seele einzulassen. Letztes Mal hatte sie fünf Fragen beantworten können, und sie spürte auch jetzt, dass die Verbindung noch stabil war. Lereia nickte Naghûl auffordernd zu und er stellte die letzte Frage, die sie vorbereitet hatten:

„Gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Eintreffen von Lord Valiant und der Freiheit von Lawshredder?“

„Nein“, antwortete die Botin, sichtbar zur Erleichterung aller.

Dann standen sie ihr gegenüber, sahen sie an … Morânia blickte zurück. Die Verbindung bestand noch … Aber sie spürte, wie sie ihr rasch entglitt, hoffte, dass ihre Freunde geistesgegenwärtig genug waren, um schnell genug eine weitere Frage zu stellen. Als erste reagierte Lereia.

„Sind wir ein Ziel mit gehobener Bedeutung für Sougad Lawshredder?“, fragte sie eilig.

Morânia spürte, dass sie ihren bisher festen Stand verlor und leicht ins Wanken geriet. Sie ballte die Fäuste, zitterte – und tatsächlich antwortete die Botin einmal mehr. „Möglich.“

Dann war es vorbei, der Kontakt zur Seele des Erzengels brach ab und Morânias Körper gehörte wieder ihr selbst. Naghûl und Lereia eilten an ihre Seite, bereit, sie zu stützen, falls nötig. Dankbar griff sie nach ihrer beider Hände und ließ sich dann langsam nieder, genau an der Stelle, wo sie stand.

„Ich … muss mich mal setzen“, murmelte sie, als sie spürte, wie eine Woge der Erschöpfung sie überspülte.

Naghûl stellte sich hinter sie, damit sie sich gegen seine Beine lehnen konnte. „Natürlich, Liebes.“

Sie sank gegen seine Schienbeine, während sie mit der Rechten leicht seine Hand drückte, die sie noch hielt. „Danke … Danach ist es irgendwie immer, als wäre man todmüde und würde krampfhaft versuchen, sich wachzuhalten. Aber immerhin wissen wir etwas mehr.“

„Ja.“ Naghûl nickte. „Und manches davon ist sogar beruhigend. Anderes wieder ...“

Er unterbrach sich, denn im selben Moment sank auch Jana mit einem leisen Ächzen zu Boden. Kiyoshi konnte sie gerade noch rechtzeitig unter den Armen fassen, um zu verhindern, dass sie fiel. Ihre Augen waren silbrig-weiß … eine Vision. Dann wurde es dunkel, und diesmal wusste Morânia bereits, was das zu bedeuten hatte – oder ahnte es zumindest. Ein merkwürdiges Schwindelgefühl kam hinzu, als würde sie in einem Strudel durch die Zeit gezogen. Wahrscheinlich nahm Jana sie mit in ihre Vision. Als es wieder heller wurde, bestätigte sich die Vermutung der Bal'aasi: Sie befanden sich nicht mehr im Haus der Visionen …

 

… Stattdessen standen sie auf dem Turm einer großen Festung unter azurblauem Himmel. In unmittelbarer Nähe sahen sie drei Wächter in schönen Rüstungen, einer von ihnen hatte weiße Schwingen. Zudem konnten sie einen Hundearchon erkennen und einen Mann, der eine Art Herold sein mochte. Wie Naghûl es ihr auch von der Vision in der Kaserne berichtet hatte, waren sie Zuschauer, Beobachter, die alles sehen und hören, aber nicht handeln konnten. Aus einer der Türen, die zum Turm hoch führten, trat soeben eine ältere Frau von etwa sechzig Jahren. Sie trug ein kostbares, weißes Kleid und alle Anwesenden verneigten sich tief vor ihr. Morânia erkannte sie sofort als Juliana Spesinfracta, ehemalige Bundmeisterin des Harmoniums und nun Erzbischöfin der Archoniten. Als sie sich dem Herold näherte, verneigte dieser sich nochmals vor ihr.

„Ist er noch nicht da?“, fragte die Erzbischöfin streng und ließ den Blick ihrer grauen Augen über den Turm schweifen.

„Noch nicht, Herrin“, erwiderte der Herold entschuldigend. „Ich bedaure, Eure Erhabenheit.“

Missbilligend schüttelte Lady Juliana den Kopf. „Dass man immer auf diesen Mann warten muss.“

Der Herold nickte rasch und entfernte sich auf einen Wink von ihr wieder ein Stück, fast erleichtert, mochte es scheinen, dass er für die Verspätung des noch unbekannten Gastes nicht verantwortlich gemacht werden konnte. Die Erzbischöfin wartete noch eine Weile, dann öffnete sich in dem kreisförmigen Mosaik in der Mitte des Turmes ein Portal. Heraus trat ein attraktiver Halbelf mit langem, schwarzem Haar: Killeen Caine, der Legat von Arcadia. Er ging auf Juliana zu und beugte ein Knie vor ihr. Mit tadelnd erhobenen Brauen reichte sie ihm die rechte Hand, die er küsste.

Der Segen Celestias, Legat Caine”, grüßte sie ihn. „Wie schön, dass Ihr kommen konntet. Wenn auch etwas verspätet. Und ich dachte, ich hätte Euch das damals ausgetrieben.“

Killeen erhob sich wieder und grinste, man konnte es fast ein wenig spitzbübisch nennen. „Seit ich Legat bin, habe ich die Möglichkeit, meine alten Unsitten wieder anzunehmen, Herrin.“

„Nun, das sehe ich“, erwiderte sie tadelnd. „Und was ist das für ein Aufzug, in dem Ihr hier erscheint?“

Der Halbelf war in praktische, dunkle Gewänder aus Leder gekleidet, er wirkte im Moment tatsächlich eher wie ein Waldläufer oder einfacher Krieger denn wie ein Legat des Harmoniums. Er sah an sich herab. „Ich bitte um Vergebung. Ich war unterwegs, als mich die Nachricht erreichte, dass ...“

Lady Juliana winkte ab. „Ja, schon gut.“

Man merkte Killeen an, dass er sich freute, sie zu sehen und sich daher weder an ihren Worten noch an ihrem Tonfall störte, die beide den Eindruck vermittelten, als spräche die Erzbischöfin mit einem unartigen Jungen. In seinen violetten Augen stand ein warmer Ausdruck der Zuneigung.

„Aber Ihr habt doch nicht wegen meiner Kleidung nach mir geschickt oder um an den kleinen Macken meines Umgangs zu feilen, oder Herrin?“

„Zugegeben nicht“, entgegnete sie. „Obwohl das auch keine schlechte Idee wäre.“

Der Legat grinste kurz, und sie gab den Wächtern und dem Herold ein Zeichen, sie alleine zu lassen. Dann winkte sie ihm, ihr zu folgen und ging zu den Zinnen, um über die Festungsanlage zu blicken.

Killeen wurde ernster. „Erhabenheit, nicht dass ich nicht gerne gekommen wäre … Aber was ist so wichtig, dass Ihr mich so plötzlich habt aus Melodia rufen lassen?“

Sie öffnete einen schmalen Schriftrollenbehälter, den sie an der Seite trug, zog ein Pergament heraus und reichte es dem Halbelfen. „Sagt Euch das etwas?“

Er sah es sich eine Weile an und schüttelte dann den Kopf. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung, worum es sich hierbei handeln könnte. Die Schrift ist mir vollkommen unbekannt.“

„Ich habe eine Ahnung, was es sein könnte“, erwiderte die Erzbischöfin ernst.

Langsam ließ Killeen das Pergament sinken. „Ihr meint ...?“

„Ja, es wäre möglich. Wir sollten es mit Sarin besprechen.“

„In jedem Fall“, pflichtete der Halbelf ihr bei. „Soll ich das Schriftstück nach Sigil bringen, Herrin?“

Sie nahm es ihm wieder aus der Hand und rollte es ein. „Nein, Legat, das werde ich selber tun.“

Nun trat offenkundige Besorgnis in seinen Blick. „Seid Ihr sicher, Herrin? Gab es nicht ernste Hinweise, dass man in Sigil …“

„Einen Anschlag auf mich plant?“ Die Erzbischöfin wirkte sehr gefasst. „Ihr dürft es ruhig aussprechen. Ja, aber Valiant kommt nach Sigil und ich habe das ungute Gefühl, ich sollte dem Käfig auch wieder einmal einen Besuch abstatten.“

Killeens Miene verfinsterte sich. „Dieser Wahnsinnige hat uns noch gefehlt.“

„Ich muss doch bitten, Legat“, entgegnete Lady Juliana sachlich. „Lord Valiant ist immerhin ein Prinz Celestias. Nicht, dass ihn das meinem Herzen näher bringt, aber wahrt bitte die Form.“ Ihr Tonfall war allerdings nicht besonders tadelnd bei diesen Worten.

Dennoch räusperte Killeen sich und deutete eine Verneigung an. „Natürlich, Erhabenheit. Bitte verzeiht.“

Sie nickte gnädig. „Gut. Ich werde also …“

Doch dann brach sie abrupt ab … Von irgendwoher war ein Pfeil angeschwirrt und hatte von hinten ihre Kehle durchbohrt, so dass die blutige Spitze vorne aus ihrem Hals drang. Ihre Augen weiteten sich, das Pergament fiel zu Boden, sie griff sich an die Kehle und stürzte … Morânia verspürte den Drang, loszurennen, hinüber zu laufen, etwas zu unternehmen - doch sie konnte nur hilflos und voller Schrecken zusehen.

„Herrin!“, rief Killeen entsetzt. Er fing sie noch auf, doch ihr Kleid, der Boden, das Schriftstück … alles war voller Blut …

 

… Dann war es vorbei. Alles war in einem Wirbel aus Dunkelheit versunken, und als ihre Sicht sich wieder klärte, fanden sie sich erneut im Haus der Visionen. Jana lag bewusstlos am Boden … Morânia griff nach ihrer Hand und drehte sich gleichzeitig zu ihrem Mann, der offenbar hinter ihr zu Boden gesunken war und sich mit geweiteten Augen auf seinen Stab stützte, während er versuchte, sich wieder aufzurappeln.

Lereia, die ebenso am Boden saß, hustete einige Male und schnappte nach Luft. „Bei Eldath ...“, brachte sie hervor, während Tränen über ihre Wangen rannen.

Auch Kiyoshi hatten offenbar die Beine nachgegeben, doch er versuchte sofort, wieder aufzustehen. Morânia bemühte sich ebenso, spürte aber, dass ihre Beine nach der Anstrengung durch das Wachrufen der Botin noch zu wackelig waren.

„Bei allen guten Göttern ...“, flüsterte sie. „War das ... die Gegenwart oder die Zukunft?“

Naghûl blickte sprachlos von einem zum anderen, sein Gesichtsausdruck war entsetzt. Jana atmete flach, aber gleichmäßig und ließ sich durch Morânias sachtes Rütteln nicht wecken.

„Verzeiht“, sagte Kiyoshi, schon auf dem Weg zur Tür, so schnell es ihm auf noch unsicheren Beinen möglich war. „Doch ich muss sofort den ehrwürdigen Bundmeister Sarin-gensui warnen.“

„Ja ...“ Lereias Atem ging schnell. „Wir müssen rasch zu Sarin, vielleicht kann man sie noch warnen. Es scheint jetzt oder bald zu passieren, aber vielleicht ist es nicht zu spät.“ Sie wischte sich die Tränen weg. „Ich hoffe, es war nicht die Gegenwart ...“

Naghûl sah fragend zu Morânia, doch sie schüttelte den Kopf.

„Geht ihr drei. Ich bin noch zu schwach, ich würde euch in meinem Zustand nur aufhalten. Und Jana ist bewusstlos, wir sollten sie nicht allein lassen. Warnt Sarin, schnell!“

Kiyoshi, Lereia und Naghûl nickten, dann stürmten sie Richtung Ausgang. Morânia aber blieb neben Jana auf dem kühlen Steinboden sitzen und versuchte, ihr rasendes Herz zu beruhigen. Sie behielt die Hand der Hexenmeisterin locker in ihrem Griff, um den Puls zu prüfen und sprach dabei mit geschlossenen Augen ein Gebet zu Lathander. Bei allem, was ihr heilig war, hoffte sie, die Tragödie möge noch zu verhindern sein.

 

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gespielt am 18. November 2012

Sgillins Spieler war in diesem Teil der Geschichte immer wieder dienstlich unterwegs und daher ingame oft bei den Klingenengeln.

 

 

 

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