„Das Böse richtet sich immer gegen sich selbst.“
die Scheiben von Mishakal
Dritter Dametag von Savorus, 126 HR
Naghûl stieß einen wilden Fluch auf Abyssal aus, als sich der Bebilith gemeinsam mit dem Deva fort teleportierte. Morânia spürte wie ihr vor Schreck das Herz sank – und dann eine unbändige Wut. Auf den Bebilith, der einfach mit Ybdiel verschwunden war, aber auch auf sich selbst, dass sie ihn so nah an den Engel herangelassen hatte. Deva-Funke, Hoffnung und der Glaube an das Gute schön und recht, aber hier waren sie zu unvorsichtig gewesen, zu leichtsinnig. Und nun war der Bebilith mit dem Funken verschwunden – und zu allem Überfluss Ybdiel mit ihm. Sie waren einen Schritt nach vorn und dann drei zurück gegangen. Frustriert und niedergeschlagen kehrten sie zurück zum Schiff, um nachzusehen, ob Lereia und Sgillin inzwischen wach waren. Ehe sie an Bord gingen, sah Jana sich noch einmal mit hoffnungsvollem Blick am Ufer um, aber keine Spur von dem Scheusal oder dem Engel.
„Und jetzt?“ fragte die Hexenmeisterin ein wenig resigniert. „Müssen wir wieder eine gute Tat tun, um ihnen zu folgen?“
Morânia wiegte seufzend den Kopf. „Die Leute hier zu retten, war gewiss eine gute Tat, die uns weiterbringen dürfte.“
„Wem folgen?“, erklang es hinter ihnen. „Dem Gesang?“
Sie drehten sich um und sahen Sgillin und Lereia auf der Landungsbrücke, die offenbar wieder aufgewacht und im Begriff waren, von Bord zu gehen, um nach ihnen zu suchen. Lereia befand sich noch in Tigergestalt, und beiden wirkten ein wenig konfus, wie es einem eben ging, wenn man aus einem etwas zu tiefen Schlaf erwachte.
Trotz der ernsten Lage musste Morânia bei ihrem Anblick schmunzeln. „Ah, wieder wach?“
Lereia schüttelte leicht desorientiert den großen Kopf und fuhr sich mit einer Pranke über die Schnauze.
„Ja, so ziemlich …“, erwiderte Sgillin blinzelnd. „Was war denn los? Und wer hat da die ganze Zeit gesungen?“
„Das waren Delphonen“, erklärte Morânia. „Intelligente, große Fische, Haien nicht unähnlich, die den Oceanus bewohnen. Ihr Gesang kann einen bezaubern, und dann schläft man tief ein und träumt.“
Sgillin rieb sich den Nacken. „Delphonen, hm? Also keine blonden, vollbusigen Meerjungfrauen.“
„Von denen hast du wohl nur geträumt“, meinte die Bal'aasi mit einem Grinsen.
„Ich?“ Der Halbelf lachte. „Nie …“
Lereia hatte sich unterdessen forschend am Ufer umgesehen. „Wo sind wir jetzt?“
„Wie geplant im Reich von Mishakal. Es gab da allerdings …“ Morânia seufzte. „Es gab einen kleinen Zwischenfall, während ihr geschlafen habt.“
Sgillin hob alarmiert die Brauen. „Oha …“
Nun berichteten Morânia, Naghûl und Jana abwechselnd, was sich ereignet hatte, seit Sgillin und Lereia in den tiefen Traumschlaf der Delphonenlieder gefallen waren. Nur Kiyoshi, schweigsam wie meist, hielt sich zurück und ließ die anderen erzählen. Als sie an der Stelle ankamen, an der sich Abaia mit Ybdiel hinfort teleportiert hatte, vergrub Sgillin kurz das Gesicht in den Händen. Lereia hingegen hob sofort den Kopf und schnupperte mit aufgestellten Schnurrhaaren. Doch dann schüttelte sie bedauernd das mächtige Tigerhaupt.
„Ich kann ihn nicht mehr wittern. Hm … Funktionieren Teleportationszauber hier ohne gute Taten eigentlich …. ich weiß nicht, fehlerhaft oder eingeschränkt?“
„Sie funktionieren in der Tat nur bedingt“, bestätigte Morânia ihre Vermutung. „Der Bebilith kann sich teleportieren, aber nicht so weit wie er es ansonsten gewohnt ist. Jedoch weit genug, dass wir nun nicht wissen, in welche Richtung wir gehen sollen.“
„Er könnte allerdings auch – aus erneutem schlechtem Gewissen heraus – etwas Gutes tun und so weiterkommen“, gab Naghûl zu bedenken, woraufhin Jana frustriert die Arme ausbreitete.
„Es wird doch eine Möglichkeit geben, einen Dämon aufzuspüren, gerade hier!“
„Normalerweise ja“, meinte Morânia seufzend. „Aber der Funke scheint mehr und mehr die dämonische Aura des Scheusals zu überdecken. So kann man ihn nur schwer finden.“
„Ich habe einen Vorschlag“, meldete sich nun Kiyoshi zu Wort. „Wäre es vielleicht möglich, durch ein Wort der Alten Sprache das zu erreichen, was in Eurer Wohnung die Illusion von Blut erweckte, um so die Richtung zu ermitteln?“
„Jetzt bin ich leider überfragt“, erwiderte Morânia lächelnd. „Ich kenne ja Eure Gabe nicht wirklich.“
Jana hob die Schultern. „Ich verstehe nicht einmal genau, was du meinst. Aber wenn du dir das zutraust …“
„Da sie sich ja gemeinsam fortbewegt haben, müsste man auch beide in derselben Richtung finden können“, versuchte Kiyoshi seine Gedankengänge zu erklären. „Wenn ich mit einem Wort zum Beispiel nach ihren Seelen suchen könnte. Aber ob es gelingt, kann ich leider nicht garantieren.“
„Probier’s doch einfach aus“, schlug Sgillin vor und Morânia nickte.
„Ein Versuch kann vielleicht nicht schaden.“
„Du wirst das Elysium schon nicht abdriften lassen“, bemerkte Naghûl mit einem Grinsen gen Kiyoshi. „Also mach nur.“
„Beim Harmonium wäre ich mir da nicht so ...“ Morânia unterbrach sich und hustete etwas. Der Satz war ihr spontan herausgerutscht, aber sie wollte Kiyoshi natürlich keineswegs brüskieren. Gesetzt den Fall, dass er überhaupt schon über die Geschichte mit dem nach Mechanus abgedrifteten Nemausus Bescheid wusste. „Verzeihung, ich hab nichts gesagt“, fügte sie entschuldigend an.
Kiyoshis Miene blieb unbewegt, sei es nun, weil er tatsächlich nicht wusste, worauf sie angespielt hatte oder weil dies nun einmal sein bevorzugter Gesichtsausdruck war. Naghûl hatte ein wenig lachen müssen auf ihren Kommentar hin.
„Wenn wir uns danach im Limbus wiederfinden, dann war es wohl nicht so erfolgreich“, scherzte er.
Morânia stupste ihn ein wenig an. „Hör mir bloß auf ...“
„Ich bin ehrlich gespannt, ob das funktioniert“, meinte Jana, und Sgillin nahm sicherheitshalber den Bogen von der Schulter.
Kiyoshi konzentrierte sich und schloss dabei die nunmehr gelben Augen mit den geschlitzten Pupillen.
„Âtmâ Ybdiel“, sagte er dann laut.
Als der junge Mann diese Worte sprach, spürte Morânia ein kurzes, heftiges Ziehen in ihrem Inneren. Es fühlte sich eigenartig an, fast unmöglich zu beschreiben, als ob etwas nach ihrer Seele fasste. Es war nicht direkt schmerzhaft, aber doch unangenehm, wie ein heftiger, zu heißer Windstoß, der kratzigen Sand mit sich führte. Doch glücklicherweise wehte er schnell vorüber und ließ sie dann unbehelligt. Jana schauderte sichtlich und Sgillin zuckte erschrocken zusammen.
„Sag das nicht nochmal …“, brummte er missgestimmt.
Kiyoshi erwiderte jedoch nichts darauf, sondern deutete weg vom Ufer, an den Ställen vorbei. „Wenn ich mich nicht irre, dann ist dies die richtige Richtung, ehrenwerte Gefährten.“
„Dann sollten wir wohl dort entlang gehen“, meinte Morânia. „Denn einen anderen Hinweis haben wir nicht.“
Naghûl nickte. „Besser als nichts.“ Er zog die Luft scharf ein und schüttelte sich, als wollte er etwas loswerden – vielleicht das von Kiyoshis Wort verursachte Gefühl. Dann folgte er der Wegweisung des jungen Soldaten in Richtung der Ställe.
Auf dem Weg zurück am Gasthaus vorbei, verabschiedeten sie sich noch von Elinda und den beiden Verwundeten, gaben ihnen ein paar Heiltränke und das Versprechen, sich um den Bebilithen zu kümmern – auf welche Weise auch immer. Dann gingen sie vom Fluss Niloa fort landeinwärts, und alsbald dehnte sich vor ihnen die elysische Landschaft hin: sanfte, grüne Hügel und klare Bäche wechselten sich ab mit blühenden Hainen und kleinen Seen, die von violettem Federfarn gesäumt waren. Celestische Tiere von seltener Schönheit kreuzten immer wieder ihren Weg: Amorianische Wildgänse mit Federn in allen Farben des Regenbogens, geflügelte, weiße Wölfe oder schillernde Rubinkäfer mit wundervoll gemustertem Panzer. Einmal konnten sie eine große, fliegende Azurschlange sehen, die sich um den Ast eines Baumes gewunden hatte und deren Schwingen hellgrün glitzerten. Ein anderes Mal erblickten sie sogar ein Einhorn, das ruhig grasend unter einem blühenden Baum stand. Während dieser Wanderung durch die Gefilde Mishakals bemerkte Morânia, wie ihre Reisegefährten ruhiger wurden, entspannter, fröhlicher. Sgillin und Lereia musterten aufmerksam die ihnen neue Flora und Fauna. Der Waldläufer und die naturverbundene Eldath-Anhängerin interessierten sich natürlich besonders für die Tiere und Pflanzen der Ebene. Lereia rieb ab und zu entspannt den Kopf am hohen Gras und man konnte fast meinen, ein Schnurren zu vernehmen. Naghûl pfiff leise vor sich hin, pflückte ab und an eine Blume, die er Morânia schenkte und genoss offenbar die laue Luft und das angenehme Wetter. Selbst Kiyoshi wirkte fast fröhlich, zumindest weniger steif und ernst als sonst. Jana war für ihre Verhältnisse ungewöhnlich still, doch obgleich sie sich als Athar im Reich einer Göttin gewiss nicht allzu wohl fühlte, wirkte selbst sie nicht angespannt. Morânia nickte bei sich. Dies war der Grund, warum man das Elysium als Ausdruck des äußersten inneren Friedens kannte: Weil die Ebene selbst die aufgewühlten Seelen der Erwählten während dieser Wanderung beruhigte und glättete. Sie atmeten die reine Luft ein, sie spürten den Frieden, der alles hier durchströmte und wurden ruhiger. Es schien schwer vorstellbar, dass irgendetwas von hier Stammendes schlecht, gefährlich oder von üblem Willen erfüllt sein konnte. Hier wohnte das Gute, unberührt von den Konzepten von Ordnung und Chaos, es ging um das Gute und um das Gute allein. Selten fühlte Morânia sich sicherer als hier im Elysium, das wurde ihr jedes Mal wieder bewusst – und dies trotz des Wissens um den Bebilithen, der sich irgendwo in der Nähe aufhalten musste. Es war eine unbeschwerte Wanderung über ebene Wege. Zwei, drei Stunden lang gingen sie dahin ... es kam ihnen jedoch allen kürzer vor. Dann bemerkte Sgillin wieder Spuren im Gras, Spuren wie die zuvor am Wirtshaus, nur schwächer, so gut wie unsichtbar für ungeübte Augen. Die Spuren verschwanden, tauchten wieder auf, wurden mal schwächer und mal ausgeprägter. Nach etwa einer weiteren Stunde lichtete sich der Laubwald, durch den sie gerade wanderten, und sie sahen in der Entfernung ein schönes Gebäude auftauchen. Ein schmaler Fluss floss daran vorbei, über den eine schlichte, doch stabile Steinbrücke führte. Das Gebäude selbst war dicht an die sich dahinter erhebenden Hügel gebaut, hatte goldene Dächer, spitzbogige Fenster und zahlreiche Erker, die von weißen Vögeln umflattert wurden.
„Ja.“ Sgillin sah auf den Boden, dann nach vorne. „Die Spuren führen dorthin.“
Lereia blieb stehen. „Ich glaube, ich verwandle mich lieber zurück“, sagte sie. „Als Mensch werde ich mich in dieser Umgebung nicht so auffällig fühlen.“
Sgillin reichte ihr ihre Kleidung zu, die sie vorsichtig mit dem Maul aufnahm und hinter einige höhere Büsche trug, um sich dort zu verwandeln und wieder anzuziehen. Morânia besah sich unterdessen das große Bauwerk genauer. Die weite Steinbalustrade auf der rechten Seite, das golden schimmernde Dach, die kleinen Wasserfälle, die sich links vom Gebäude über abgerundete Felsen ergossen … Ja, keine Frage, sie war sich sicher, wo sie sich befanden.
„Conclave Fidelis …“
„Was ist ein Conclave Fidelis?“, wollte Sgillin wissen.
„Das Conclave Fidelis“, erklärte Morânia. „Es ist eines der größten Klöster und einer der wichtigsten Tempel der Göttin Mishakal.“
Sgillin nickte verstehend, und als Lereia, wieder in menschlicher Gestalt, hinter den Büschen hervorkam, legten sie das letzte Stück des Weges zurück, den Spuren folgend, die der Halbelf nun wieder deutlicher im Gras ausmachen konnte. Trotz der elysischen Atmosphäre wurde Jana nun immer einsilbiger und schweigsamer, und Morânia meinte, den Grund dafür zu kennen. Sie sprach die Hexenmeisterin jedoch nicht darauf an, sondern richtete ihren Blick stattdessen auf das schöne Gebäude, das sie nun fast erreicht hatten. Etwa fünfzig Schritt vom Haupteingang entfernt trafen sie auf einen menschlichen Mann mittleren Alters, der in eine schlichte, blau-weiße Robe gekleidet war. Wahrscheinlich handelte es sich um einen der Mönche des Klosters. Sie traten näher und verneigten sich leicht zur Begrüßung.
„Mishakal segne Euch, Reisende.“ Der Mann verneigte sich ebenso und lächelte freundlich. „Ich begrüße Euch in Conclave Fidelis. Können wir Euch helfen?“
„Ja, bestimmt“, erwiderte Jana prompt. „Das heißt, wenn Ihr wisst, wo wir einen Dämon finden können.“
Morânia seufzte leise. Janas Art und Weise sich auszudrücken war manchmal ungünstig, gelinde ausgedrückt. Der Mönch runzelte denn auch ernst die Stirn.
„Ein Dämon?“
„Ja“, erklärte Jana unbedarft. „Mit acht Beinen und einem Fuchs in einem Korb.“
„Ein Bebilith“, fügte Naghûl erklärend an.
Er war deutlich ruhiger als an den meisten Tagen in Sigil – oder gar auf Arborea. Morânia erlebte ihren Mann außerhalb des Elysiums selten so gelassen. Nicht, dass er normalerweise unentspannt gewesen wäre, aber er war doch eher von einem unsteten Wesen und musste ständig etwas tun, etwas unternehmen, etwas erfahren. So sehr wie hier im Elysium kam er im Käfig eigentlich nie zur Ruhe.
Der Mönch nickte nun seufzend auf die Erklärung hin. „Ja, ich denke, wir können Euch da weiterhelfen.“ Er deutete zum Haupttor des Conclave. „Bittet am Eingang um Einlass. Fragt nach Cebulon.“
Morânia stutzte. Das war in der Tat ungewöhnlich. „Ähm, verzeiht ... Wir sollen wirklich nach Cebulon fragen? Ernsthaft, nach ihm selbst?“
Der Mönch lächelte freundlich, aber ernst. „Ja, in diesem besonderen Fall nach ihm selber.“
Morânia nickte erstaunt, bedankte sich und winkte den anderen dann, ihr zu folgen. Sie gingen langsam auf das Haupttor zu, wobei sie die Schönheit des Bauwerkes im Näherkommen noch einmal auf sich wirken ließen.
Jana begab sich an Morânias Seite. „Wer ist denn Cebulon?“, fragte sie zaghaft.
„Er ist der Patriarch des Klosters“, erklärte die Bal'aasi. „Und ein sehr mächtiger Hohepriester. Es ist wirklich nicht üblich, dass das Oberhaupt eines so großen und bedeutenden Tempels gewöhnliche Reisende empfängt. Daher meine Überraschung – und Beunruhigung. Es muss sich um etwas Ernstes handeln. Abaia ist mit Sicherheit hier vorbeigekommen, aber … vielleicht ist er sogar noch hier.“
Als Morânia die Worte Hohepriester und Patriarch in den Mund genommen hatte, war Jana immer langsamer geworden und blieb schließlich stehen.
„Vielleicht sollte ich hier draußen warten und aufpassen, dass das Ding nicht zurück kommt …“
Morânia konnte angesichts ihrer Bundzugehörigkeit ihr Unbehagen verstehen, schüttelte aber den Kopf. „Wir sollten alle hinein gehen.“
„Na komm, Jana“, meinte Naghûl amüsiert. „Du wirst doch nicht vor Ehrfurcht kneifen, oder?“
„Nein“, erwiderte die Hexenmeisterin schmallippig. „Also, zumindest nicht vor Ehrfurcht.“
Der Tiefling schmunzelte. „Das ist ein besonderer Augenblick, Jana. So etwas erlebt man nicht alle Tage.“
Sie straffte die Schultern und setzte ihren Weg dann entschlossen fort, jedoch nicht ohne einen schiefen Blick zu Naghûl zu werfen. „Ich werde mich zurückhalten und kein unnötiges Wort sagen.“ Dann ging sie wieder zu Morânia und flüsterte ihr leise zu: „Du weißt, dass das hier sein Tempel war, oder?“
Die Bal‘aasi nickte. Die Tatsache, die sie schon vorher als Grund für Janas Schweigen vermutet hatte: Bis er seinen Glauben abgelegt hatte, war Bundmeister Terrance der Vorsteher und Patriarch von Conclave Fidelis gewesen. „Ich weiß“, erwiderte sie ebenso leise. „Irgendwie komisch …“
Jana blickte mit einem gewissen Unbehagen Richtung Eingang. „Wem sagst du das.“
Ihre Bedenken, das Kloster zu betreten, waren nachvollziehbar, aber dennoch hatte Morânia das Gefühl, dass es aus irgendeinem Grund wichtig war. Dass Jana mitkommen und nicht draußen warten sollte. Naghûl vertraute offenbar ihrem Urteil, doch erkannte sie an seinem Blick, dass er dennoch ein paar Bedenken hatte.
„Als Paladin eines einheimischen Gottes“, meinte er, „solltest vielleicht du das Gespräch führen, Liebes.“
Morânia nickte. „Ja, das wäre vielleicht das Beste. Und Jana hält sich im Hintergrund.“
Als sie das große Tor erreichten, erkannten sie, dass unter einem Dachfries mit weißen Vogelreliefs Mishakals heiliges Symbol eingelassen war, eine liegende, blaue Unendlichkeitsschleife. Es war ein kunstvolles Mosaik aus Lapis und Türkis, doch dazwischen funkelten auch immer wieder andere Edelsteine auf: Himmelstränen … Eine jüngere Frau in Rüstung war am Tor zu sehen, doch hatte sie ihren Schild gegen die Wand gelehnt und saß entspannt auf dem Mauervorsprung. Sie nickte den Ankommenden freundlich zu und erhob sich, als sie näher traten. Alles in allem wirkte sie eher wie eine Concierge denn wie eine Wächterin.
„Lathander zum Gruße“, grüßte Morânia freundlich und sie erwiderte lächelnd:
„Mishakals Segen, werte Gäste. Womit kann man Euch dienen?“
„Wir sind wegen eines Bebilithen hier, der die Gegend unsicher macht“, erklärte die Bal'aasi. „Einer Eurer Brüder sagte, wir dürften deswegen sogar mit dem ehrwürdigen Patriarchen Cebulon selbst sprechen.“
Die Frau am Tor nickte, wirkte aber erstaunlicherweise nicht besorgt, sondern eher angenehm überrascht. „Wegen des Bebilithen? Ja, in diesem Falle gewiss. Der Patriarch ist derzeit im Altarraum anzutreffen. Bitte tretet ein und folgt mir, ich bringe Euch zu ihm.“
Sie führte die Gruppe in das Innere des Conclave, und der Anblick, der sich ihnen bot, ließ Morânias Herz ein Stück höher schlagen. Die Schönheit der Amorianischen Architektur zeigte sich hier an jeder Säule, jedem Deckenfries, dem Mosaik der Böden: ihre Verspieltheit, die jedoch ohne überladene Schwere auskam, sondern eine heitere Leichtigkeit mit natürlicher Anmut vereinte. Dieser Stil, der auf der ersten elysischen Subebene oft zu finden war, verband sich hier in perfekter Harmonie mit den Elementen der Göttin Mishakal: die Farben Blau, Silber und Weiß, das Unendlichkeitssymbol, weiße Vögel und Sterne. Auch hier im Inneren waren viele der Ornamente mit Himmelstränen geschmückt. Morânia bemerkte, dass insbesondere Naghûl und Lereia sich interessiert und fasziniert umblickten. Während ihr Mann die Architektur des Klosters in seiner Eigenschaft als Sinnsat wahrnahm und schätzte, so fühlte sich die junge Frau gewiss an ihre Vergangenheit erinnert, war sie selber doch in einem Kloster der Eldath aufgewachsen. Auch Kiyoshi wirkte angetan, während Jana sich wie angekündigt im Hintergrund hielt. Morânia bemerkte jedoch wohl, dass die Hexenmeisterin sich neugierig und ziemlich unverhohlen umsah. Die Wächterin führte sie durch eine Eingangshalle, in der ein ovales Wasserbecken von schlanken Säulen umgeben war, dann durch einen breiteren Gang und einen Vorraum, in dem sich wundervolle Wandmalereien befanden, die die Göttin Mishakal umgeben von weißen Vögeln zeigten. Schließlich betraten sie den Altarraum, der von einem hohen Kuppeldach überwölbt war. Dieses leuchtete in einem satten Indigoblau und war mit unzähligen silbernen Sternen bemalt, so dass man den Eindruck gewann, ein klarer, nächtlicher Himmel würde sich über den Raum wölben. In der Mitte, auf einem leicht erhöhten Podest, befand sich ein runder Altar aus hellem Stein, und davor stand ein älterer Mann, vielleicht Anfang sechzig, mit silberweißem Haar und Bart. Er trug eine edle Robe, schlicht im Schnitt, jedoch aus wertvollem, weißem Stoff und mit wundervollen Stickereien besetzt. Der silbrige Glanz seines Haares und die intensiv blauen Augen ließen Morânia vermuten, dass er ein Aasimar war. Die Wächterin verneigte sich tief vor ihm.
„Ehrwürdiger Cebulon. Dies ist eine Gruppe von Reisenden, die auf der Suche nach dem Bebilithen sind. Wir dachten uns, dass Ihr daher selbst mit ihnen sprechen wollt.“
Der Hohepriester nickte sacht und blickte der Gruppe freundlich entgegen. „So ist es. Ich danke dir, Galdras, dass du sie hergebracht hast.“ Dann winkte er die Erwählten zu sich heran.
Morânia trat näher, bis auf zwei Schritte an den Altar heran, dann beugte sie das rechte Knie. Es war die allgemein übliche Begrüßung gegenüber einem Hohepriester, zumindest wenn man die Etikette achten wollte und der entsprechende Kleriker nichts repräsentierte, das dem eigenen Glauben so sehr zuwider lief, dass sich eine derartige Geste per se verbot. Als Paladin des Lathander gegenüber einem Hohepriester der Mishakal stellte sich die Frage für Morânia somit nicht, es war selbstverständlich für sie, Cebulon diesen Respekt zu erweisen. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Naghûl, Lereia und Kiyoshi es ihr gleich taten. Jana und Sgillin waren offenbar ein Stück weiter hinten stehen geblieben und Morânia vermutete stark, dass sie sich mit einer Verneigung begnügten. Da die Bal'aasi vorangegangen war und sich ein Stück vor den anderen befand, vermutete Cebulon wohl korrekterweise, dass sie für die Gruppe sprechen würde. Er kam von dem Podest herab, trat auf Morânia zu und hielt ihr die rechte Hand hin. Sie neigte den Kopf und küsste sie, auch dies eine gegenüber Hohepriestern übliche Geste.
„Ich grüße Euch im Namen des Morgenfürsten“, sagte sie. „Es ist eine sehr große Ehre, dass Ihr uns empfangt, Erhabenheit.“
Cebulon lächelte freundlich.
„Es ist mir eine Freude. Da Lady Galdras sagte, es geht um den Bebilithen, ist es gewiss von Bedeutung. Erhebt Euch bitte.“
Sie standen auf und Morânia nickte. „Das stimmt, Herr, wir sind wegen des Bebilithen hierher gekommen.“
Der Hohepriester strich sich nachdenklich über den Bart, dann durchquerte er mit gemessenem Schritt den Raum, wobei er den Altar umrundete, und ging zu einem großen Stuhl am anderen Ende des Saales. Man mochte ihn eher einen Thron nennen, denn er besaß eine sehr hohe Rückenlehne und war mit aufwändig besticktem Samt gepolstert. Nachbildungen von Lichtstrahlen aus reinem Gold waren hinter der Lehne angebracht und rechts und links des imposanten Sitzes ruhten zwei steinerne Löwen. Dort nahm der Patriarch Platz. Sie folgten ihm und blieben in respektvollem Abstand stehen, doch er winkte sie näher. Er musterte die Gruppe eine Weile und Morânia fand, dass er trotz all seiner Würden sehr entspannt und in keiner Weise überheblich wirkte. Bis auf die förmliche Begrüßung war bisher alles recht zwanglos gewesen. Schließlich nickte Cebulon sacht.
„Bitte verratet mir Eure Namen und welchen Bünden oder anderen Organisationen Ihr angehört.“
Die Bal‘aasi verneigte sich abermals. „Morânia von Wolkenfels, Herr. Ich bin Paladin des Lathander und Mitglied der Kryptisten.“
Sie sah zu den anderen, die noch immer ein Stück hinter ihr standen. Doch Naghûl machte nun einen kleinen Schritt nach vorne und trat an ihre Seite.
„Mein Name ist Naghûl Ka'Tesh, Faktotum der Gesellschaft der Empfindung, Herr.“
Kiyoshi verneigte sich in der ihm eigenen Art, mit vor der Brust gefalteten Händen. „Kiyoshi, Soldat des ehrwürdigen Harmoniums und Ashigaru des ehrwürdigen Bundmeisters Sarin-gensui.“
Auch Lereia kam einen Schritt nach vorne und vollführte einen Knicks. „Ich bin Lereia, Herr, Mitglied der Gläubigen der Quelle.“
Dann war es kurz still, scheinbar waren Jana und Sgillin sich nicht ganz einig, wer zuerst sprechen sollte. Schließlich räusperte sich der Halbelf.
„Sgillin, Herr.“ Er schien nicht zu wissen, was er noch anfügen sollte, dann schob er nach: „Von der Materiellen Ebene.“
Morânia unterdrückte ein Schmunzeln über diese Vorstellung. Man konnte dem Halbelf durchaus anmerken, dass er sich in dieser Umgebung nicht allzu wohl fühlte. Selbiges traf natürlich auf Jana zu, die sich auf die Unterlippe biss, ehe sie erwiderte:
„Mein Name ist Jana Wetter. Ich … bin eine Athar.“
Morânia hielt kurz den Atem an und musterte den Patriarchen gespannt. Sie hoffte, dass ihre Intuition sie nicht getrogen hatte, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, Jana mit in das Conclave zu nehmen. Cebulons weiße Brauen hoben sich etwas, und er sah Jana überrascht an. „Eine Verlorene, wirklich?“
Jana nickte, fast entschuldigend mochte es Morânia erscheinen. „Ich wollte draußen warten, aber ...“ Sie unterbrach sich und sprach nicht weiter.
Der Patriarch hob die Hand und winkte sie zu sich. „Tritt näher.“ Er wirkte ernst und nachdenklich, aber sehr ruhig und nicht aufgebracht.
Zögerlich trat Jana zwei Schritte näher an ihn heran, blieb dann aber in einer Reihe mit Morânia, Lereia, Kiyoshi und Naghûl stehen. Cebulon erhob sich und bedeutete ihr, ganz zu ihm zu kommen. Sie kam seiner Aufforderung nach, noch zögerlicher, doch sah sie ihn direkt an und senkte nicht den Blick. Morânia bewunderte durchaus ihre Standhaftigkeit.
„Ich wollte Euch ... hoffe, Euch nicht mit meiner Anwesenheit zu beleidigen“, sagte Jana dann leise, aber mit fester Stimme.
Der Patriarch sah ihr eine Weile in die Augen, ernst, aber nicht unfreundlich. „Nein, nein, das tut Ihr nicht“, erklärte er dann. „Sagt, wie geht es Terrance?“
Jana lächelte, offenbar erleichtert darüber, dass Cebulon sich ihr gegenüber nicht feindselig zeigte oder sie gar hinauswarf. „Oh, Bundmeister Terrance erfreut sich bester Gesundheit“, erklärte sie. „Noch.“
Morânia zuckte zusammen. Die Hexenmeisterin spielte gewiss auf ihre kürzliche Vision an, die zu Recht Anlass zur Besorgnis gab. Doch dies jetzt und hier gegenüber dem Vorsteher von Conclave Fidelis anzudeuten, war gewiss nicht die beste Idee.
Cebulon hob auch sofort beunruhigt die Brauen. „Noch?“
Jana bemerkte ihren Lapsus sogleich und räusperte sich betreten. „Ja, aber ... also, das ist ... ich glaube nicht, dass ich das … hätte sagen sollen.“ Sie lächelte nervös. „Es tut jetzt auch nichts zur Sache!“
„Es tut etwas zu Sache“, entgegnete Cebulon besorgt. „Terrance fehlt uns, auch nach all den Jahren noch. Er ... war ein guter Freund, ich vermisse ihn. Dennoch respektiere ich natürlich, dass dies nicht mehr meine Angelegenheit ist.“ Ein Seufzen kam über seine Lippen, doch dann straffte er sich und nahm wieder Platz. „Also bitte, Verlorene, erzählt mir, was Euch herführt.“
Morânia ging etwas zur Seite, um Jana Platz zu machen, als diese wieder ein Stück von Cebulons Thron weg trat und sich unter die Erwählten einreihte. Sie war erleichtert, dass der Patriarch keinen Anstoß an Janas Gegenwart genommen hatte. Ihre Intuition hatte sie also nicht getrogen. Ihr Denken und Handeln waren eins gewesen, sie hatte ganz tief in sich gespürt und gewusst, welche Entscheidung die richtige war, ganz wie es die Philosophie der Kryptisten lehrte. Das gelang ihr leider nicht immer und nicht so treffsicher wie ihrer Bundmeisterin, bei weitem nicht, doch sie machte Fortschritte. Jana neben ihr holte nun tief Luft, als der Hohepriester sie aufforderte, das Wort zu führen.
„Wir …“ Sie atmete einmal durch. „Also, wir suchen nach diesem Dämon, einem Bebilithen … wir müssen ihn finden, bevor noch mehr Unheil geschieht.“
Cebulon nickte gemessen. „Was wollt Ihr mit ihm machen?“
„Das ... wissen wir nicht“, erwiderte Jana, offenbar etwas überrascht durch diese Frage. „Er ... es scheint ... Also, er hat sich fort teleportiert, aber er wollte einem … Freund helfen. Denken wir zumindest …“
„Zieht Ihr in Betracht, ihm zu helfen?“ Cebulons Blick war ruhig, aber forschend, es war schwer zu deuten, welche Absicht hinter seinen Fragen lag.
Hilfesuchend sah Jana sich zu Morânia und Naghûl um, wandte sich dann aber wieder dem Patriarchen zu und antwortete entschieden: „Nein. Er … es ist ein Dämon, aber wir ziehen in Betracht, die Situation so friedlich und gefahrlos wie nur irgend möglich zu beenden.“
„Aber er braucht Hilfe“, erwiderte Cebulon ernst. „Etwas Großes geschieht hier, werte Gäste. Etwas, das seit den Tagen von Minod dem Solar nicht geschah. Nur indem Ihr dem Bebilithen helft, könnt Ihr auch dem Deva helfen. - Ja, ich weiß davon, von Ybdiels Schicksal.“
Diese Bemerkung bestärkte Morânia in dem Verdacht, dass der Dämon noch vor Ort war, auch wenn sie keine scheusalhafte Aura in der Nähe wahrnehmen konnte.
„Gut, dann helfen wir ihm“, lenkte Jana ein. „Aber nicht, um dem Dämon zu helfen, sondern um des Devas und der Ebene willen.“
Naghûl räusperte sich und hob die Hand. „Ich möchte anmerken, dass Jana hier nur für sich spricht. Ich würde dem Bebilith helfen wollen, weil sich hier in meinen Augen die Möglichkeit zu einem Aufstieg darbietet.“
Morânia lächelte ihrem Mann warm zu und nickte bekräftigend zu seinen Worten. Sie verspürte einen gewissen Stolz, dass er sofort bereit war, auch für eine der verdorbensten Kreaturen der Ebenen, ein Scheusal, Erlösung zu suchen, wenn sie sich bot. Das hätte er nicht immer getan. Einst, vor vielen Jahrzehnten, war er anders gewesen. Dass er diesen weiten, nicht immer leichten Weg gegangen war bis zum dem Punkt, an dem er jetzt stand, erfüllte sie mit Stolz, aber auch mit einer tiefen Liebe für ihn.
Jana jedoch warf Naghûl bei diesen Worten einen skeptischen Blick zu. „Wie meist du das?“
„Der Dämon scheint durch die Kraft des Funkens ein anderes Wesen zu werden“, erklärte der Tiefling. „Ein aufgestiegenes Scheusal. Und welch Erfolg wäre es, das Böse nicht einfach zu bekämpfen und zu besiegen, sondern es gar zu bekehren.“
Cebulon lächelte. „Ihr sprecht weise, Naghûl von den Sinnsaten.“
Der angesprochene Sinnsat verneigte sich ob des Kompliments und der Hohepriester erhob sich.
„Ohne den Funken wird der Deva sterben. Aber den Funken dem Bebilithen zu nehmen, bedeutet, das Wesen zu vernichten, zu dem er gerade wird.“
„Aber das verdammt dann den uns anvertrauten Deva zum Tod?“ entgegnete Jana, fast aufgebracht. „Ohne dass wir ihn vorher fragen können, einfach auf den Verdacht hin, dass er sich für diesen Aufstieg opfern würde? Ich finde das nicht richtig.“
Morânia verstand ihren Einwand, war jedoch sicher, dass gerade der Hohepriester einer guten Göttin gewiss keine Lösung anstreben würde, die einen Engel eben jener Gottheit verdammte.
Cebulon nickte Jana denn auch begütigend zu. „Es gibt oft mehr als einen Weg zu einem guten Ziel.“
„Es gibt oft mehr als ein gutes Ziel“, entgegnete die Hexenmeisterin sofort.
Dass Cebulon ob ihres Widerspruchs nicht ungehalten war, sprach für seine Souveränität und das Selbstvertrauen, mit dem er sein Amt ausübte. Stattdessen schmunzelte er etwas.
„Keine schlechte Antwort, Jana von den Athar. - Kommt, ich möchte Euch etwas zeigen.“
Er ging zu der Wand rechts von seinem Thron und blieb an einer Stelle stehen, an der das dort angebrachte Fresko einen blühenden Busch zeigte, in dessen Zweigen eine blaue Nachtdrossel saß. Der Patriarch fuhr über eine der Schwanzfedern des Vogels, woraufhin sich eine geheime Tür öffnete. Dahinter lag ein deutlich kleinerer Raum, kreisrund und leer, bis auf einen mit Schnitzereien verzierten Schrank aus hellem Holz. In der Mitte aber saß Abaia. Doch im Gegensatz zu den ersten beiden Treffen mit dem Bebilith hatte sich etwas an seinem Aussehen verändert: Die vormals mit scharfen Stacheln bedeckte Panzerung war nun glatt und nicht mehr dunkel violett, sondern von einem hellen Blaugrau mit einem silbrigen Schimmer. Zudem schien es Morânia, als ob der Dämon etwas kleiner war und somit alles in allem weniger furchteinflößend wirkte. Kiyoshis Hand fuhr dennoch reflexartig zum Griff seiner Naginata, und auch Sgillin wollte schon fast den Bogen von der Schulter nehmen.
Naghûl dagegen musterte Abaia beeindruckt. „Er hat sich sichtlich verändert.“
Morânia konzentrierte sich auf die Aura des Scheusals und stellte fest, dass sie noch deutlich schwächer war als einige Stunden zuvor bei dem Wirtshaus. Sie konnte sie kaum noch spüren. Der Funken des Devas schien mehr und mehr seine Wirkung zu entfalten … Nun näherte Abaia sich langsam und beugte dabei weit den Körper gen Boden, ganz so als wollte er zahm und möglichst wenig bedrohlich wirken. Jana und Naghûl betrachteten ihn fasziniert, während Morânia bei Lereia, Sgillin und Kiyoshi eine wachsame Vorsicht wahrnehmen konnte.
Der Halbelf schüttelte den Kopf auf die Worte des Tieflings hin. „Sieht noch genauso bedrohlich aus wie vorher.“
„Nein, sieh doch“, wandte Naghûl ein. „Er ist kleiner geworden und die Stacheln auf seinem Panzer sind verschwunden. Als würde er das Böse ablegen wollen.“
Sgillin verzog den Mund. „Ob nun kleiner oder größer ... ich sehe immer noch rasiermesserscharfe Klauen, todbringende Kieferzangen und Giftdrüsen.“
„Er verändert sich dennoch“, meinte Morânia, während sie den Dämon nachdenklich musterte, ein wenig unentschlossen, wie sie zu ihm stehen sollte. „Der Funke gewinnt an Einfluss.“
Dann plötzlich hörten sie wieder Abaias Stimme in ihren Gedanken. „Ihr ... Freunde des Deva ... Trauer ... fühle ich ... Hilfe brauche ich ...“
„Das werden wir tun!“ Naghûl war sichtbar aufgeregt, aber im positiven Sinne. „Wir helfen dir!“
Jana schien ihre vorherige Abneigung gegen den Bebilith nun sehr plötzlich abzulegen und streckte beide Hände zu Abaia hin, als ob er diese beschnuppern sollte. Dabei sah sie fasziniert auf die Beine und die Mundwerkzeuge. Abaia betastete ganz leicht Janas Hand, tat ihr aber nichts. Während Naghûl die Hexe und den Bebilithen fast neidisch beobachtete, hatte Sgillin einen deutlich skeptischeren Gesichtsausdruck. Jana versuchte, nach einem von Abaias Beinen zu greifen und gluckste tatsächlich fröhlich.
„Und ich hatte Angst vor dir ...“, stellte sie kopfschüttelnd fest.
Sgillin sah Jana an, als ob sie den Verstand verloren hätte, und Morânia teilte sein Unbehagen. Sie wollte dem Bebilithen helfen, wenn es möglich war, und sie setzte Hoffnung in den Funken des Deva, in das Gute ganz allgemein. Große Hoffnung sogar. Aber trotzdem war dieser Dämon noch nicht aufgestiegen und eine gewisse Vorsicht in ihren Augen nach wie vor angebracht. Der kurze Blick, den sie mit Lereia tauschte, verriet ihr, dass die junge Frau wohl ähnlich dachte, und Kiyoshis noch immer wachsam erhobene Naginata sprach für sich.
„Aber wo ist der Deva?“, wandte sich Lereia nun mit leiser Stimme an Cebulon.
„Leider wissen wir das nicht“, erwiderte der Patriarch seufzend. „Abaia sagte, er sei in Sicherheit. Ich bin geneigt, das zu glauben.“
„Aber ich dachte, er stirbt ohne seinen Funken?“, wandte Lereia ein.
Cebulon nickte. „Das stimmt. Aber es gibt da möglicherweise eine Lösung ... Wenn Ihr die Regalia des Einklangs findet.“
„Dann können beide leben?“, fragte Jana, die mit halbem Ohr zugehört hatte.
„Ja, das wäre möglich“, bestätigte der Hohepriester.
„Dann haben wir keine Wahl!“ Naghûls Begeisterung war ihm deutlich anzusehen. „Ich werde sie mit allen Kräften suchen - unverzüglich.“
„Also manchmal“, stellte Jana grinsend fest, „kann ich tatsächlich verstehen, was Morânia an dir findet.“
Die Bal'aasi lächelte ihrem Mann zu und drückte kurz seine Hand, ehe sie sich wieder an Cebulon wandte. „Woraus bestehen die Regalia des Einklangs, Erhabenheit?“
„Ihr benötigt den Kelch des Friedens“, erklärte der Patriarch, „die Wasser der Ruhe und ein Juwel der Harmonie.“
Lereia nickte und zog ihr Notizbuch aus der Tasche, um die Informationen darin zu notieren. Cebulon hingegen trat zu dem Schrank, der den einzigen Einrichtungsgegenstand in dem kleinen, runden Raum bildete, und öffnete ihn mit einem goldenen Schlüssel, den er um den Hals trug. Er holte einen schön verzierten Kelch aus Silber heraus.
„Dies ist der Kelch des Friedens“, erklärte er. „Seit vielen Jahrtausenden bewahren wir ihn hier auf. Für Eure Mission stelle ich ihn für eine Weile zur Verfügung.“
Er reichte Morânia den Kelch und sie nahm ihn mit einer Verneigung entgegen.
„Wir danken Euch für Euer Vertrauen, Herr.“
Ihr fiel wohl auf, dass Jana die Augen nur schwer von dem Kelch abwenden konnte, doch auf einen scharfen, mahnenden Blick hin sah sie wieder zu Cebulon. Dieser hatte die kurze Begehrlichkeit der Athar wohl auch bemerkt und wölbte vielsagend eine seiner silberweißen Brauen, ehe er fortfuhr.
„Ihr findet die Wasser der Ruhe im Stillen See, nicht weit von hier. Schöpft sie mit dem Kelch aus dem See und gebt Acht, sie daraufhin nicht mehr zu verschütten. Ein Juwel der Harmonie könnt Ihr beim Nest des Großen Phönix dieses Reiches finden. Bittet ihn darum, Euch eines zu geben.“
„Er wird es uns einfach so überlassen?“, fragte Jana zweifelnd.
„Vielleicht möchte er als Ersatz etwas dafür haben“, erwiderte der Patriarch. „Aber was, das kann ich Euch leider nicht sagen, das müsst Ihr selbst herausfinden. Ich weiß nur, dass Ihr sein Nest in den Oreb-Hügeln findet.“
Jana nickte. „Gut. Und wenn wir alles haben, kommen wir wieder hierher?“
„Nein“, korrigierte Cebulon. „Ihr begebt Euch zum Labyrinth des Einklangs im Ornwald. Tragt die Regalia in das Zentrum des Labyrinths, mit dem Bebilith und dem Deva. Abaia muss Euch vorher noch zu Ybdiel führen.“
„Das wird Abaia“, erklang sogleich die telepathische Stimme in ihren Köpfen.
„Danke, Abaia“, sagte Naghûl lächelnd.
„Es wäre uns eine Ehre, dem Deva wie auch dem Bebilith in dieser Sache zu helfen“, erklärte Morânia.
„Eine Ehre und unbeschreibliche Erfahrung“, fügte Naghûl an. „Ich kann gerade gar nicht sagen, was mir wichtiger wäre.“ Er zwinkerte etwas scherzhaft dabei, doch Morânia kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er es teilweise ernst meinte. Ein Sinnsat konnte eben nicht aus seiner Haut.
Sgillin nickte seufzend, jedoch mit sichtlich wenig Begeisterung. „Ich bin dabei.“
Als auch Kiyoshi und Lereia ihre Zustimmung signalisierten, nickte Cebulon zufrieden.
„Dann geht und verhelft dem Guten zu einem großen Triumph. Passt gut auf Abaia auf ... noch ist er nicht aufgestiegen, noch kann auch seine andere Seite durchschlagen.“
Morânia nickte sacht, als der Patriarch genau ihre vorherigen Gedanken in Worte fasste. Sie war erleichtert zu sehen, dass er die Sache trotz all seiner guten und edlen Intentionen dennoch nicht unvorsichtig oder naiv betrachtete. Auch Sgillin wirkte durchaus zufrieden über diese Warnung und warf dabei einen vielsagenden Seitenblick zu Jana und Naghûl.
„Genau. Ich möchte nicht in der Nähe sein, wenn er austickt.“
„Aber Abaia ist in guter Gesellschaft“, meinte Naghûl zuversichtlich. „Wir werden ihm schon helfen.“
„Seid dennoch vorsichtig“, schärfte Cebulon ihnen nochmals ein. „Führt ihn auf einen guten Weg und leitet ihn an.“
Jana nickte begeistert. „Ja, auf einen guten Weg führen, das ... ist gut. Das werden wir.“
Lereia warf Abaia einen eher unsicheren, vorsichtigen Blick zu, nickte dann aber.
Cebulon vollführte eine segnende Geste. „Ruht Euch noch ein wenig aus nach Eurer Wanderung hierher. Man wird Euch Zimmer hier im Kloster bereit stellen. Brecht morgen erholt auf, um die Regalia zu vervollständigen. Unsere Gebete werden Euch begleiten.“ Er wandte sich noch einmal Jana zu. „Ach, und Ihr, Verlorene ...“
„Ich fühle mich nicht verloren“, entgegnete die Hexenmeisterin höflich, aber direkt.
Der Patriarch lachte etwas. „Sicher sagt das Euer Bundmeister auch.“ Dann wurde er wieder ernster. „Ich hoffe, wir sehen einander noch einmal, wenn Ihr den Kelch zurück bringt. Aber falls nicht, bestellt Terrance meine Grüße. Und sagt ihm, er fehlt uns.“
Jana nickte, nun offener und zugänglicher. „Das werde ich gerne tun.“
---------------------
gespielt am 17. Juli 2012



Kommentare
Kommentar veröffentlichen