Verdammte Seelen
ein Mane in Azzagrat, 45. Schicht der Abyss
Um ihn herum war alles grau und nass. Dunstige Nebelschwaden hingen dicht über dem Boden und der Regen stürzte in Strömen vom Himmel wie die Tränen eines verzweifelten Gottes. Er war sich nicht sicher, wo er sich befand oder warum er hier durch die Nässe stolperte. War er erst seit heute an diesem trostlosen Ort oder schon seit langer Zeit? Wenn er sich doch nur erinnern könnte ... Ein brennender Schmerz ließ ihn zusammenzucken. Ein Peitschenhieb hatte ihn getroffen, als er zu weit hinter den anderen zurückblieb. Die anderen, die ebenso aussahen, wie er selbst. Von kleiner Statur, einem normalen Menschen gerade bis ans Knie reichend, haarlos, missgestaltet. Es waren viele, die ihn umringten, er hätte aber die Zahl nicht schätzen können. Er hatte Mühe genug damit, in dem rostfarbenen, vom Regen verfilzten Gras vorwärts zu kommen. Ab und an streifte er Dornen, die seine Haut aufrissen, aber er spürte es kaum. Mehrere große Gestalten gingen hinter und neben ihm und Seinesgleichen, trieben jene, die zu langsam waren, mit ihren Peitschen an. Was waren das für Wesen? Er konnte sich nicht erinnern, ihre Namen zu kennen oder sie schon einmal gesehen zu haben. Er verstand auch nicht, warum er in dieser trostlosen Steppe mit den anderen merkwürdigen Gestalten irgendwohin getrieben wurde. Aber er schleppte sich mit, ihm blieb ohnehin keine Wahl.
Das Wetter änderte sich in den folgenden Stunden kaum. Manchmal regnete es etwas weniger, nur damit das Wasser kurz darauf umso heftiger niederprasselte. Sie passierten einen Fluss, weiß und dickflüssig, über den eine wacklige Brücke führte. Die Peitschenwesen erzählten etwas von einem Salzfluss, doch er vergaß es bald wieder. Es fiel ihm unglaublich schwer, sich etwas zu merken. Eine Erinnerung streifte für einen Lidschlag lang seine Gedanken ... Er war ein Krieger und hielt ein kurzes, breites Schwert in der Hand. Es musste gerade einen Kampf gegeben haben, vielleicht dauerte er auch noch an. Vor ihm am Boden kauerte eine junge Frau, eher noch ein Mädchen, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Sie streckte ihm bittend die Hände entgegen. Tränen liefen über ihre Wangen, in ihren Augen stand die nackte Angst. ... Schon war der Erinnerungsfetzen wieder in der Tiefe des Vergessens versunken. Was hatte das nur zu bedeuten gehabt?
Irgendwann, es konnten Stunden, aber auch Tage vergangen sein, gelangten sie zu einer großen Festung, erbaut aus Stahl und schwarzem Stein. Man trieb sie hinein, ihn und die vielen anderen. Drinnen erschien ein Wesen, das anders aussah als die mit den Peitschen. Das Wort „Geier“ kam ihm im Zusammenhang mit dem Geschöpf in den Sinn, doch er wusste nicht mehr, was das Wort eigentlich bedeuten sollte. Es musterte sie alle genau, dann wurden sie getrennt und in verschieden Räume gebracht. Er war einer der letzten in seiner Gruppe, der durch die Tür gehen wollte. Da packte ihn eine klauenbewehrte Hand, zog ihn zurück und hob ihn hoch. Er zappelte, wieder tauchte eine Erinnerung aus dem wirren Strudel seiner Gedanken auf. ... Das junge Mädchen. Mit tränenverschmiertem Gesicht streckte sie ihm flehend die Hände entgegen. Sie bat ihn um etwas. Er lachte, holte mit dem Schwert aus und durchbohrte ihre Brust. ... Die Erinnerung versank so schnell wie sie aufgetaucht war. Das Geier-Geschöpf steckte ihn unsanft in eine schmutzige, gestreifte Hose und drückte ihm einen lächerlichen Hut auf den Kopf. Dann warf es ihn in einen anderen Raum. Dort waren mehrere Wesen versammelt, einige, die wie die Peitschenträger aussahen, mehrere Geiergeschöpfe und eine große Schlange mit mehreren Armen ... zumindest kam ihm das Wort „Schlange“ in den Sinn. Er wankte ungeschickt durch den Raum, dann traf ein kleiner Wurfpfeil sein linkes Bein. Er quietschte vor Schmerz und die Wesen lachten. Er stolperte weiter, eine Blutspur hinter sich herziehend. Eine kleine Feuerkugel traf seinen Arm, es stank nach verbranntem Fleisch. Die Wesen lachten noch mehr. Er verstand nicht, was vor sich ging und warum all dies geschah. Ganz kurz tauchte abermals eine Erinnerung auf. ... Die junge Frau lag in ihrem Blut am Boden. Ihre ersterbenden Augen blickten ihn an. Ehe das Leben aus ihr wich, kamen noch sechs letzte Worte über ihre Lippen: „Möge dich die Abyss dafür verschlingen“ ...


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