Niemand kann wachsen ohne die Bereitschaft, Schmerz zu durchleben.“

Planares Sprichwort

 


 

Tag der Schmerzen, 126 HR

Amariel atmete tief durch und blickte an sich herunter. Sie war in eine lange Robe aus fließendem schwarzem Stoff gekleidet – das traditionelle, von der Dame selbst ausgewählte Gewand der Ritualhelfer am Tag der Schmerzen. Sie hatte den Tag noch nicht oft miterlebt – meist war sie zu dieser Zeit lieber nach Melodia gegangen als in Sigil zu blieben. Wenn sie sich aber im Käfig aufgehalten hatte, so war der Tag für sich alleine schon bedrückend und düster genug gewesen. In der Mitte von Sakrilegion, genau nach dem zweiten Leere- und vor dem dritten Dametag, wurde er gefeiert. Wobei feiern nicht ganz das angemessene Wort für diese Ereignisse war. Während der Tag der Gnade zu Beginn des Jahres die hellste Seite der Dame symbolisierte, stand der Tag der Schmerzen eindeutig für Ihren dunkelsten Aspekt. Er begann stets mit den geheimnisvollen Ereignissen in der Halle der Schmerzen. Dieses große, kuppelförmige und klingenbekränzte Gebäude bestand ganz aus Onyx und Silber und befand sich in der Nähe des Tempeldistrikts. Die Halle besaß keinerlei sichtbaren Eingang und kein aktives Portal, durch das man sie betreten konnte. Nur einmal im Jahr, am Tag der Schmerzen, öffnete die Dame ein Tor hinein. Am Morgen dieses Tages betraten genau dreißig Personen die Halle: Die dreizehn Bundmeister Sigils sowie je ein Vertreter der Freien Liga und der Revolutionsliga und deren fünfzehn Ritualhelfer. Alle waren in einfache Roben gekleidet, die Bundmeister in weiße, die Ritualhelfer in schwarze. Sie begaben sich in die Halle der Schmerzen, um das Ritual von Unterwerfung und Hingabe durchzuführen. Alleine der Name hatte stets genügt, Amariel erschaudern zu lassen, umso mehr als der Ritus in Verbindung mit Ihrer Schrecklichen Majestät stand. Doch diesmal würde sie selbst daran teilnehmen, als Ritualhelferin für ihren Bundmeister. Vor einigen Monaten hatte Sarin sie gefragt, ob sie bereit wäre, dies zu tun. Ihre Überraschung, ja ihr Schrecken waren natürlich groß gewesen, wusste sie doch, dass Bundmeister nur Personen mit in die Halle nahmen, denen sie wirklich vertrauten. Die süße Freude darüber, dass Sarin sie offenbar zu diesem Kreis zählte, hatte sich vermischt mit der Angst vor dem geheimnisvollen Ritual wie auch mit der Sorge, dem nicht gewachsen zu sein – vor allem, da sie ja nicht einmal wusste, was genau von ihr erwartet wurde.

Doch dann waren erst einmal andere Dinge in den Fokus von Sarins und damit auch ihrer Aufmerksamkeit gerückt: die geheimnisvolle Ring-Prophezeiung und alles, was damit zusammenhing. Den Tag, an dem ihr Bundmeister sie in all dies eingeweiht hatte, würde sie nie vergessen. Die schiere Tragweite und Bedeutungsschwere dieser Angelegenheit, die selbst Sarin Unbehagen verursachte, hatten sie förmlich überrollt. Dann waren Hüterin und Verkünder aufgetaucht, um die ganze Prophezeiung zu enthüllen, auch davon hatte ihr Bundmeister ihr erzählt. Seitdem aber war ein wenig Zeit vergangen. Da man nicht konkret wusste, wo man weitermachen sollte, hatte man die Sache erst einmal ruhen lassen – es gab schließlich für alle Beteiligten auch noch zahlreiche Bund-Angelegenheiten, um die sie sich kümmern mussten. Im Harmonium war dies unter anderem der angekündigte Besuch von Lord Valiant, auf den sich die wenigsten wirklich freuten. Sarin hatte ihn ein wenig hinhalten können, unter anderem mit der Begründung, er wolle den Tag der Schmerzen abwarten.

Und somit war die Prophezeiung wieder ein wenig in den Hintergrund getreten und der Tag der Schmerzen erneut in Amariels Fokus gerückt. Anders als ihre Bundmeister hatten die Ritualhelfer vorher keine Ahnung, was sie erwartete. Niemand wusste, was während des Rituals geschah, denn keiner der Teilnehmer durfte darüber sprechen. Ab und an war es in der Geschichte Sigils offenbar geschehen, dass törichte Ritualhelfer dennoch geplaudert hatten. Ihre Schreckliche Majestät hatte nicht nur sie selbst zerfetzt, sondern auch alle, die von den Geheimnissen des Rituals erfahren hatten. Nur allzu bekannt dagegen war, was es zu sehen gab, wenn die Bundmeister die Halle wieder verließen: Dass die Klingen der Dame sie berührt hatten. Ihre Körper waren bedeckt von tiefen Schnitten, die weißen Roben blutbefleckt. Dass die Ritualhelfer nie verletzt waren, das war – Amariel musste es vor sich selbst zugeben – eine gewisse Erleichterung. Die Vorstellung aber, zusehen zu müssen, wie ihr Bundmeister von den Klingen der Dame getroffen wurde und dazu noch die Präsenz der Herrscherin Sigils selbst zu verspüren … Diese Aussicht ließ Amariel spürbar das Herz sinken. Sie konnte nicht umhin, sich zu fragen, wie es Sarin in diesem Jahr ergehen würde. Denn während manche Bundmeister nur ein, zwei oder drei Schnitte hatten, trugen andere bis zu zehn Wunden davon, manchmal auch deutlich mehr. Wer wie viele Schnitte hatte, unterschied sich jedes Jahr, und was dies zu bedeuten hatte, war ebenso wenig bekannt wie das Ritual von Unterwerfung und Hingabe selbst. Ein paar Dinge aber wusste man im Käfig: Jedes Jahr hatte ein Bundmeister mehr Schnitte als die anderen. Dies schien auch etwas zu bedeuten, aber niemand wusste, ob es eine Auszeichnung oder eine Art von Strafe war. In Sigil nannte man dies im Blick der Dame stehen. Lhar, Pentar und Rowan Dunkelwald hatten bisher noch nicht im Blick der Dame gestanden, im Gegensatz zu Sarin, Erin Montgomery, Ambar Vergrove, Rhys, Karan und Darius. Und ein paar Bundmeister - Terrance, Skall und Hashkar - hatten schon zweimal diese, in Amariels Augen zweifelhafte, Ehre gehabt. Kein Bundmeister konnte jedoch dreimal im Blick der Dame stehen, denn das dritte Mal auf diese Weise auserwählt zu werden, bedeutete immer den Tod. Ab und an war es in den letzten sechs Jahrhunderten geschehen, dass ein Bundmeister während des Tages der Schmerzen in der Halle gestorben war, weil er zum dritten Mal in Ihrem Blick gestanden hatte. Wie Amariel wusste, geschah es zudem selten, dass ein Bundmeister bereits im ersten Jahr seiner Bundmeisterschaft im Blick der Dame stand. Unter den derzeit amtierenden Bundmeistern traf dies auf Lady Erin, Hashkar und ihren eigenen Bundmeister Sarin zu. Obgleich auch hier niemand wusste, was es zu bedeuten hatte, war die Halbelfe sicher, dass es eine Art Auszeichnung sein musste - so makaber und schmerzhaft eben eine Auszeichnung der Klingenbekränzten Königin sein konnte. Obgleich es nur ein diffuses Bauchgefühl war und sie keinerlei tiefere Einsicht in diese Vorgänge besaß, verspürte Amariel somit einen merkwürdigen Stolz auf ihren Bundmeister. Eines auf jeden Fall war sicher: Nur selten zuvor hatten drei derart „ausgezeichnete“ Bundmeister gleichzeitig regiert.

Amariel riss sich aus ihren Gedanken über das Ritual los. Schon bald genug würde sie alles darüber erfahren, und ihr Bundmeister wartete auf sie. Sie hatte sich in der kleinen Bibliothek umgezogen, die an sein Büro grenzte, während er dafür in seine Familienquartiere gegangen war. Ein letztes Mal strich sie ihre Robe glatt, dann öffnete sie die Tür und trat langsam, fast scheu wieder in das Büro. Sarin war bereits fertig, stand in die lange weiße Robe gekleidet an seinen Schreibtisch gelehnt und wartete auf sie. Er war barfuß, so wie auch sie selbst, denn alle Teilnehmer des Rituals betraten die Halle stets ohne Schuhe. Es war merkwürdig, ihn so zu sehen. Zwar hatte sie das auch zwei Jahre zuvor, als ihr Bruder Killeen sein Ritualhelfer gewesen war. Doch damals war sie in der Menge vor der Halle gestanden, nicht hier in seinem Büro. Noch hatte sie damals bereits jene Gefühle für ihn entwickelt, die sie nun zwar tief in sich verschloss, die ihr jedoch gerade jetzt, in diesem Moment, wieder besonders bewusst wurden. Als sie die Tür zur Bibliothek leise hinter sich zuzog, hob er den Kopf und nickte ihr zu, mit der Andeutung eines Lächelns, das zwischen aufmunternd und entschuldigend schwankte. Er wirkte so anders als sonst in der weißen Robe, fast fremd, doch sein Lächeln war zugewandter als sie es bisher je erlebt hatte. Und dies obgleich er sich ihr gegenüber schon deutlich offener zeigte, seit sie seine Adjutantin war. Es versetzte ihr einen kurzen Stich, doch gelang es ihr, das Lächeln zu erwidern und ihre Nervosität – hoffentlich – zu überspielen.

„Dekuria“, sagte er. Seine volle Stimme erfüllte mühelos den Raum, ohne dass er sich überhaupt bemüht hätte, laut zu sprechen. „Bereit für das Ritual und das Spektakel danach?“

Sie wusste genau, was er mit „Spektakel“ meinte. Es war immer ein großes Schauspiel und öffentliches Ereignis in Sigil, wenn die Bundmeister blutüberströmt die Halle der Schmerzen verließen. Zehntausende drängten sich auf dem Platz vor der Halle und in den umgebenden Straßen, um dies zu beobachten.

Amariel atmete tief durch. „Um der Wahrheit die Ehre zu geben, Bundmeister … ich bin nicht sicher. So … bereit, wie man sein kann, vermute ich?“

Das Lächeln verließ seine Lippen nicht, wenngleich es eine Spur ernster wurde. „Eine ehrliche Antwort. Und Ihr habt natürlich Recht. Ehe man es nicht zumindest einmal miterlebt hat, kann man nicht wirklich auf diesen Tag vorbereitet sein.“

Amariel nickte. „So etwas ähnliches hat Eure Frau auch gesagt.“ Faith war bei Sarins erstem Tag der Schmerzen seine Ritualhelferin gewesen. Sie hatte Amariel tags zuvor auf die ihr eigene, beruhigende Art gut zugeredet, als sie ihre Nervosität im Angesicht des Kommenden nicht ganz hatte verbergen können. Doch bei aller Ruhe, die Sarins Gemahlin stets ausstrahlte, hatte die Halbelfe dennoch einen Ernst und ein gewisses Bedauern erkannt, die ihr nun wieder deutlich in den Sinn kamen. Sie zögerte kurz und senkte den Blick, wagte dann aber doch, die Frage zu stellen, die sie beschäftigte. „Sollte ich Angst haben, Herr?“

Er musterte sie ernst. „Ja.“

Obgleich sie inzwischen nur zu gut um ihres Bundmeisters Direktheit wusste, brachte diese so knappe und unverblümte Antwort sie dennoch aus dem Konzept. Sie öffnete den Mund, doch fiel ihr keine passende Erwiderung ein, und so sah sie Sarin nur an, in dem Versuch, beherrscht zu wirken, aber dennoch mit einer wahrscheinlich unverkennbaren Mischung aus Nervosität und Überforderung.

Er bemerkte es natürlich und hob in einer entschuldigenden Geste die Hände. „Zu ehrlich?“

Sie musste sich räuspern, ehe sie mit einigermaßen fester Stimme antworten konnte. „Ich kenne Euch nicht anders, Herr.“

Er musterte sie mit einem Blick, in dem sie ein leises Bedauern zu erkennen meinte, Bedauern darüber, ihr die Teilnahme an dem bevorstehenden Ritual zuzumuten. Dass dem so war, wusste sie, denn er hatte sich sogar bei ihr entschuldigt, sie dieses Jahr als Begleiterin ausgewählt zu haben. Doch es lag auch eine Zugewandtheit in diesem Blick, die sie bisher noch nicht erlebt hatte. Ein Blick, der reserviert war für seine Familie und Freunde wie Tonat und ihren Bruder Killeen. Für den Kreis seiner Vertrauten. Dass er sie nun offenbar zu diesem zählte, war ebenso eine freudige Aufregung wie ein süßer Schmerz. Er winkte sie zu sich, und sie näherte sich ihm so zögernd, als ginge sie über Glasscherben dahin.

„Euch wird nichts geschehen“, versicherte er ihr. „Was das angeht, müsst Ihr Euch tatsächlich keine Sorgen machen. Aber dennoch wird, was Ihr in der Halle sehen und erleben werdet, sehr beängstigend sein.“

„Weil … Sie dort sein wird?“ Amariels Stimme war kaum mehr als ein Hauch.

Er nickte nur schweigend zur Antwort, der Ausdruck seiner dunklen Augen nun noch ernster als zuvor.

Zwei weitere Atemzüge verstrichen, dann gab die Halbelfe sich einen Ruck. „Bundmeister, warum habt Ihr dieses Jahr mich ausgewählt, Euch zu begleiten?“

Nun kehrte die Wärme von anfangs in seinen Blick zurück. „Weil ich weiß, Amariel, dass Ihr stark genug dafür seid, auch ohne darauf vorbereitet zu sein.“ Er nannte sie selten einfach nur bei ihrem Namen. „Und weil ich Euch genug vertraue und schätze, dass auch das, was danach kommt, für mich in Ordnung ist.“

Ihr Herz schien zwischen zwei Schlägen zu stolpern. „Was … danach kommt?“

Er hingegen blieb vollkommen ruhig. „Dieser Tag verändert alles, Amariel. Man sieht sich gegenseitig mit anderen Augen, wenn man gemeinsam daran teilgenommen hat.“

Sie wünschte, er würde nicht völlig ahnungslos ständig solche Dinge sagen. Denn unwissend musste er ihren Gefühlen gegenüber sein, das war ihr inzwischen klar. Und so froh sie darüber einerseits war, so schmerzhaft war es auch manchmal. Sie straffte sich, erwiderte seinen Blick. „Ja, Bundmeister. Das … kann ich mir vorstellen.“

Er nickte, und in seinen Augen standen die Offenheit und das Zutrauen, die er nur seinen engsten Vertrauten entgegenbrachte. Es war mehr, als sie sich jemals erhofft hatte, und daran hielt sie sich fest, während sie ihre aufmüpfigen Gefühle niederdrückte. Dann ging sie zu seinem Schreibtisch, auf dem die Ritualgegenstände bereit lagen, und atmete einmal tief durch. An diesem Tag zählte nur das Ritual in der Halle der Schmerzen, und sie würde an ihres Bundmeisters Seite sein, egal was sie dabei erwarten mochte.

 

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basierend auf dem Questabend am 7. Oktober 2012 

 

 

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