„Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst, sondern die Erkenntnis,
dass etwas anderes wichtiger ist als die Angst. “
Roandir, Lereias früherer Lehrer und Vertrauter
Dritter Gildentag von Sakrilegion, 126 HR
Lereia schloss ihre Haustür hinter Ambar, nachdem er sich verabschiedet hatte, und ließ noch einen Moment die Hand auf der Türklinke ruhen. Er hatte am heutigen Abend ihre Einladung zum Abendessen eingelöst, die sie anlässlich seines Bundmeistertages im letzten Monat ausgesprochen hatte. Sie hatte sich damals nicht viel dabei gedacht und vielleicht in ihrer manchmal etwas zu unbedarften Art ihren Bundmeister zu sich nach Hause eingeladen. Sie erinnerte sich gut daran, wie dieser Umstand Naghûl und Morânia überrascht und auch etwas amüsiert hatte und ihr war schnell klar geworden, dass das vielleicht nicht ganz der Sigiler Etikette entsprach. Sie hatte sich zu Beginn dieses Abends auch bei ihm dafür entschuldigt und erklärt, dass sie nicht hatte aufdringlich erscheinen wollen, sondern es im Kloster so gelernt hatte, dass ein gutes Essen und eine angenehme Gesellschaft mehr wert waren als jedes materielle Geschenk. Ambar hatte höflich dazu gelächelt und ihr versichert, dass er sich gefreut hatte, wenn er auch etwas überrascht gewesen war. Zumal man ihre Treffen auch als rein "beruflich" hätte bezeichnen können. Sie war sich nicht ganz sicher gewesen, aber es hatte in ihrem Gespräch so gewirkt, als würden sie beide dies so sagen, aber in diesem Moment nicht wirklich meinen. Für eine Sekunde hatte sie das Gefühl gehabt, dass er ihr etwas tiefer in die Augen sah und dieser Blick hatte sie zugegebenermaßen etwas aus der Bahn geworfen und eine gewisse Nervosität hervorgerufen. Sie hatte schon vorher eine tiefe Bewunderung für ihren Bundmeister gehegt und mit den letzten Treffen fühlte sie sich ihm auch noch näher und war sich sicher, kaum jemandem vorher so sehr vertraut zu haben. Aber nun war da noch etwas anderes ... mehr ... Vielleicht war es das schon länger, aber erst jetzt hatte sie den Mut, darüber nachzudenken. Ihr letztes Gespräch mit Sgillin mochte vielleicht auch dafür verantwortlich sein, dass sie sich nun traute, ihren Empfindungen nachzugeben. Nach der Aussprache der Erwählten im Garten der Festhalle hatte sie sich Gedanken über ihre Beziehung zu ihm gemacht und bald darauf eine Entscheidung getroffen. Sgillin und sie hatten ein langes Gespräch geführt und sie hatte die Beziehung zu ihm beendet. Sie hatte seiner Reaktion nicht ganz entnehmen können, ob es beidseitig gewesen war oder ob es ihn verletzt hatte. Aber auch wenn es eine schwere Entscheidung gewesen war, hatte sie keinen Zweifel daran, dass es auch die einzig richtige war. Zu viel stand nun zwischen ihnen, zu viel war geschehen und ihre Gefühle für ihn hatten sich geändert.
Lereia wandte sich nun von der Tür ab und begann, den Tisch abzuräumen, um den Abend noch einmal Revue passieren zu lassen. Sie hatten zunächst über den Tag der Schmerzen gesprochen, der erst kürzlich stattgefunden hatte. Sie war an diesem Tag in großer Sorge um ihren Bundmeister gewesen und hatte mit Erleichterung festgestellt, dass es ihm wohl einigermaßen gut zu gehen schien. Am heutigen Abend war nur noch ein Arm verbunden gewesen und er hatte ihr versichert, dass die Dame gnädig mit ihm gewesen war. Was auch immer das bedeuten mochte. Sie war insgeheim froh, manche Dinge in dieser zuweilen doch recht verrückten Stadt noch nicht so ganz durchschauen zu müssen.
Lereia hatte sich sehr darüber gefreut, dass Ambar ihr Essen offenbar geschmeckt hatte. Sie hatte sich große Mühe gegeben, traditionelle Speisen aus dem Eldath Kloster zu kochen, auch wenn sie die Zutaten hier und da ein wenig hatte abändern müssen. Als Vorspeise hatte sie gebratenen Reis mit Frühlingszwiebeln und gerösteten Cashewkernen auf einer süßen Chilisauce serviert, die man nach Belieben und Geschmack untermischen konnte. Für den Hauptgang hatte sie Zutaten aus Tir Na Og gewählt - Trichabrustfilets in Weißwein auf Gemüse gedünstet, dazu geriebene und gebratene Kartoffeln. Eine sehr einfache Beilage, die es im Kloster häufig gegeben hatte, da Kartoffeln günstig zu bekommen waren und sie diese auch selbst angebaut hatten. Aber dennoch ihre Lieblingsbeilage, die ihrer Meinung nach zu fast allem passte. Zum Abschluss hatte es in Honig karamellisiertes Obst gegeben, insbesondere Früchte aus Arborea, die sie vorher selbst noch nicht alle gekannt hatte.
Sie hatten während des Essens auch über ihren vergangenen Besuch im Haus der Vorboten gesprochen. Lereia erinnerte sich mit wachsendem Unbehagen daran zurück, ganz besonders natürlich an das dortige Aufeinandertreffen mit Sougad Lawshredder. Als sie direkt in seine Augen geblickt hatte, hatte sich sofort Angst in ihrem Inneren ausgebreitet. Ein kaltes Entsetzen, das sie zum Weglaufen zwingen wollte, wie eine Furcht, die in ihr ganzes Wesen einzusickern drohte. Auch die seelische Signatur von getrocknetem Blut, Stahl und schwarzem Eichenlaub war scharf und schneidend in ihre Sinne eingedrungen. Irgendwie hatte sie es dennoch geschafft, nicht davonzulaufen, an Ambars Seite zu bleiben und dieser Begegnung standzuhalten. Auch wenn sie sich eingestehen musste, dass der eisige Griff von Furcht und Wahnsinn sie noch immer erschütterte und sie die ersten Nächte nach dem Aufeinandertreffen nur schwer hatte schlafen lassen. Dieses furchterregende heisere Lachen, das eine Welle puren Entsetzens in ihr ausgelöst hatte, würde sie nicht so schnell wieder vergessen. Aber es war auch, als hätte sie dort die Philosophie der Göttermenschen zum ersten Mal wirklich verstanden und gefühlt. Es war wie eine Prüfung für sie gewesen, nicht wegzulaufen, sondern sich dieser Situation instinktiv zu stellen und daran zu wachsen. Sie hatte beschlossen, sich nicht zur Beute, zur Gejagten, machen zu lassen. Es war zum einen nicht ihre Natur und zum anderen war es, als würde das Schicksal sie leiten und ihr klar machen, wie wichtig es war, diese Informationen zu sammeln, die ihr im Haus der Vorboten zuteil geworden waren.
Ihre Gespräche an diesem Abend waren aber auch durchaus privaterer Natur als sonst gewesen. Ambar hatte ihr erzählt, dass er in den letzten Jahren keine ernsthaften Beziehungen zu Frauen gepflegt hatte. Dass es natürlich Interessentinnen gegeben hatte, aber er nicht die passende Frau hatte finden können. Vermutlich, so hatte er gemutmaßt, weil er irgendwie befürchtete, dass sich die Frauen eher wegen seines Amtes als um seinetwillen, also der Person, die er wirklich war, um ihn bemühen würden. Sie verstand, was er meinte, dennoch war ihr in diesem Moment in den Sinn gekommen, dass wenn überhaupt sie eher das Amt abschrecken, aber der Mann dahinter ihr Interesse wecken würde - nicht wegen, sondern trotz seines Amtes. Und natürlich war ihr dieser Satz auch herausgerutscht. Manchmal glaubte Lereia, war es bei ihr um die Weisheit der Mönche nicht so gut bestellt, wenn die Tigerin eine eher impulsive und offene Art der Kommunikation wählte. Ambar hatte in diesem Moment aber nicht überrumpelt gewirkt, sondern eher als würde er sich über diese Aussage freuen. Vielleicht weil er gespürt hatte, dass sie es ehrlich meinte und weder Vorteile daraus ziehen wollte noch Kalkül dahinter steckte.
Sie hatte Ambar jedoch nicht erzählt, dass ihre Beziehung zu Sgillin beendet war, selbst als er nach ihm gefragt hatte. Sie hatte noch nicht darüber sprechen wollen, insbesondere weil sie noch nicht einmal ihren Freunden davon erzählt hatten. Aber nun, nachdem er gegangen war, verspürte sie den dringenden Wunsch, es ihm bald zu erzählen. Wenn sie ehrlich zu sich war, hoffte sie auf eine ganz bestimmte Reaktion auf diese Information von ihm, auch wenn sie diese nicht wirklich erwartete. Sie löschte die letzte Kerze in der Küche und fasste den Entschluss, Ambar bei der nächsten Gelegenheit davon zu erzählen. Denn wenn sie eines an diesem Abend gelernt hatte und sich nun auch wirklich und ehrlich eingestand, dann, dass sie sich zu ihrem Bundmeister hingezogen fühlte, unwiderruflich und stärker als sie es je erwartet hätte.
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geschrieben von Lereias Spielerin, basierend auf einem gemeinsamen Rollenspiel-Abend




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