„Im Großen Gymnasium wird nicht nur trainiert, Dussel. Du findest dich selbst, du praktizierst die Harmonie von Körper, Geist und Multiversum.
Hier lässt ein Kryptist die Kadenz der Ebenen sein wahres Wesen durchströmen.“
so gehört am Portico des Lernens im Großen Gymnasium
Vierter Kuratorentag von Sakrilegion, 126 HR
Während Naghûl auf einem der weichen Teppiche im Kristall-Meditationsraum des Großen Gymnasiums saß, ließ er den nun eine gute Woche zurückliegenden Tag der Schmerzen gedanklich Revue passieren. Er hatte gemeinsam mit Lereia, Jana, Sgillin und in der Menge vor der Halle der Schmerzen gestanden, um dem Schauspiel beizuwohnen. Kiyoshi hatte Dienst gehabt und war dafür zuständig gewesen, zusammen mit vielen seiner Kameraden die Menge von dem Platz vor der Halle und den Bundmeistern fernzuhalten. Die Ereignisse rund um das Ritual von Unterwerfung und Hingabe hatten sich ähnlich abgespielt wie jedes Jahr: Nacheinander waren die Bundmeister und deren Ritualhelfer in weißen und schwarzen Roben vor der Halle der Schmerzen eingetroffen. Alle hatten sich zu den fünfzehn Mosaiken rund um die Halle begeben, und jeder Bundmeister hatte sich mit seinem Ritualhelfer in die Mitte eines der Zeichen gestellt. Sie hatten etwas rezitiert, das unten nicht zu verstehen gewesen war und daraufhin hatte sich das Portal aktiviert, das nur einmal im Jahr von der Dame geöffnet wurde. Die Bundmeister hatten das große Gebäude betreten und von da an waren immer wieder klingenartige Schatten an der Fassade zu sehen gewesen. Nach einiger Zeit hatte sich der Himmel verfinstert und ferner Donner zu grollen begonnen. Immer näher waren die Donnerschläge gekommen, bis schließlich ein Blitz niedergefahren war und das Mosaik getroffen hatte, in dem Bundmeisterin Rhys gestanden hatte. Zurück war eine blutrot lodernde Flamme geblieben. Nacheinander waren noch vierzehn weitere Blitze vom Himmel gezuckt und in die Mosaike eingeschlagen, bis endlich fünfzehn rote Flammen rund um die Halle der Schmerzen gebrannt hatten. Die weiblichen Statuen rund um das Gebäude, die ihre Gesichter tief in den Händen vergraben hatten, waren unheimlich beleuchtet gewesen. Nachdem es eine Weile totenstill auf dem Platz gewesen war, hatte sich der Himmel verdunkelt und ein Gefühl von Angst und Tod alle Anwesenden überfallen. Als es dann wieder ein wenig heller geworden war, hatten die Frauenstatuen die Arme weit ausgebreitet und gen Himmel geblickt. Einige Zeit danach war das Portal erneut erschienen und die Bundmeister hatten in blutbefleckten Roben die Halle verlassen. Die Spannung in der Menge war bis ins Unerträgliche gewachsen, bis klar gewesen war, wer in diesem Jahr der „Erwählte“ war: Bundmeister Mallin stand mit sechzehn Schnitten Ihrer Klingen im Blick der Dame – eine ungewöhnlich hohe Anzahl. Seine Ritualhelferin, in diesem Jahr Alisohn Nilesia, hatte ihn nur mit Hilfe des nicht so stark mitgenommenen Sarin zu seiner Kutsche bringen können. Die teils mehr, teils weniger stark verwundeten Bundmeister hatten sich daraufhin in ihre jeweiligen Hauptquartiere begeben, und bald darauf hatte sich auch die Menge auf dem Platz der Schmerzen zerstreut. Wer aber noch einmal zurückzublicken gewagt hatte, der hatte Sie über dem Kuppeldach der Halle schweben sehen …
Nach dem Ritual leerten sich die Straßen immer sehr rasch, denn am Tag der Schmerzen war die Dame immer sichtbar in Sigil unterwegs. Man sah Sie in diesen Stunden häufig durch die Gassen schweben. Und zum Grauen der Einwohner schienen auch die Darstellungen der Dame, die in Sigil viele Plätze oder Fassaden schmückten, ein Eigenleben zu entwickeln. Viele schworen, die Augen würden sich bewegen und Vorbeigehenden folgen. Während es sonst strengstens und bei Todesstrafe untersagt war, die Dame zu verehren, verhielt es sich an diesem einen Tag etwas anders. Zwar durfte man Sie dennoch nicht direkt anbeten, jedoch erwartete Sie ein deutlich erhöhtes Maß an Respekt. Alle Einwohner verneigten sich zumindest tief vor jedem Bildnis der Dame in der Stadt, von der Statue über reliefartige Darstellungen Ihres klingen-umkränzten Gesichtes bis hin zu einfachen Bildern. Die meisten aber gingen lieber auf Nummer sicher und warfen sich ganz zu Boden, denn es war weithin bekannt, dass Respektlose besonders schnell von Ihr zerfetzt wurden. Vor allem unter Planlosen war die Todesrate am Tag der Schmerzen hoch. Aus diesem Grund waren die Straßen wie ausgestorben, auch alle Bund-Hauptquartiere schlossen ihre Tore, sogar die Festhalle und das Torhaus. Am nächsten Tag konnte man dann, auch nachdem die Sammler unterwegs gewesen waren, so manchen Blutfleck in den Straßen sehen. Der Tag endete stets so düster und unerfreulich, wie er begann. Denn wer an diesem Abend einschlief, der träumte von Ihr. Alle Einwohner Sigils wussten genau, dass die Dame der Schmerzen sie in dieser Nacht in ihren Träumen heimsuchen würde - und einige erwachten mit blutigen Schnitten. Aus diesem Grund versuchten die meisten, aufzubleiben und die Nacht ohne Schlaf zu verbringen. Vor allem Kinder hielt man gerne wach. Naghûl wusste von seiner Bundmeisterin, dass Sarin und Faith ihre Kinder an diesem Tag stets nach Arcadia schickten. Nur die ältesten blieben in der Stadt, in diesem Jahr Marinda und Sirian sowie die Adoptivtochter Yaëlla. Alles in allem atmete ganz Sigil auf, wenn der Tag der Schmerzen vorüber war, und so war es auch Naghûl und Morânia wieder ergangen. Seit Jahrzehnten kannten sie diesen Tag, hatten ihn schon Dutzende Male miterlebt – und doch gewöhnte man sich nie ganz an seinen makabren Schrecken.
Der Tag der Schmerzen war jedoch nicht der Grund für das aktuelle Treffen im Großen Gymnasium, sondern vielmehr eine Entdeckung Naghûls. Die Wochen, die seit der Verkündung der Prophezeiung durch Elyria und Lorias vergangen waren, hatte er genutzt, um die Hauptquartiere der anderen Bünde genauer unter die Lupe zu nehmen. Ganz wie seine Rolle in der Prophezeiung es offenbar wollte, war er auf der Suche gewesen. Auf der Suche nach Zahlen, wie er sie im Haus der Visionen, aber auch in der Kapelle der Großen Gießerei, in der Leichenhalle und am Eingang des Torhauses gefunden hatte. Und tatsächlich hatte er etwas entdeckt. Keine durch Bindestriche abgetrennten Zahlenfolgen wie in dem geheimnisvollen Haus oder der Gießerei, jedoch weitere ein- und zweistellige Zahlen, jeweils eine pro Bundhauptquartier. Zumindest, soweit er die Wirkungsstätten der anderen Bünde hatte einsehen können, denn natürlich hatte er nicht überall Zutritt gehabt. Oder bei den Anarchisten gar nicht gewusst, wo er überhaupt hätte suchen sollen. Doch alle entdeckten Zahlen hatte er sich notiert, wieder und wieder darüber nachgegrübelt und letztlich eine Theorie entwickelt. Eben diese Vermutung wollte er nun Erin und Rhys mitteilen.
Die Bundmeisterin der Kryptisten hatte ihr Hauptquartier für ein Treffen angeboten, und so saß Naghûl nun mit Rhys und Morânia im Mondkristall-Raum. Der kleine Saal war mit hellem Marmor ausgekleidet und diente den Kryptisten sowohl als Meditationsort als auch für kleinere Zusammenkünfte. In der Mitte stand in einem kunstvoll ornamentierten Gestell aus Sternensilber ein großer Kristall, der ein sanftes Licht verströmte. Rundherum waren weiche Teppiche ausgebreitet, auf denen der Tiefling, seine Frau und deren Bundmeisterin Platz genommen hatten, während sie auf Lady Erin und ihren Gefährten Da'nanin warteten. Rhys hatte am Tag der Schmerzen Glück gehabt und nur drei Schnittwunden davongetragen, eine an der rechten Schulter, eine am linken Unterarm und eine am Rücken, zwischen den Schulterblättern. Nur die Wunde am Unterarm war tief gewesen und noch mit einem leichten Verband umwickelt, die anderen beiden Schnitte waren schon so gut wie verheilt. Naghûl ließ seinen Blick rasch und verstohlen über die weißen Stoffbinden gleiten, sah dann aber sofort wieder zu dem großen Kristall in der Raummitte. So makaber das Ritual von Unterwerfung und Hingabe war, so spannend war es auch. Doch die Schnittwunden, welche die Bundmeister dabei davontrugen, unverhohlen anzustarren, ziemte sich dennoch nicht. Rhys hatte seinen Blick offenbar bemerkt, so flüchtig er auch gewesen war, denn sie lächelte sacht, sagte aber nichts weiter dazu. Stattdessen richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Tür, wie in der Erwartung, dass diese sich im nächsten Moment öffnen würde. Und tatsächlich schwangen kurz darauf die Türflügel auf, als Erins Gefährte Da'nanin sie öffnete. Er hielt sie für seine Bundmeisterin auf, doch diese ging nicht sofort hindurch, sondern blieb stattdessen eine Weile im Türrahmen stehen und musterte ausführlich die goldenen Intarsien, die einen stilisierten Baum vor dunkelblauem Grund zeigten. Ihr rechter Arm ruhte in einer Schlinge – die beiden einzigen Schnitte, die sie davongetragen hatte, waren an der rechten Schulter und am Oberarm gewesen. Mit den Fingerspitzen der linken Hand fuhr sie sacht die Konturen der Zweige und Äste an der Tür nach.
„Wirklich, liebe Rhys“, bemerkte sie dann, „ich bin immer wieder aufs Neue beeindruckt von der unglaublichen Kunstfertigkeit und Detail-verliebtheit Eures Hauptquartiers.“
Ihre Kollegin erhob sich mit einem Lächeln. „Wenn das die Bundmeisterin der Sinnsaten sagt, fühle ich mich geehrt.“
Naghûl und Morânia waren ebenso aufgestanden und verneigten sich tief, während Rhys Erin beide Hände entgegen streckte, die Handflächen nach oben geöffnet. „Der Segen der Dame, werte Freundin.“
Erin legte ihre Unterarme auf die von Rhys, während diese ihre Hände um Erins Ellbogen schloss. „Der Segen der Dame, teure Rhys.“
Dann trat auch Da'nanin hinzu und die Bundmeisterin der Kryptisten begrüßte ihn auf dieselbe Weise, ebenso herzlich.
Währenddessen wandte Erin sich an den Tiefling und die Bal'aasi. „Naghûl, ich grüße Euch. Und natürlich auch Euch, Morânia. Schön, dass Ihr Euren Mann heute begleitet. Wo Ihr und Rhys ja unsere Gastgeberinnen seid.“
Morânia deutete erneut eine Verneigung an. „Herzlichen Dank, verehrte Lady Erin.“
„Ich möchte mich an dieser Stelle noch einmal herzlich bedanken, dass meiner Bitte nachgekommen wurde“, meinte Naghûl. „Ich versichere Euch, es wird keiner bereuen — oder vielleicht doch, auf die eine oder andere Art. Es geht um meine neuesten Erkenntnisse.“
Seine Bundmeisterin schmunzelte bei dieser Formulierung und ließ sich neben Rhys auf dem weichen Teppich nieder.
„Wir sind alle sehr gespannt, Naghûl“, sagte Da'nanin, während er neben seiner Gefährtin Platz nahm.
Der Tiefling nickte eifrig und zog nun einige Bögen Papier aus seiner Tasche, die er eigens für das Treffen angefertigt hatte. „Ich habe etwas vorbereitet, damit man meinen Theorien besser folgen kann“, erklärte er und gab jedem ein Stück Papier, auf dem eine grobe Skizze Sigils aufgezeichnet war, in die er die bisher bekannten Zahlen eingetragen hatte.
„Oh, wie spannend!“ Erin nahm den Bogen erfreut entgegen und musterte ihn interessiert.
Rhys betrachtete die Zeichnung etwas nüchterner, aber gleichwohl aufmerksam.
„Auf der Rückseite der Karte findet Ihr die Zuordnungen zwischen den von mir entdeckten Zahlen und Bundhauptquartieren“, führte Naghûl seine Skizze aus. „Es befinden sich noch drei Bünde ohne konkrete Zuordnung: Freie Liga, Anarchisten und Xaositekten. Dasselbe gilt für vier Zahlen, die 1, 3, 9 und 16.“
Erin hörte aufmerksam zu und wendete ab und an die Karte, um den Erklärungen besser folgen zu können.
„Zu meinen gleich folgenden Ausführungen möchte ich vorweg etwas anfügen“, fuhr Naghûl fort. „Und zwar, dass ich mich auf eine These von Lereia stütze, die Hüterin und Verkünder als eventuelle Erwählte in Betracht zieht.“
Rhys nickte. „Da auch sie anfangs keine seelische Signatur hatten, würde das Sinn ergeben.“
„Genau“, stimmte der Tiefling zu. „Nun zu den Zahlen: Dank des Kryptographie-Unterrichts, den ich besuche, habe ich tatsächlich Zusammenhänge erkennen können. Wir haben in Sigil fünfzehn Bünde und das würde bedeuten, es gibt die Zahlen 1 bis 15. Ich gehe direkt über zum mathematischen Teil und ...“ Er stockte kurz, als er sich so reden hörte. Das klang so gar nicht nach ihm, dass er unwillkürlich grinsen musste. „Ich komme mir gerade selber ein wenig fremd vor.“
Er sah aus dem Augenwinkel, wie seine Frau Morânia in sich hinein schmunzelte, sie sagte jedoch nichts.
„Addiert man die Zahlen“, fuhr Naghûl dann unbeirrt fort, „erhält man in der Summe 123 auf fünfzehn Bünde verteilt. Würde man die Bünde nun in gewissen Kategorien zusammenfügen, gäbe es einen Widerspruch, da ein Bund fehlte. Oder die Zahlen würden nur wenig Sinn ergeben, da die Konstellationen kein sinnvolles Muster bilden.“
„Aha ...“ Da‘nanin runzelte die Stirn. „Meine Güte, Naghûl, habt Ihr einen Herrschner konsultiert oder entspringt das alles Euren eigenen Nachforschungen?“
Die Frage von Erins Stellvertreter klang durchaus beeindruckt, was Naghûl mit ein wenig Stolz erfüllte, wie er vor sich selbst zugeben musste.
„Tatsächlich sind es meine eigenen Nachforschungen“, erklärte er lächelnd. „Und es ist durchaus interessant, auch zu erfahren, wie Herrschner ticken.“
„Da bin ich sicher.“ Der Halbelf lachte. „Nun gut, entschuldigt die Unterbrechung. Fahrt bitte fort.“
Naghûl nickte. „Die einzelnen Schritte, wie ich zu meinen Erkenntnissen kam, will ich nicht weiter ausführen, das würde unnötige Zeit kosten. Daher komme ich direkt zu meinem Resultat: Ich habe Hüterin und Verkünder einbezogen und die Zahl 16 mit aufgenommen. Dann blieb ich an dem Bild hängen, das ich im Elysium im Wasser des Stillen Sees sah. Drei Kreisflächen in der Mitte - grau, weiß und schwarz - um die sich vier weitere Punkte drehen, welche wiederum vier Punkte um sich versammeln. Eine kleine Skizze dazu befindet sich rechts unten auf der Rückseite.“
Mit einer fließenden Bewegung drehte Rhys das Pergament und sah nach, nickte kurz und widmete dann wieder ihre ganze Aufmerksamkeit Naghûl.
„So kam ich auf die Idee, die sechzehn Parteien durch vier zu teilen“, fuhr der Tiefling fort. „Die neue Summe ergibt 136. Auch jene lässt sich durch vier teilen, was 34 ergibt. Das führte mich dazu, dass vielleicht vier Bünde, die in einer gewissen Art zusammengehören, mit ihren Zahlen ebenso 34 ergeben könnten. Ich prüfte diese Theorie mit den Bünden, die in gewisser Weise für Ordnung stehen: Harmonium 5, Gnadentöter 7, Herrschner 10 und Zeichner 12 – ergibt 34.“
„Hm ... interessant.“ Da‘nanin legte nun die Karte ab, beugte sich vor und musterte Naghûl erwartungsvoll.
„Ich versuchte, das zweite Quartett zuzuordnen“, erklärte der Tiefling. „Die Kryptisten 2, die Göttermenschen 13, die Athar 15 und die Sinnsaten 4 - gibt 34. Nun wird es etwas schwieriger, da ich nicht alle Zahlen eindeutig zuordnen kann. Die nächste Gruppe bildete ich aus Trostlosen 11, Staubmenschen 6 und Schicksalsgarde 8 - doch nun fehlt ein Bund und eine Zahl. Die Zahl wäre die 9, der meiner Meinung nach am besten dazu passende Bund die Anarchisten. Damit wären wir erneut bei 34, verteilt auf vier Bünde.“
Erin nickte langsam. „Ja, die Kombination wäre passend.“
„Das letzte Quartett“, meinte Naghûl, „wären das Prädestinat mit 14, die Freie Liga, die Xaositekten und die Hüterin und der Verkünder. Nimmt man alle übrigen Zahlen, ergibt die Summe 34.“
Dann schwieg er, um den Bundmeisterinnen und Da'nanin Zeit zu geben, über seine soeben geäußerten Theorien nachzudenken. Tatsächlich starrten alle drei erst einmal nachdenklich auf Naghûls Skizze. Lediglich Morânia saß, ein kleines Stück entfernt, entspannt auf den Teppichen, da er sie natürlich schon früher in seine Gedankengänge eingeweiht hatte.
Schließlich sah Rhys wieder auf. „Ich verstehe Eure Überlegungen, und ich muss sagen, sie klingen durchaus valide. Ich hätte allerdings eine Frage dazu: Wir haben fünfzehn Bünde, die bekanntermaßen Organisationen sind. Da Ihr nun Hüterin und Verkünder in dieses Zahlenspiel mit einbezieht, wäre es natürlich naheliegend, auch sie einer Organisation zuzuordnen. Habt Ihr eine Idee, welche das sein könnte?“
Diese Frage hatte Naghûl sich natürlich auch schon gestellt, leider ohne eine befriedigende Antwort darauf zu finden. „Ihr habt Recht“, erwiderte er daher. „Doch leider habe ich hierzu noch keine Theorie. Das verlangt nach tiefer greifenden Nachforschungen. Mir kam jedoch ein anderer Gedanke. Es geht um die Konstellationen der zusammenarbeitenden Bünde. Ich habe nach wie vor den Verdacht, dass es sich nicht unbedingt um eine hundertprozentige Zusammenarbeit aller Bünde handeln muss.“
„Das wäre mir sehr angenehm“, warf Erin ein, was Rhys mit einem leichten Schmunzeln bedachte.
Naghûl neigte den Kopf in Richtung seiner Bundmeisterin. Er war sich in aller Regel ohnehin mit ihr einig, in dieser Frage aber ganz besonders. „Ich halte es durchaus für möglich, dass wir irgendwo und irgendwann auch gezielt gegeneinander vorgehen müssen. Oder uns zumindest vor den anderen schützen müssen. Wenn wir uns nun die Quartette nochmals ansehen ... Im Moment sind Harmonium, Kryptisten, Göttermenschen, Athar, Sinnsaten ... und Anarchisten vereint.“
„Ja, das ist zugegeben nicht ganz harmonisch“, bemerkte Morânia mit einer gewissen Erheiterung.
Naghûl grinste kurz, ehe er fortfuhr. „Nun zu meinem größten Problem: Was tun wir mit dieser Erkenntnis und mit dieser doch brisanten Theorie? Nutzen wir sie zu unserem Vorteil, um einen Schritt weiter zu sein, falls sich irgendwann die Wege trennen? Oder soll ich alles an die anderen Bünde weitergeben?“
„Mir persönlich wäre es lieber, wenn wir das erst einmal unter uns sechs behalten“, erklärte Erin ernst. „Nicht, dass ich meinen Kollegen nicht traue. Aber ich möchte nichts tun, das Sarin darin bestärkt, er solle sich doch lieber Mallin zuwenden. Nicht einmal im Ansatz.“
Bei seiner eigenen Bundmeisterin war Naghûl sich fast sicher gewesen, dass ihre Entscheidung so ausfallen würde. Was Rhys anging, konnte er die Lage allerdings nicht ganz so gut einschätzen. Die Tieflingsfrau nickte jedoch zu Erins Worten. „Ich stimme meiner geschätzten Kollegin zu. Es könnte unnötige Unsicherheit auslösen. Und manche denken zu viel. Sie würden zu sehr ins Grübeln geraten, statt zu handeln.“
„Ich schließe mich dem an“, stellte Da'nanin fest. „Wahrscheinlich wäre es besser, das erst einmal für uns zu behalten. Bei Ambar und Terrance hätte ich weniger Bedenken als bei Sarin. Doch ihn als einzigen außen vor zu lassen, wäre riskant – und auch unmoralisch, um ehrlich zu sein.“
Erin nickte bestätigend zu den Worten ihres Stellvertreters und Geliebten, hatte offenbar nichts hinzuzufügen.
„Gut.“ Naghûl war durchaus erleichtert über diese Entscheidung. „Zudem ist es vielleicht nicht verkehrt, in Sachen Wissen einen Schritt weiter zu sein und den Anarchisten im Auge zu behalten.“
Bei diesen Worten fasste Erin ihn etwas intensiver ins Auge. „Diesen Punkt wollte ich auch noch ansprechen. Sagt mir: Vertraut Ihr Sgillin?“
„Ich vertraue Sgillin, ja.“ Naghûl nickte ernst und sah seine Bundmeisterin fest an. „Aber ich kenne ihn, und meiner Einschätzung nach sind wir gerade auf dem besten Weg, ihn zu verlieren. Zum einen der Zwist mit Bundmeister Sarin - auch wenn ich den Bundmeister sehr gut verstehe. Zum anderen … na ja, Lereia. Man kann beobachten, wie das Verhältnis zwischen ihr und Bundmeister Ambar immer besser wird.“
„Ja.“ Erin fuhr mit der linken Hand sacht über den weichen Teppich. „Mir ist das auch aufgefallen. Ich habe einmal versucht, Ambar darauf anzusprechen. Aber er ist dem Thema so geschickt ausgewichen, wie das nun einmal nur Barden können.“
Naghûl seufzte. „Aber noch sind Sgillin und Lereia ein Paar.“
„Ihr befürchtet, es könnte zu einer Krise oder gar Trennung kommen.“ Rhys Tonfall machte klar, dass dies eine Feststellung und keine Frage war. „Und dass Sarins Verhalten Sgillin zusätzlich abschreckt und so von der Gruppe entfernt.“
„So ist es“, bestätigte Naghûl. „Er ist ein sehr emotionaler Halbelf.“
„Ich rechne durchaus in meine Überlegungen ein, dass er ein Planloser ist“, erklärte Erin. Eine gewisse Strenge floss nun durch ihre Stimme, wobei der Tiefling nicht ganz sicher war, ob sie ihm oder Sgillin galt. „Wahrscheinlich wusste er wirklich nicht genau, was er tat. Aber er ist nun einmal zu den Anarchisten gegangen, und wir können froh sein, dass Sarin noch so moderat reagiert hat.“
„Ich möchte in keinem Falle Bundmeister Sarin angreifen“, versicherte Naghûl. „Doch möchte ich Sgillin weder als Freund verlieren noch ihn irgendwo im Stock wissen. Lieber habe ich ihn bei mir. Daher habe ich eine Bitte an alle hier Anwesenden.“
Da'nanin musterte ihn aufmerksam. „Nun bin ich gespannt. Bitte lasst hören.“
„Ich kenne Sgillin eine gute Weile und es war immer auf ihn Verlass“, meinte Naghûl. „Doch dies geschah nur durch Offenheit. Wenn er das Gefühl bekommt, dass auch ich mich von ihm distanziere, weil er zu den Anarchisten gehört, ist es nur eine Frage der Zeit, dass wir ihn verlieren. Daher möchte ich ihn gerne enger an mich binden - wenn man das so sagen kann. Nicht nur aus praktischen Gründen, sondern auch aus persönlichen.“
„Das klingt nach einer nachvollziehbaren Entscheidung“, stellte Rhys sachlich fest. „Was habt Ihr vor?“
„Zum einen werde ich versuchen, das persönliche Band zwischen ihm und mir weiter aufleben zu lassen - im künstlerischen Sinne.“ Er atmete einmal tief durch und blickte dann zu Erin. „Versteckspiel hin oder her - ich glaube, es ist an der Zeit, ein kleines Geheimnis zu lüften. Was denkt Ihr?“
„Das ist Eure Entscheidung.“ Der Blick ihrer grünen Augen verriet, dass sie gespannt war, was nun folgen würde, dass sie es mindestens ebenso genoss wie eine gute Theateraufführung. „Ich will Euch nicht den Spaß nehmen oder um eine wichtige Erfahrung bringen.“
Da'nanin runzelte fragend die Stirn, doch sie bedeutete ihrem Gefährten mit einem verheißungsvollen Lächeln, abzuwarten.
„Ach, die Sache wird nach wie vor sehr witzig bleiben“, meinte Naghûl. Dennoch zögerte er noch ein paar Lidschläge, ehe er sich den letzten Ruck gab. Er blickte zu Rhys und Da'nanin. „Ich bin der Eichelhäher und Sgillin der Pirol, der Gitarrenspieler von Aucupium.“
Er hielt den Atem an, um die Reaktionen der beiden genau zu beobachten und konnte aus dem Augenwinkel erkennen, dass seine Bundmeisterin ebenso gespannt war. Da'nanin sah Naghûl entgeistert an und selbst Rhys konnte ihre Überraschung nicht verbergen.
„Das kommt zugegeben unerwartet“, stellte sie mit gewölbten Augenbrauen fest.
Naghûl hob entschuldigend die Schultern. „Eine Schnapsidee von Raralia und mir während Rock im Ring.“
„Ja, meine Frau Schwester hängt da auch mit drin“, stellte Morânia trocken fest. „Ihr spinnt doch alle.“
Seine Frau hatte diese Spielerei zuerst mit einem leicht verständnislosen, aber nachsichtigen Kopfschütteln quittiert, als sie damals entstanden war. Nach den Verwicklungen mit Sarins Tochter Marinda hatte sie das Ganze allerdings weniger lustig gefunden. Sie hatten nicht deswegen gestritten – Morânia kannte ihn nach all den Jahren zu gut, um wegen seiner „Sinnsaten-Allüren“, wie sie sie manchmal scherzhaft nannte, allzu ungehalten zu werden. Doch begeistert war sie auch nicht darüber gewesen.
„Ach komm, du kennst mich“, meinte Naghûl und stupste sie ein wenig an. „Ich bin immer für einen Blödsinn zu haben. Und dieser Blödsinn kann nun sehr wichtig sein, um Sgillin nicht zu verlieren.“
Da'nanin, der sich von seiner ersten Verblüffung erholt hatte, schüttelte nun herzlich lachend den Kopf. „Ihr seid ein noch viel größerer Chaot, als ich angenommen habe.“
Naghûl konnte nicht umhin, bei diesen Worten einen gewissen Stolz zu verspüren. „Sicher doch“, erwiderte er grinsend.
Auch Morânia musste nun zu seiner Erleichterung ein wenig lachen, während Rhys nur still und aufmerksam beobachtete, wenngleich ein leises Schmunzeln auf ihren Lippen zu erkennen war.
„Ich würde Aucupium gerne wieder ins Spiel bringen“, erklärte Naghûl, nun da die Katze aus dem Sack war. „Ein Auftritt würde Sgillin gut tun. Vielleicht könnte man ihm so auch die Festhalle als sicheren Rückzugsort schmackhaft machen. Und wenn er nur als gefangener Vogel dort herumschwirrt.“
„Nettes Wortspiel“, erwiderte Erin erheitert. „Nun, das wäre denkbar. Ich bin damit einverstanden, wenn Ihr mir persönlich versichert, dass er nicht den Spieß umdreht, uns ausspioniert und an wen auch immer verrät.“
„Davon bin ich überzeugt“, erklärte der Tiefling. „Und sollten die Anarchisten ihm doch eine Gehirnwäsche verpassen wollen, werde ich das erkennen und kann für Sicherheiten sorgen.“
Erin nickte. „Also gut, meinetwegen. Ich vertraue Euch, Naghûl. Tut alles moralisch einigermaßen Vertretbare, um ihn an uns zu binden.“
Er nickte, sah aber aus dem Augenwinkel, wie Morânia ihren Kopf bei dieser Bemerkung - fast unbewusst und etwas zu ruckartig - zu seiner Bundmeisterin drehte.
Erin bemerkte ihren Blick natürlich. „Ihr wisst schon, was ich meine. Tut mir leid, ist nicht immer so einfach, der Kriegstanz.“
Morânia nickte lächelnd und hob sogleich entschuldigend die Hände. „Verzeihung, es steht mir nicht zu, Euch anzuzweifeln.“
Die Bundmeisterin der Sinnsaten winkte begütigend ab. „Aber nein. Ihr habt ja Recht damit, dass man auch die eigenen Methoden stets kritisch beleuchten sollte, wenn man nicht will, dass sie einen an dunkle Orte führen. Und was dunkle Orte angeht … Es gibt da noch eine weitere Sache, die ich gerne ansprechen möchte.“ Sie warf ihrer Kollegin einen kurzen Blick zu und die Bundmeisterin der Kryptisten nickte sacht. „Rhys und ich hatten vor ein paar Wochen mit Ambar und Terrance darüber gesprochen, dass es wichtig für uns wäre, gewisse Bündnisse zu schmieden. Wir hatten die Hohen Häuser Loranóv und Arabani ins Auge gefasst, aber ich denke, wir sollten unsere Bemühungen erst einmal auf eines der Häuser konzentrieren. Nach dem Abwägen aller Vor- und Nachteile habe ich mich für Haus Loranóv entschieden.“
Naghûl nickte. Erins Wahl war auf eines der ältesten Hohen Häuser Sigils gefallen. Obgleich ein Haus sich eigentlich dadurch auszeichnete, mehrere Mitglieder zu haben und dies auch auf alle anderen Hohen Häuser Sigils zutraf, bestand Haus Loranóv offenbar nur aus einer Person: Graf Mikal Loranóv, ein alter und mächtiger Vampir, der bereits seit langem in Sigil lebte. Er war Oberhaupt und scheinbar einziges Mitglied des Hauses.
„Ich muss zugeben, dass mich in der Nähe der Villa Loranóv oft ein gewisses Schaudern überläuft“, gestand Morânia. „Aber politisch und taktisch gesehen ist es sicher eine gute Wahl. Das heißt, Ihr wollt Euch bald mit dem Grafen treffen, Lady Erin? Oder werdet Ihr Faktor Da'nanin schicken?“
Der Halbelf schmunzelte. „Weder noch, werte Morânia. Die Wahl fiel auf Euren Gemahl.“
„Oh.“ Überrascht blickte Naghûl auf. „Wirklich? Das ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe. Aber ich freue mich, sie übernehmen zu dürfen!“
Obgleich Haus Loranóv und der Graf selbst Gegenstand vieler Gerüchte und in Sigil seit jeher von einem Nimbus des Unheimlichen umgeben waren, verspürte der Tiefling eine gewisse Begeisterung. Es würde eine spannende und lohnende Erfahrung werden, soviel stand fest.
Erin lächelte wissend. „Sehr gut. Ich werde Euch über weitere Details in Kenntnis setzen, sobald ich sie habe. Ich wollte Euch nur schon einmal vorwarnen.“
Naghûl nickte eifrig, und obgleich er Morânias Blick entnahm, dass sie weniger begeistert über seinen Auftrag war, konnte er seinen Enthusiasmus nicht verbergen. Zum einen über die anstehende Erfahrung, zum anderen aber auch darüber, dass seine Bundmeisterin ihn mit einer so wichtigen Aufgabe betraute. Im Anschluss sprachen sie noch über die aktuelle Lage in der Torstadt Sylvania und die Gerüchte über eine anstehende Hochzeit zwischen den Häusern Equoveda und Aroët. Doch Naghûls Gedanken kreisten nur noch um ein Hohes Haus, und er konnte es kaum erwarten, dem uralten, geheimnisvollen Vampir seine Aufwartung zu machen.
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gespielt am 12. November 2012
Das von Erin erwähnte Wortspiel bezieht sich darauf, dass „Aucupium“ auf Latein (im Setting: Olympisch) „gefangene Vögel“ heißt, was wiederum eine Anspielung auf Sigils Beinamen „der Käfig“ ist.




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