„Ich gehöre zu keinem Bund, Dussel!
Ich bin ein Unabhängiger.“
Hoffy, ein entrüsteter Bariaur
Erster Kuratorentag von Zentrus, 126 HR
Immer, wenn Dilae über den Großen Basar ging, wusste sie, warum die Wahl ihres Bundes auf die Freie Liga gefallen war. Das pulsierende Leben, die bunte Vielfalt und über allem der Geruch von Abenteuer und Freiheit – all das repräsentierte ihr Bund und somit auch sein Hauptquartier in der Stadt der Türen. Sie war eine Priesterin der Eilistraee und als Bardin lag ihr Schwerpunkt auf dem anmutigen Schwerttanz zu Ehren ihrer Göttin. Doch sie war auch aus ganzem Herzen eine Unabhängige. Der Große Basar war einer der größten Marktplätze des Multiversums, überquellend von allen nur denkbaren Völkern und exotischen Waren in Hülle und Fülle. Wenn man ihn betrat, wurden alle Sinne von einer schier unendlichen Flut von Gerüchen, Geräuschen und Anblicken überwältigt. Die Menge war bunt und chaotisch, denn Völker aus allen Ebenen kamen hierher, um zu handeln. Während sie zwischen den Ständen und Zelten hindurch schlenderte, erblickte Dilae einen Zentauren, der seine Waren an einen Ork verkaufte und eine Bude weiter einen Gnom, der mit einem Minotauren plauderte. Hier feilschte eine Gruppe von Zwergen mit einem Goblin-Händler um den Preis eines Schmuckstücks, dort führten eine Halbelfe und ein Tiefling eine hitzige Debatte über die beste Art der Zubereitung von Hydraknollen.
An jedem einzelnen Tag war der Große Basar ein faszinierender Einblick in das Multiversum, wenn Kulturen aus allen Teilen der Ebenen zusammenkamen, um hier im lebendigen und pulsierenden Herzen Sigils Geschäfte zu machen. Die Waren, die hier verkauft wurden, reichten von gewöhnlich bis nahezu unerreichbar. Manche Händler verkauften magische Schmuckstücke, exotische Lebensmittel oder Kleidung aus Spinnwebseide und Schmetterlingsflügeln, aber auch ganz alltägliche Dinge wie einfache Waffen und Rüstungen. Ganz gleich, ob man eine Frostklinge von der Eisebene oder einen einfachen Stahldolch suchte, auf dem Großen Basar fand sich garantiert etwas für jeden Geschmack. Sogar Drachenknochen oder das himmlische Metall Solarium konnte man hier bekommen, wenn man wusste, wen man ansprechen musste – und genügend Klimper aufbrachte. Doch es gab auch harmlosere Dinge, günstiger und leichter zu entdecken. Beliebt waren derzeit zum Beispiel kleine Kugeln aus elementarem Feuer, die umher schwebten und ein sanftes Leuchten verströmten, oder kleine Figuren aus Abyssalischer Bronze, die auf Berührungen reagierten und sich bewegten. An einem Stand sah Dilae kleine Uhrwerkvögel, die zwitscherten und herum hüpften, wenn sie aktiviert wurden, an einem anderen Ringe, die bei Kontakt mit bestimmten Materialien auf subtile Weise leuchteten. Bei einem älteren Gnom, der verschiedene Haustiere verkaufte, blieb sie kurz stehen. Der freundliche, grauhaarige Mann hatte winzige Saphirechsen von der Mineralebene, niedliche Fuchswelpen, grasgrüne Affen und sogar ein geflügeltes, Celestisches Kaninchen. Dilae war tatsächlich versucht, das Kaninchen zu kaufen. Doch im Grunde wusste sie, dass sie nicht genug Zeit für ein Haustier hatte.
Daher schlenderte sie weiter, wobei ihr der Stand einer Feuergenasi ins Auge stach. Sie verkaufte elegante Kleidungsstücke, und es drängte sich eine wahre Flut von Kunden um ihren Verkaufstisch. Dilae meinte, den Grund dafür zu kennen: Bei dieser Schneiderin hatte Bundmeisterin Erin kürzlich ein Gewand gekauft. Das berühmte Flammentanz-Kleid, das sie kürzlich bei der Aphrodisia getragen hatte. Vom Element des Feuers inspiriert, war dieses Kleid aus hitzebeständiger Ifriti-Seide gefertigt und wies ein auffälliges rotes und oranges Muster auf, das bei jeder Bewegung den Eindruck erweckte, als würde ein loderndes Feuer auf dem Kleid tanzen. Das erklärte natürlich den Andrang, den die Feuergenasi nun erfuhr. Dilae schmunzelte. Ihr Stand hier auf dem engen, gedrängten Großen Basar würde gewiss zu klein werden, um der neuen Kundschaft standzuhalten, welche die Bundmeisterin der Sinnsaten ihr beschert hatte. Bestimmt würde sie bald eine größere Schneiderei in einem schönen Geschäft im Kuratorenbezirk eröffnen. Die Dunkelelfe gönnte es ihr aus ganzem Herzen, denn sie würde gute Geschäfte machen, die sie sich vollkommen ehrlich und ohne unmoralische Kniffe verdient hatte, einfach durch ihre handwerkliche Kunstfertigkeit, die sogar eine Bundmeisterin zu begeistern vermocht hatte. Während Dilae weiter auf ihr Ziel, das Gasthaus zum Roten Löwen, zuhielt, warf sie ein paar Kupferstücke in die Schale, die ein Halbling-Jongleur vor sich auf das Pflaster gestellt hatte. Straßenkünstler waren ein häufiger Anblick auf dem Großen Basar. Von der Ballade eines einfachen Musikers bis hin zu einem mit arkanen Effekten unterstützten Puppenspiel gab es hier alles Mögliche zu sehen.
Und an diesem eher freundlichen Tag zeigten sich zudem die für Zentrus typischen Lichtwolken. Sie traten nur im Monat der Kryptisten auf und strahlten helles Tageslicht ab. Geschah dies nach dem Letzten Licht, so erlebte der Käfig eine Nacht ohne Dunkelheit. Das Besondere am Licht dieser Wolken war, dass es im Gegensatz zu dem normalen Licht Sigils wie echtes Sonnenlicht wirkte. Es verletzte also Wesen, die in der Sonne Schaden nahmen, wie zum Beispiel Vampire. Für alle anderen hatte das Licht der Wolken aber eine positive Wirkung: Sie fühlten sich ruhiger und hatten mehr innere Balance. Zudem heilte das Licht sogar kleinere Verletzungen. Auch als Anhängerin einer Mondgöttin wusste Dilae diese Wettererscheinung durchaus zu schätzen. Kurz vor dem Roten Löwen fiel ihr Blick am Stand eines halbelfischen Schnitzers auf eine kleine Vogelfigur. Obwohl nicht besonders filigran oder detailliert, war sie mit Sorgfalt und Liebe geschnitzt, ein einfaches, aber dennoch charmantes Schmuckstück für ein Regal oder einen Schreibtisch. Sie kaufte den Vogel als Geschenk für ihre Schwester und betrat dann das Gasthaus zum Roten Löwen, das der Freien Liga als eine Art inoffizielles Hauptquartier diente. Hier trafen sich regelmäßig die Bardin Bria und die Wemic-Geschwister Lethea und Lesander mit anderen wichtigen Mitgliedern. Insgesamt waren viele Hybriden wie Zentauren, Wemics oder Bariauren dort Gäste, daher gab es weniger Stühle als in anderen Gasthäusern und Tische in ungewöhnlichen Höhen. Auch viele Zimmer waren eher stall- oder höhlenartig. Das Gasthaus hatte zudem ein flaches Dach mit einer Landefläche und Unterkünften für fliegende Wesen. Generell zog die Taverne Reisende aus dem ganzen Multiversum an und war ein beliebter Treffpunkt für Abenteurer, wandernde Händler und alle, die auf der Suche nach einem guten Geschäft waren. Es war perfekt, um neue Kontakte zu knüpfen, Informationen auszutauschen und Abenteuergeschichten zu hören. Zudem war es der Ort, an dem man Bria Tomay oft spielen und singen hören konnte. Sie entstammte einer Familie in Sigil ansässiger Silberschmiede, hatte jedoch den Weg einer Bardin gewählt und kreierte auch gerne selber neue Saiten- oder Blasinstrumente. Natürlich hatte die Freie Liga keinen Bundmeister und Bria würde weit von sich weisen, eine solche Rolle zu spielen, und sei es nur inoffiziell. Dazu war die Liga viel zu freigeistig, lehnte die Bezeichnung Bund und das Amt von Bundmeistern zu entschieden ab. Doch Bria koordinierte die Unabhängigen der einzelnen Bezirke und die meisten Mitglieder sahen sie als eine an, die für sie sprechen konnte. Das machte sie durchaus zu einer Art inoffizieller Anführerin, eine Verantwortlichkeit, die sie sich mit den beiden Wemic-Zwillingen Lethea und Lesander teilte.
Und doch war Bria diejenige, die offenbar eine Rolle in der Ring-Prophezeiung spielte, als Sängerin der Dame, wie die Hüterin sie genannt hatte. Ob es der Bardin selber nun gefiel oder nicht, die Vorsehung hatte sie für jene Rolle auserwählt, die in anderen Bünden nun einmal die Bundmeister spielten: Rowan Dunkelwald als Truchsess der Dame, Hashkar als Richter der Dame, Darius als Kanzlerin der Dame und Mallin als Henker der Dame. All dies verbunden mit einer seltsam düsteren Strophe, die sich auf das künftige Schicksal der fünf zu beziehen schien. Da war Dilae dann doch wieder zufrieden damit, einfach eine Beschreibung ihrer Gabe erhalten zu haben, und ihre Rolle als Tänzerin war etwas, mit dem sie sich durchaus anfreunden konnte. Sehr passend natürlich zu Bria als Sängerin, im übertragenen wie auch im ganz konkreten Sinne. Sie fand die Bardin im hinteren Teil des Gasthauses. Bria hatte mit ihr, Tarik und Yelmalis reden wollen, allerdings ohne Garush und Sekhemkare. Dies war allerdings weniger den beiden Erwählten geschuldet als deren Bundmeistern Mallin und Rowan Dunkelwald, zu denen die Bardin nicht allzu herzlich stand. Tarik war bereits anwesend und saß gemeinsam mit Bria an einem der runden Tische. Der Träumer in der Prophezeiung – wie passend zu seinem Bund. Ebenso wie Yelmalis Bezeichnung der Denker geradezu auf einen Herrschner zugeschnitten schien. Garush war von Hüterin und Verkünder die Jägerin genannt worden, Sekhemkare hingegen der Rufer. Was auch immer ihnen das sagen mochte, so wussten sie nun zumindest zweifelsfrei, wer in den alten Schriften sie waren. Als Dilae näher trat, begrüßte Bria sie herzlich und auch Tarik schien erfreut, sie zu sehen. Nach der gemeinsamen Mission im Stock auf der Suche nach Eliath und dann auf der Eisebene, um Hüterin und Verkünder zu finden, war die Gruppe doch recht eng zusammengewachsen.
Die Dunkelelfe bestellte sich einen Becher Heldenmut, ein aus Ysgard stammendes Getränk, das aus Rotwein und schwarzem Kaffee gemischt und mit Vanille und Apfelstückchen verfeinert wurde. Es kam ein kurzes Gespräch über die Lichtwolken und die jüngste Sitzung in der Halle der Redner in Gang, doch schon kurz darauf traf dann auch Yelmalis ein – fünf Minuten zu spät, was für einen Herrschner eher ungewöhnlich war. Als er sich näherte, schien ein leichter Luftzug durch den Raum zu wehen.
„Der Segen der Dame“, grüßte er etwas gehetzt. „Bitte entschuldigt die Verspätung. Ich habe ein wenig unterschätzt, wie lange man braucht, um sich durch den Großen Basar zu … navigieren.“
„Ihr könnt ruhig sich durchzukämpfen sagen“, meinte Bria lachend. „Denn das beschreibt es absolut treffend. Und keine Sorge, es sind nur fünf Minuten. So genau nehmen wir das hier nicht.“
Der Luftgenasi lächelte etwas gezwungen, vielleicht ob der recht lockeren freiligistischen Auffassung von Pünktlichkeit, vielleicht auch, weil er sich hier im Roten Löwen ein wenig fehl am Platz fühlte. In der Tat passte er mit seinem korrekten, vornehmen Gehrock und den perfekt sitzenden Rüschen seines blütenweißen Hemdes nicht ganz ins Bild. Zwischen lachenden halbelfischen Abenteurern, zechenden Satyrn, Bariauren-Händlern und ausgelassenen Feenwesen war der junge Anwalt ein eher ungewöhnlicher Anblick. Tarik schmunzelte und machte ihm ein Zeichen, bei ihnen am Tisch Platz zu nehmen. Er nickte und verneigte sich tief vor Bria, ehe er sich setzte – auch dies ein Zeichen, dass der Große Basar nicht seine gewohnte Umgebung war, denn niemand, der wirklich hierher gehörte, behandelte die Bardin oder die Wemics wie eines der hohen Tiere Sigils – auch wenn sie es ihrem Einfluss nach gewiss waren. Bria quittierte es mit einem erheiterten Nicken, während der Luftgenasi seinen blauen Dreispitz abnahm und neben sich auf die Bank legte.
„Wo ist denn dein putziger Monodron?“, wollte Dilae wissen. „F-5 oder F-45? Ich vergesse das immer ...“
„Sein voller Name ist F45-74Rg-34“ erwiderte Yelmalis lächelnd. „Aber kurz F45, ja. Ich habe ihn lieber daheim gelassen. Diese ganze Getümmel hier auf dem Großen Basar … Ich weiß nicht, nicht dass er verloren gegangen wäre.“
„Schade“, meinte Dilae. „Der ist einfach so süß. Jetzt wo er nicht da ist, kann ich das ja sagen, ohne dass wieder die Bemerkung über die Beschaffenheit seiner Außenhülle kommt.“
Bria lachte herzlich. „Ja, das klingt nach einem Modron. Wir freuen uns auf jeden Fall, dass Ihr da seid, Yelmalis. Wo kommt Ihr gerade her?“
„Von einer Mandantin“, erklärte der Genasi. „Jana Wetter.“
Er hob dabei vielsagend seine weißen Augenbrauen und Dilae pfiff leise durch die Zähne. „Jana Wetter? Ist das nicht eine von der anderen Erwählten-Gruppe? Die Athar, oder?“
„Ganz recht.“
Der Luftgenasi nickte und Dilae bemerkte nun einen Schmetterling, der ihn umflatterte: Ein dunkelblauer Falter, der sich ab und an auf seinem Revers niederließ und dann wieder eine Runde flog. Sie wusste, dass es sich nicht um ein echtes Tier handelte, sondern um eine elementare Erscheinung, ein Teil seines Genasi-Erbes. Es war Dilae bekannt gewesen, dass Genasi, die von so genannten Kami abstammten, ab und an von Erscheinungen oder Tieren umgeben wurden, die zu ihrem Element passten. Es war jedoch eine eher seltene Erscheinung und sie hatte bis jetzt keinen Genasi kennen gelernt, bei dem dies der Fall gewesen war. Er selber schien den Schmetterling gar nicht wahrzunehmen, obgleich er sich immer wieder auf seinen Schultern und Ärmeln niederließ.
Bei der Erwähnung von Jana Wetter hatte auch Tarik sich interessiert vorgebeugt. „Und warum vertrittst gerade du sie, wenn ich so neugierig fragen darf?“
„Es handelt sich um einen offiziellen Bund-Auftrag“, erklärte Yelmalis bereitwillig. „Eine Art versöhnliche Geste von Hashkar an die andere Erwählten-Gruppe.“
Bria nickte wissend – sie war wohl über diese Tatsache bereits im Bilde. Nach dem, was Mallin sich gegenüber den anderen Erwählten herausgenommen hatte, konnte Dilae diese Bemühungen von Seiten Bundmeister Hashkars gut nachvollziehen. Sowohl die Herrschner als auch die Gnadentöter waren politisch eng mit dem Harmonium alliiert, und der kluge, besonnene Zwerg wollte gewiss kein böses Blut zwischen ihnen und Sarin. Dass diese Geste des Entgegenkommens nun beinhaltete, gerade eine Athar zu verteidigen, barg natürlich im Angesicht von Sarins Paladinstatus eine gewisse Ironie.
„Wusste sie denn, wer du bist?“, fragte Dilae.
„Ich war ihr bis dahin noch nicht begegnet“, meinte Yelmalis. „Aber Garush hatte ihnen ja von mir erzählt und somit wusste sie, wer ich war, als ich mich vorstellte. Ich sagte, ich würde sie vertreten, gesetzt, sie wünsche es und hätte noch keinen anderen Anwalt. Wie sich herausstellte, hätte sie von ihrem Bund zwar durchaus einen Anwalt bekommen, doch es stand noch niemand konkret fest. Daher entschloss sie sich, sich von mir verteidigen zu lassen. Sie fragte mich, ob ich eine Strategie hätte.“ Nun musste er etwas schmunzeln, so als sei diese Frage recht abwegig gewesen. „Ich riet ihr, bei der Wahrheit zu bleiben, da es einen Zeugen für die Tat gibt. Ironischerweise der Soldat Kiyoshi, der auch einer der Erwählten ihrer Gruppe ist. Er hatte sie auch verhaftet.“
Dilae schüttelte den Kopf. „Der hat eine der eigenen Leute verhaftet? Da seht ihr es wieder, wie die spinnen, diese Dickschädel.“
Yelmalis runzelte die Stirn. „Sie hat klar gegen die Gesetze Sigils verstoßen. Kiyoshi hat nur seine Pflicht erfüllt.“
Die Dunkelelfe setzte schon zu einer Erwiderung an, doch Bria legte ihr sacht eine Hand auf den Arm. Dilae vermochte ihren begütigenden Blick richtig zu deuten: Dies war nicht die passende Gelegenheit, sich wegen bund-philosophischer Fragen in die Haare zu bekommen.
„Und wie lautet die Anklage?“, wollte Tarik nun wissen.
„Grobe Schmähung von Gottheiten“, erklärte Yelmalis. „In Tateinheit mit Beschmutzung geheiligter Stätten und Erregung öffentlichen Ärgernisses. Sie fragte mich, womit sie öffentliches Ärgernis erregt haben sollte. Alles, was man beweisen könne, sei, dass sie einen Wasserfall gemalt habe und das sei ja wohl keine grobe Schmähung von Gottheiten. Sie war … recht aufgebracht.“
Tarik schmunzelte. „Und was hast du gesagt?“
„Dass ich die Anklage nicht erhoben, sondern ihr nur mitgeteilt hätte, wie sie lautet.“ Der Luftgenasi hob die Hände, in einer Geste, die unterstrich, dass er ihre Aufregung nicht ganz verstanden hatte. Inzwischen waren es schon zwei Schmetterlinge, die ihn umschwebten, ein blauer und ein weißer. „Ich erklärte, dass das Beschmieren von Tempeln in Sigil als Erregung öffentlichen Ärgernisses gesehen wird, weil die Öffentlichkeit im Tempeldistrikt über so etwas nun einmal verärgert ist. Sie gab dann zu, dass es unüberlegt war, gerade die Wand eines Tempels zu nehmen, aber es sei ihr eben passend erschienen. Sie fragte mich, wie die Verhandlung ablaufen würde, und ich erklärte ihr, dass sie wird aussagen müssen, dass man Zeugen aufrufen und ihr Fragen stellen wird. Ob sie die Tat zugibt, nach der Motivation für die Tat. Das Übliche eben. Ich werde sie natürlich nach besten Möglichkeiten verteidigen.“
Bria nickte sacht. „Könnt Ihr abschätzen, wie das Urteil lauten wird?“
„Das kann ich leider nicht voraussehen“, meinte der Genasi. „Jedoch gibt es einen bestimmten Rahmen, in dem sich das Strafmaß in einem solchen Fall bewegen kann. Eine Geldbuße kommt in Frage. Wahrscheinlich wird das Gericht darauf aber nicht abzielen, weil in solchen Fällen gerne der Bund bezahlt, nicht das Individuum. Eine Gefängnisstrafe wäre möglich, allerdings habe ich das Gefühl, dass Bundmeister Terrance vielleicht im Vorfeld ein paar Stränge gezogen hat, um das zu unterbinden. Möglich wäre auch, dass sie ihre Schmierereien selbst entfernen muss oder eine Ehrenstrafe am Pranger. Eine Brandmarkung halte ich eher für unwahrscheinlich, da es ihre erste Tat in dieser Richtung ist.“
Er legte es in all der trockenen Neutralität eines Anwaltes dar, aber Dilae verzog kurz das Gesicht. So sehr ihr als Priesterin der Eilistraee widerstrebte, was Jana getan hatte, so hielt sie die Gesetze Sigils doch in vielen Fragen für zu restriktiv und zu extrem. Ein Seitenblick zu Bria und Tarik verriet ihr, dass die beiden wohl ähnlich empfanden.
„Sie fragte dann noch, ob die bisherige Haftzeit auf das Urteil angerechnet würde“, fuhr Yelmalis sachlich fort. „Und sie meinte, sie würde gerne erschwerte Haftbedingungen anführen, weil sie in der Kaserne immerhin ständig von Paladinen und Klerikern umgeben sei. Aber ich glaube, das meinte sie nicht ganz ernst.“
„Sie ist eine Athar“, entgegnete Dilae grinsend. „Das hat sie bestimmt ernst gemeint.“
„Mag sein“, gab Yelmalis erheitert zu. „Ich sagte ihr aber, dass ich im Gegenteil den Eindruck hatte, dass sie aufgrund ihrer … Beziehungen in der Kaserne recht sacht angefasst wird. Das räumte sie auch ein.“ Es umflatterten ihn nun drei Schmetterlinge, ein weißer, ein blauer und ein weißer mit zwei blauen Flecken. „Sie wird nun auf Kaution entlassen, mit der Auflage, Sigil bis zur Verhandlung nicht ohne ausdrückliche Erlaubnis zu verlassen. Diese wird erst im Verlauf von Nihilum sein.“
„Also, das ist schon eine recht schräge Sache“, meinte Tarik. „Aber … wir haben uns doch nicht hier getroffen, um über die Untaten dieser Athar zu sprechen, oder?“
„Das stimmt, aber die Geschichte war auch interessant“, stellte Bria lachend fest. „Doch Ihr habt Recht, das ist nicht der Grund.“ Sie sah nun zu Dilae, wie um ihr unausgesprochen das Wort zu erteilen.
Die Dunkelelfe seufzte leise und stellte ihren Becher mit Heldenmut ab. „Ja, ich muss euch etwas erzählen. Ich kenne sowohl Naghûl als auch Sgillin, wenn auch nur flüchtig.“
„Du meinst … unabhängig von der Prophezeiung?“, fragte Tarik vorsichtig.
„Genau. Naghûl und ich kannten uns schon vor dieser Sache. Aber ich hatte mir seinen Nachnamen damals nicht gemerkt und Sgillin hat gar keinen, daher war ich nicht sicher, ob es sich überhaupt um die zwei handelte, als die Namen das erste Mal fielen. Aber Naghûl und Sgillin, Tiefling und Halbelf, der Tiefling ein Sinnsat … die Chance war schon sehr groß. Ich habe eine Weile überlegt, ob ich es überhaupt erzählen soll. Aber wir haben viel zusammen durchgemacht und ich denke, zu viele Geheimnisse voreinander zu haben, wird uns am Ende mehr schaden als nutzen.“
Yelmalis nickte ernst. „Das sehe ich auch so.“
„Ja, und vor wenigen Tagen, da kam Naghûl auf mich zu und bat mich um ein Treffen. Er meinte, meine Religion, meine Bundzugehörigkeit und auch ich als Person weckten deutlich mehr Vertrauen in ihm als die Gnadentöter oder das Prädestinat.“
Bria schmunzelte. „Wer kann es ihm verdenken?“
Tarik setzte eine unschuldige Miene auf und selbst Yelmalis, obgleich Mitglied der Triade der Ordnung, schien dieses Argument nachvollziehen zu können.
„Ja, er hat vor allem Vorbehalte gegenüber Garush und Sekhemkare – ihrer Bünde wegen“, bestätigte Dilae. „Das Harmonium wiederum ist der Grund, warum wir in der Freien Liga auf eine Zusammenarbeit nicht scharf sind. Und die Zeichner können derzeit nicht so gut mit den Athar. Irgendwie alles eine ungute Konstellation.“
Bria nickte. „Persönlich bin ich auch nicht so wild auf den Roten Tod, aber Garush ist in Ordnung. Natürlich abgesehen davon, dass die alle spinnen bei denen.“ Sie grinste ein wenig.
„Für eine Amazone ist sie recht abgeklärt“, meinte Tarik erheitert. „Na ja, muss sie wohl sein, wenn sie einen Mann als Vorgesetzten akzeptiert. Mallin ist mir allerdings irgendwie noch immer unheimlich.“
„Aber was war denn nun Gegenstand eures Treffens?“, kam Yelmalis auf das eigentliche Thema zurück.
„Naghûl hat im Grunde ein ganz ähnliches Problem wie wir“, erklärte Dilae. „Dass wir nicht wissen, was die Erfüllung der Prophezeiung überhaupt sein soll. Wir haben uns die Frage gestellt, ob wir mehr im Interesse der Prophezeiung oder in dem unserer Bünde handeln sollten. Ich bin da natürlich nicht die objektivste Ansprechpartnerin, weil ich sowieso finde, dass die Bünde zu viel Macht und Einfluss in Sigil haben.“ Sie zwinkerte Tarik und Yelmalis zu und lächelte entschuldigend. „Deswegen hatte Naghûl sich auch an mich gewendet. Weil ich niemandem Rechenschaft schuldig bin. Weil ich selber entscheiden konnte, mit ihm zu reden oder nicht zu reden. Das Gespräch ging in die Richtung, dass wir nicht wissen, ob die Zusammenstellung der Gruppen, so wie sie sich im Moment darstellt, überhaupt richtig ist.“
Das war nicht gelogen, denn diese Fragen hatten sie sich wirklich gestellt und darüber gesprochen. Sie erwähnte jedoch nicht, dass sie und Naghûl eine Abmachung getroffen hatten: sich gegenseitig Warnungen auszusprechen, sollte ihnen klar werden, dass Teile ihrer jeweiligen Gruppen einander gefährdeten, ob bewusst oder unbewusst. Der Vorschlag war von Naghûl gekommen, doch Dilae hatte den Gedanken nicht schlecht gefunden. Denn immerhin konnte es ja sein, dass sie am Ende doch alle irgendwie würden zusammenarbeiten müssen. Ob diese Unterhaltung und Abmachung ganz richtig waren, dessen waren sie sich beide nicht sicher gewesen. Sie hatten einander versprochen, dass dieses Arrangement unter ihnen bleiben würde, nur Erin und Bria sollten vorerst davon erfahren. Doch zumindest, und das erleichterte ihr Gewissen doch um einiges, hatte sie den anderen nun nicht alles vorenthalten. Denn früher oder später würden ihnen jegliche Geheimnisse auf die Füße fallen, dessen war sie sicher. Sie griff nach ihrem Becher und nahm einen tiefen Schluck, während die anderen ihre Gedanken aufnahmen und über die Frage sprachen, ob die Erwählten-Gruppen denn so überhaupt richtig aufgeteilt waren. Schließlich gab es ja auch noch eine dritte Gruppe, wenngleich deren Zusammenstellung auf den ersten Blick stimmiger erschien. Doch ob es nun richtig war oder nicht, sie konnten nur vermuten. Erst die Zeit würde ihnen mehr enthüllen, und wahrscheinlich würde ihnen nichts anderes übrig bleiben als sich zu gedulden, bis es soweit war.
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basierend auf dem Rollenspiel mit Naghûls Spieler am 6. November 2012 und mit Janas Spieler am 15. November 2012




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