„Serienmörder. Dieses Wort schürt Urängste - und gerade deshalb rücken Serienmörder in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses.
Sie inszenieren ein Drama, an dem nur sie selbst freiwillig teilnehmen. Und aufgeführt wird immer dasselbe Stück: die Verstümmelung der Humanität und ihrer Spielregeln. “
Killeen Caine, Abhandlung über Serienmörder
Erster Markttag von Zentrus, 126 HR
Der Regen klopfte mit leisen Fingern an die Scheiben der Kutsche, die Ambar und Lereia zur Sandsteinstraße brachte. Es war bereits später Nachzenit und das Wetter schon seit dem Ersten Licht trüb, so dass in vielen Häusern Licht brannte. Sie hatten während der Fahrt nicht viel gesprochen, da die ernsten Themen der vergangenen Tage wie ein dunkler Schleier über ihnen lagen. Da war zum einen die Sache mit Sgillin, zum anderen die Prophezeiung, die wahrlich nichts Gutes für die Zukunft verhieß. Und schließlich gab es auch noch die beiden Bilder aus Janas letzter Vision: die Bestattung von Arella Silberblick, der ehemaligen Bundmeisterin des Harmoniums und der Mann mit dem blutigen Dolch und dem irrsinnigen Blick. Als Lereia ihm von den schwarzen Eichenblättern in der Vision berichtet hatte, war Ambar das Herz gesunken. Eine dunkle, schreckliche Befürchtung war in ihm aufgekeimt wie eine giftige Blume. Noch hegte er die winzige Hoffnung, dass seine Ängste übertrieben sein mochten. Doch letztlich konnte nur Lereia seine bange Frage mit Sicherheit beantworten, da Jana ihre Vision mit den anwesenden Erwählten geteilt hatte. Und nur aus diesem Grund allein nahm er die junge Frau nun mit in das Haus der Vorboten, was er ihr ansonsten gerne erspart hätte. Es war seit langer Zeit eine Einrichtung seines Bundes, und doch war es vielen Mitgliedern suspekt und unheimlich, ihm selbst nicht zuletzt. Man mochte es wohl eine Mischung aus einer Pension, einem Spital und einem Gefängnis nennen – eine schmeichelhaftere Umschreibung fiel ihm beim besten Willen nicht ein. Sein Bund, die Gläubigen der Quelle, brachte dort Personen unter, deren Funken bereits so stark war, dass sie kurz vor dem Göttlichen Aufstieg standen. Dies geschah zum einen, um mehr über den Aufstieg an sich zu erfahren, der ja der Kernaspekt der Bundphilosophie war. Zum anderen waren die Insassen des Hauses oft labil und somit zu gefährlich, um sie unbeaufsichtigt zu lassen. Von der Bruderschaft der Ordnung abgesegnet, in den Gesetzen Sigils verankert, betrieb sein Bund somit das sogenannte Haus der Vorboten, um werdende Mächte zu beobachten und auch zu bewachen. Obgleich diese Aufgabe wie für seinen Bund geschaffen war, so verursachte das Haus vielen Mitgliedern ein gewisses Unbehagen. Es gab zahllose Gerüchte darüber, wer darin lebte, und obgleich die Wachen und das Personal zur Verschwiegenheit verpflichtet waren, so sickerte natürlich doch hier und dort etwas durch. Das Haus der Vorboten war somit zwar eine mysteriöse, aber wichtige Einrichtung des Bundes, aber dennoch hätte er Lereia nicht hierher gebracht, hätte er ihr nicht etwas zeigen müssen.
Da der Regen nachließ, gab Ambar der Kutscherin ein Zeichen, anzuhalten, auch wenn sie noch etwa zweihundert Schritt von ihrem Ziel entfernt waren. Doch er wollte das letzte Stück Weg lieber zu Fuß zurücklegen, um Lereia und auch sich selbst geistig auf den anstehenden Besuch einzustimmen. So gingen sie langsam durch die nicht allzu breite Gasse, die zum Eingang des Hauses der Vorboten führte. Nur noch ein leichtes Nieseln fiel auf die Stadt der Türen herab, doch es blieb kühl und feucht genug, dass sie froh um ihre Mäntel waren.
Noch einige Dutzend Schritt vom Haus entfernt blieb Lereia stehen. „Ist es hier?“ Sie sah sich beklommen um. „Es wirkt so düster und verlassen.“
„Ja, wir sind fast da“, bestätigte Ambar. „Ich weiß, es ist keine sehr einladende Gegend. Manche schieben das auf den Einfluss des Hauses. Andere sagen, das Haus steht hier, weil die Gegend so ist.“
Lereia nickte und warf ihm einen kurzen Blick zu. „Ich hoffe, Ihr seid in solchen Gegenden … nicht in Gefahr?“
„Normalerweise nicht“, erklärte er mit einem leichten Schmunzeln.
Dass sie sich um seine Sicherheit sorgte, war reizend, sprach aber auch davon, dass sie noch nicht allzu lange Mitglied des Bundes war. Die Seinen wussten, dass er in Sigil des Öfteren alleine und zu Fuß unterwegs war, auch in Gegenden, in die manch andere Bundmeister, Faktoren oder Goldene Lords sich nicht begeben würden. Er teilte diese Angewohnheit mit Kollegen wie Terrance, Karan, Rhys oder Lhar, in der Überzeugung, dass ein Bundmeister Sigils sich ohnehin nirgends ohne ein gewisses Risiko aufhalten konnte.
Lereia lächelte, wenngleich etwas zögerlich. „Da bin ich beruhigt“, meinte sie und folgte ihm dann weiter durch die Gasse.
Sie näherten sich ihrem Ziel, dem einige Stockwerke hohen, turmartigen Haus, das sogar innerhalb des Bundes oft nur geflüstert erwähnt wurde. Dunkel waren die Wände gestrichen, schwarz gedeckt war das Dach. Die Fenster leuchteten hell, wie Augen, die in die Stadt hinein starrten. Etwas Unheimliches umgab dieses Gebäude stets, etwas nicht Greifbares, das einem Schauder über den Rücken jagte. Auch Lereia spürte es offenbar, denn wie unwillkürlich zog sie ihren Umhang enger um die Schultern und schloss dichter zu ihm auf. Dann blieb er stehen, bei den Bäumen die seit jeher das Haus der Vorboten umgaben. Es handelte sich um Eichen, fast abgestorben, wie Klauenhände in den Himmel ragend ... Aber das Laub, das sie noch trugen, war pechschwarz. Als Lereia die Bäume erblickte, blieb sie stehen und richtete den Blick starr nach oben.
„Der einzige Ort in Sigil, von dem ich Eichen mit schwarzem Laub kenne“, erklärte Ambar mit gedämpfter Stimme. „Entsprechen die Blätter denen in der Vision?“
Lereia nickte, sehr langsam, noch immer starrte sie nach oben. „Ja.“ Sie klang fast heiser und räusperte sich. „Ja, ich schätze das tun sie.“
Ambar konnte ihr Unbehagen gut nachvollziehen. Auch er hatte sich in der Nähe dieser Bäume noch nie wohl gefühlt. Etwas an ihnen war … falsch, und sowohl der Waldläufer in ihm als auch sein elfischer Teil spürten dies mit unangenehmer Intensität.
„Na gut“, meinte er leise. „Dann gehen wir hinein und sehen, ob sich meine Befürchtungen bewahrheiten ...“
Lereia riss ihren Blick von den Bäumen los und sah ihn an. „Was darf man in dem Haus erwarten?“, erkundigte sie sich vorsichtig.
„Lasst Euch überraschen.“ Ambar war sich bewusst, dass sein Lächeln wahrscheinlich etwas gezwungen wirkte. Und dass dies auf die junge Frau irritierend wirken mochte, da er ansonsten entweder tatsächlich locker und entspannt war oder aber seine Emotionen besser verbergen konnte.
Lereia musterte ihn denn auch nachdenklich, nickte dann aber stumm und folgte ihm, fast eilig, als er sich wieder in Bewegung setzte. Als sie sich dem Eingang zum Haus der Vorboten näherten, verbeugten sich die beiden Wachen, die dort standen, tief.
„Bundmeister Ambar“, grüßte einer von ihnen, ein älterer Zwerg. „Welch große Ehre! Ihr kommt, um Trolan einen Besuch abzustatten?“
„Heute nicht“, verneinte der Barde. „Ich führe Lereia hier ein wenig herum, um sie mit dem Haus vertraut zu machen.“
Die junge Frau hielt sich zurück und lauschte dem Gespräch, während der Zwerg sie fast mitleidig musterte. „Ah, na dann. Viel Erfolg.“ Er verneigte sich abermals und trat ein Stück von der Tür weg.
Lereia nickte leicht bei den Worten des Wächters und versuchte, dabei freundlich zu lächeln, doch es war ihr anzusehen, dass sie sich mit jedem Schritt unwohler fühlte. Eine kurze Welle des Bedauerns schwappte über Ambar hinweg, ein schlechtes Gewissen, dass er die junge Frau mit hierher nahm, um Dinge … Personen zu sehen, von denen er sie gewiss lieber fern gehalten hätte. Doch Janas Vision hatte seine dunkelsten Befürchtungen geweckt, und leider konnte innerhalb des Bundes alleine Lereia ihm sagen, ob sie gerechtfertigt waren oder nicht. So drückte er die unerwünschten Gefühle nieder und trat an die Tür heran. Er holte aus einer Gürteltasche eine Kugel, die wie aus dunklem Stein gefertigt aussah und genau auf seine Handfläche passte. Dann hielt er sie in der ausgestreckten Hand hoch, und als er sie in die Nähe des Eingangs brachte, begannen in ihrem Inneren blaue Schlieren zu wabern. Das Schloss machte klick und die Tür öffnete sich. Ambar trat ein, und obgleich er Lereia andernfalls höflich den Vortritt gelassen hätte, beschloss er, dass es in diesem Fall angemessener war, wenn er zuerst in das Haus ging. Sie folgte ihm eilig, aber beklommen. Dann fanden sie sich in einem kleineren Vorraum wieder, der schlicht, ja spärlich eingerichtet war. In ein paar in die Wände eingelassenen Steinschalen spendeten magische Kristalle Helligkeit, wenngleich das Licht eher gedämpft blieb. An einer Wand stand eine Holzbank für wartende Besucher, an einer anderen ein Bücherregal und ein kleiner Tisch mit einer Wasserkaraffe und einigen Gläsern. Während Lereia sich umsah, verstaute Ambar die Kugel sorgfältig wieder in der Gürteltasche.
„Das ist die Planaritas“, erklärte er. „Sie ist ein Schlüssel, aber kein gewöhnlicher. Sie hat die Macht, alle normalen Türen sowie alle Portale im Haus der Vorboten zu öffnen. Sie befindet sich immer im Besitz unseres jeweiligen Bundmeisters.“
Interessiert hatte Lereia die dunkelblaue Kugel betrachtet und nickte nun verstehend. „Sie ist nur für das Haus der Vorboten gedacht?“
„Ja“, bestätigte Ambar. „Und sie ist einer der wenigen Gegenstände, die als Schlüssel für mehrere oder gar viele Portale auf einmal wirken. Wir glauben, dass sie auch eine Schlüsselrolle beim Letzten Aufstieg spielt. Um zu einer göttlichen Macht zu werden.“
„Als metaphorischer Schlüssel dafür?“, wollte Lereia wissen.
„Wir sind nicht ganz sicher, aber wahrscheinlich ist es mehr als nur metaphorisch ... sondern sehr konkret.“
Sie nickte, offenkundig sowohl interessiert als auch fasziniert. „Wurde sie schon einmal dafür benutzt?“
„Ich weiß es nicht genau“, erwiderte er. „Aber ich glaube, meine Vorgängerin Curran hatte sie bei ihrem Aufstieg bei sich. Es war niemand dabei, aber nach dem, was wir rekonstruieren konnten.“
Lereia lächelte. „Dann ist die Planaritas bei Euch mit Sicherheit am besten aufgehoben. Was ist, wenn jemand anderes aufsteigen würde und sie nicht bei sich trägt? Werdet Ihr das spüren?“
Er musste lachen, konnte aber nicht verhindern, dass sich ein Anflug von Verlegenheit beimischte. Sie schien anzunehmen, dass er mit dem Göttlichen Aufstieg mehr Erfahrung hatte als es tatsächlich der Fall war, und dieses Zutrauen ihrerseits beschämte ihn fast ein wenig. „Das weiß ich nicht, Lereia“, erwiderte er aufrichtig. „Ich habe auch noch nicht so viel Erfahrung mit Sterblichen, die zu Göttern aufsteigen. Auch in unserem Bund passiert das wirklich selten. Aber es geht auch ohne die Planaritas, sonst hätten ja nie Halbgötter außerhalb unseres Bundes entstehen können. Allerdings unterstützt sie den Vorgang anscheinend.“
Obgleich sie sich im Inneren des Hauses offenbar noch unbehaglicher fühlte als draußen auf der Straße, schenkte Lereia ihm ein offenes Lächeln. „Verzeiht, wenn meine Fragen zu absurd sind. Ich versuche nur, so viel wie möglich zu lernen, wenn ich schon die Ehre habe, die Gegenwart meines Bundmeisters zu genießen.“
So schmeichelhaft die Bemerkung auch war, ließ sie Ambar doch wieder ein wenig ernster werden. „Hoffen wir, dass es auch in Zukunft eine Ehre bleibt“, meinte er. „Und nicht durch die Ereignisse, die uns im Moment jagen, zu einer Belastung wird.“
„Das wird es niemals werden, Bundmeister“, erwiderte Lereia ernsthaft.
Er nickte, senkte aber kurz den Blick, um die Sorge, die ihn für einen Moment überspülte, zu verbergen. Dann sah er sie wieder an. „Es ist schön, dass Ihr so positiv in die Zukunft schaut.“
Sie lächelte. „Wenn ich eines bisher gelernt habe, so ist es, dass negative Gedanken niemandem etwas bringen. Eher sind sie Stolperfallen. … Ich weiß, das klingt naiv.“
„Die Zeichner würden Euch rundheraus zustimmen“, erwiderte Ambar schmunzelnd. „Aber es ist auch für unseren Bund eine gute Einstellung, nehme ich an. Und Ihr habt Recht: Wir dürfen uns nicht schon jetzt herunterziehen lassen. Denn wahrscheinlich erwarten uns noch größere Aufgaben, und dann müssen wir bereit sein.“
Sie legte den Kopf leicht schief und sah ihn besorgt an. „Ihr fühlt Euch unwohl, seit auch Ihr etwas über Eure Bestimmung erfahren habt, oder?“
Es sprach für ihre Menschenkenntnis, dass er seine Gefühle nicht ganz vor ihr verbergen konnte. Aber es brachte ihn auch in die Lage, diese Empfindungen eingestehen zu müssen. Doch sie steckten gemeinsam in dieser Sache, warum also so tun, als wäre nichts? So nickte er seufzend.
„Das trägt auch dazu bei, ich gebe es zu. Erst dieses Bild in Janas Vision und dann die merkwürdigen Worte des Verkünders ... ein paar Gedanken mache ich mir schon darüber.“
„Ihr wurdet damit auch ins kalte Wasser geworfen“, stellte Lereia mitfühlend fest. „Wir anderen hatten bisher schon einige Zeit, uns daran zu gewöhnen und in diese Rollen zu wachsen. Was mir dabei immer geholfen hat, war der Gedanke, dass ich nie alleine bin. Und das seid Ihr auch nicht.“
„Nein, natürlich nicht.“ Er erwiderte ihr fast schüchternes Lächeln, doch ihm war bewusst, dass es einen melancholischen Beiklang hatte, der in auffälligem Gegensatz zu seiner sonstigen Unbeschwertheit stand.
Es fiel ihr natürlich auf, denn sie streckte die Hand aus und berührte sacht seine Schulter. „Ich weiß, es ist anmaßend und steht mir nicht zu, da Ihr eine so große Person seid. Aber wenn ich Euch irgendwie helfen, ablenken oder unterstützen kann, lasst es mich bitte wissen.“
Er blickte etwas überrascht auf ihre Hand, dann wurde sein Lächeln wieder offener. „Oh bitte, ich bin keine so große Person“, schwächte er ab. „Ich danke für Euer Angebot, Lereia. Aber Vorsicht, möglicherweise komme ich darauf zurück.“
Er zwinkerte ihr zu, und sie nickte erfreut, als er wieder der war, den sie kannte. „Jederzeit.“
Erst dann zog sie ihre Hand rasch wieder zurück. Über die kurze, scheinbar harmlose Geste, die doch inniger wirkte als vielleicht beabsichtigt, konnte er sich jedoch keine Gedanken mehr machen, da nun eine Stimme hinter ihnen ertönte. „Oh, Ambar.“
Der Barde erkannte ihn natürlich sofort. Trolan. Der Tiefling, der durch eine der Türen trat, hatte schulterlanges, weißes Haar und kräftige, nach hinten gebogene Hörner. Er war außerordentlich attraktiv, sein Blick und sein Wesen offen und freundlich. Er strahlte etwas durch und durch Liebenswertes aus, seine Gegenwart schien zu beflügeln und wie immer hatte Ambar spontan das Gefühl, er müsste ihn umarmen - einfach nur, weil er eine so mitreißende Ausstrahlung hatte. Ein Seitenblick zu Lereia verriet Ambar, dass es ihr ebenso ging, denn sie neigte freundlich grüßend den Kopf und musterte den Tiefling fasziniert.
„Der Segen der Dame, Trolan“, grüßte Ambar ihn freundlich. „Wie geht es dir?“
„Es geht mir gut, Ambar.“ Sein Lächeln ließ selbst in Sigil die Sonne aufgehen und nun, wo er näher kam, waren auch seine Augen besser zu erkennen, die in allen Farben des Regenbogens strahlten.
Obwohl Ambar schon seit vielen Jahren um die spezielle Ausstrahlung des Tieflings wusste, schon bei zahlreichen Treffen erfahren hatte, wie sie wirkte, so konnte er sich ihr dennoch nie ganz entziehen – noch wollte er es, was wohl ebenfalls Teil von Trolans besonderer Aura war.
„Ich würde mich wirklich gerne unterhalten“, versicherte er ihm. „Aber leider bin ich dienstlich hier.“
Trolan lächelte bedauernd, aber unvermindert freundlich. „Das finde ich sehr schade. Aber du stellst mir wenigstens deine entzückende Begleiterin vor, oder?“
Die junge Frau sah etwas verlegen zu Boden, doch Ambar nickte. „Aber natürlich. Dies ist Lereia von Silbertal. Sie ist erst seit ein paar Monaten Mitglied, aber sehr engagiert, daher möchte ich ihr das Haus der Vorboten zeigen.“
„Es freut mich sehr, Euch kennen zu lernen“, sagte sie und neigte leicht den Kopf in Trolans Richtung.
„Oh, Ambar, das ist aber nicht gerade eine Belohnung.“ Der Tiefling grinste kurz und zwinkerte Lereia zu. „Die Freude ist ganz auf meiner Seite, meine Taube.“
Er verneigte sich und Lereia lächelte auf seine Worte hin, wenngleich sie dabei wieder etwas verlegen wirkte und Trolan zugleich fasziniert musterte. Ambar wusste aus eigener Erfahrung, wie sie sich fühlte. Wenn er sich ein paar Minuten in Trolans Gegenwart aufhielt, hatte er stets das Gefühl, als würde sein Inneres von einem süßen Frieden durchströmt. Wäre sein Geist ein Garten, würden dort in Trolans Gegenwart überall Blumen erblühen, und genauso fühlte es sich offensichtlich auch für Lereia an.
„Was genau willst du ihr zeigen?“, erkundigte der Tiefling sich.
„Erzähle ich dir bei meinem nächsten Besuch.“ Ambar lächelte entschuldigend. Er wies Trolan nicht gerne ab, denn er war der bei weitem angenehmste Gesprächspartner im Haus der Vorboten. Doch diesmal war er aus einem anderen Grund hier.
„Na gut, dann will ich euch nicht länger aufhalten.“ Der Tiefling wirkte fröhlich und unbekümmert wie zumeist. „Ich wollte sowieso gerade etwas essen gehen. Der Segen der Strahlenden und Schönsten, der Herrin des süßen Vergnügens. Der Segen der Dame, Ambar.“
Diese Verabschiedung ließ den Barden trotz Trolans einnehmender Aura zusammenzucken und versetzte ihm einen scharfen Stich des Unbehagens. „Trolan“, setzte er an. „Du weißt doch ...“
Der Tiefling hob abwehrend die Hände. „Ich bin schon still.“ Dann verneigte er sich und ging unbeschwert seiner Wege.
Lereia blickte ihm einen Moment nach und sah dann fragend zu Ambar.
„Er ist einer der Insassen hier“, erklärte der Barde. „Eine werdende Macht.“
„Ein Insasse?“ Überrascht hob sie die Brauen. „Ich hätte eher auf einen Aufseher getippt. Was ist seine besondere Fähigkeit? Die Aura, die ihn umgibt?“
Ambar lächelte. „Die Insassen hier im Haus der Vorboten sind sehr verschieden. - Ja, diese Wirkung, die er auf uns ausübte. Er erweckt Gefühle von Frieden und Freundschaft und hat auch ein paar Fähigkeiten, die damit zusammenhängen. Wenn ich raten soll, könnte er eine Gottheit der Liebe und des Friedens werden.“
„Das könnte ich mir auch gut vorstellen.“ Lereia warf noch einen faszinierten Blick in die Richtung, in die der Tiefling verschwunden war. „Ich bin nun doch sehr gespannt auf die Personen, die hier leben.“
Ambar nickte, wieder ein wenig ernster, als er spürte, wie die Wirkung von Trolans Aura allmählich verflog. „Kommt, ich zeige Euch jene, die möglicherweise für das Bild, das Ihr in der Vision saht, in Frage kommen.“
Er verließ den Eingangsraum durch die gegenüber liegende Tür und Lereia folgte ihm. Nachdem er einem längeren, nur spärlich beleuchteten Gang bis zu seinem Ende gefolgt war, bog er rechts ab, in einen weiteren Flur, kürzer, aber dafür breiter. An einer der Türen dort blieb er stehen, öffnete aber nicht. Es gab eine kleine Luke, die man zurückschieben konnte, und Ambar öffnete sie vorsichtig, so gut wie lautlos. Als er einen kurzen Blick hindurch warf, sah er, was er erwartet hatte: einen mittelgroßen, eher hageren Menschen mit dunklem Haar, der an einem der vielen Bücherregale im Raum stand. Dann nahm er eines der Bücher, drehte sich um und ging zu einem Sessel, in dem er sich niederließ, um zu lesen. Ambar trat ein Stück beiseite, um nun Lereia in den Raum sehen zu lassen. Ihm fiel auf, dass sie sich fast auf die Zehenspitzen stellen musste, um durch die Luke blicken zu können. Verwundert runzelte sie die Stirn, und Ambar nickte wissend, denn ihm war natürlich bekannt, was sie sah: Bei genauerer Betrachtung bemerkte man, dass der Mann im Zimmer gar keinen wirklichen Mantel trug ... Das Kleidungsstück schien sich zu bewegen und man konnte erkennen, dass es aus mehreren schattigen Wesen bestand, die miteinander verschmolzen und so den Umhang bildeten. Nach ihrer ersten Verwunderung sah Lereia noch eine Weile genau hin, schüttelte aber schließlich den Kopf.
Ambar nickte, schloss leise wieder die Luke und ging etwas beiseite. „Er ist es nicht?“
„Nein“, meinte Lereia. „Was ist mit ihm ... mit seinem Mantel?“
Er fühlte eine kurze Enttäuschung, dass dieser Insasse nicht der Mann aus Janas Vision war. Denn das ließ Raum für einen anderen … „Dieser Mantel besteht aus Schattenwesen“, erklärte er dann. „Sie sind auf merkwürdige Weise Teil von ihm. Auf seinen Willen hin werden sie zu eigenständigen Kreaturen, die nach seinen Befehlen handeln.“
Lereia wirkte nachdenklich. „Das klingt gefährlich. Aber Ihr wirkt nicht erleichtert, dass er es nicht ist?“
„Nun ...“ Ambar zögerte kurz. „Wäre er es gewesen, dann wäre es eines der kleineren Übel.“
„Oh.“ Lereias Gesichtszüge entgleisten ihr kurz. „Ich verstehe ...“ Sie warf noch einen unbehaglichen Blick zu der Zellentür, dann fasste sie sich wieder und nickte so bekräftigend wie möglich.
„Kommt“, sagte Ambar mit gedämpfter Stimme. „Es gibt noch zwei andere Kandidaten, die in Frage kämen.“
Sie atmete einmal tief ein und folgte ihm dann ein Stück den Gang hinunter bis zur nächsten Tür, an der er stehen blieb. Auch hier schob er wieder eine Luke zur Seite, und als er einen Blick hinein warf, sah er einen runden Raum mit unzähligen Rahmen an den Wänden. Man konnte sie auf den ersten Blick für Bilder halten, denn jedes zeigte ein anderes Motiv. Doch blickte man genauer hin, sah man, dass sie in Bewegung waren. Erneut ließ Ambar Lereia in die Zelle sehen und erkannte an ihrem Blick, dass sie interessiert die vielen Bilder musterte, die auch durchaus wie Fenster erscheinen konnten. Doch keine, die auf die Straßen Sigils schauten. Hinter einem sah man die überfüllten Straßen einer großen Menschenstadt. Hinter einem anderen eine Wüste unter einer schwarz-roten Sonne. Wieder hinter einem anderen eine schöne Burg und hinter einem weiteren eine Landschaft aus Metall. Sie musterte die Rahmen eine Weile, dann wanderte ihr Blick in die Mitte des Raumes. Dort saß ein dunkelhaariger, menschlicher Mann auf dem Boden und betrachtete die einzelnen Bilder, manchmal glücklich, manchmal entsetzt. Lereia sah ihn sich genau an, schüttelte dann aber erneut den Kopf.
Ambar seufzte leise, schloss die Luke und ging wieder ein Stück zurück. „Das ist Galkin“, erklärte er. „Er hat die Gabe, alle Welten der Materiellen Ebene zu sehen … und zwar alle gleichzeitig.“
„Was?“ Erstaunt blickte Lereia ihn an. „Das ist unglaublich.“
„Ja.“ Ambar nickte. „Kein Wunder, dass das seinen Geist verwirrt hat. In diesem Raum haben wir eigens für ihn all diese Spiegel eingebaut. Sie reflektieren, was er sieht und helfen ihm, die Bilder zu trennen und zu ordnen. So wird es zumindest etwas leichter für ihn.“
Er erkannte, wie sich Faszination und Unbehagen in Lereias Miene mischten. „Wie lange kämpft er schon damit?“, fragte sie.
„Seit Jahren“, erwiderte Ambar. „Er kam hierher kurz nachdem ich Bundmeister wurde, aber er hat dieses Problem - oder auch diese Gabe - seit er sieben Jahre alt ist.“
Lereia sah nachdenklich und ernst zur Tür. „Und wird es besser?“
„Ja, er macht Fortschritte“, erklärte der Barde. „Vielleicht bringt ihn das näher an seinen Aufstieg. Aber ...“ Er hielt kurz inne und wurde etwas leiser. „ ... wir müssen uns noch den dritten Kandidaten ansehen, nicht wahr?“
Er hätte so gerne darauf verzichtet, doch er wusste, es musste sein. Lereia spürte sein Unbehagen eindeutig, denn sie folgte ihm zögerlich, wie jemand, der sich auf etwas Schlimmes einstellt. Die Zelle, zu der sie wollten, lag in einem anderen Flügel des Hauses – einem besser bewachten und gründlicher gesicherten. Hier standen mehr Wachen und die Türen waren mit hochwertigen, magisch verstärkten Schlössern versehen. Ambar musste mehrfach die Planaritas benutzen, um sie zu öffnen. Schließlich standen sie in einem kleineren Raum, von dem wiederum eine mit Eisenbändern beschlagene Tür abging.
Der dort postierte Wächter, ein kräftiger Halbork, verneigte sich gen Ambar. „Bundmeister. Ihr ... wollt mit ihm reden?“
„Ganz Recht“, bestätigte der Barde. „Ihr könnt draußen warten.“
Der Halbork zögerte. „Seid Ihr sicher?“
„Ich bin sicher.“ Ambar nickte gemessen. „Es ist gut.“
„Wie Ihr befehlt, Herr.“ Der Wächter ging hinaus, sah aber nicht sehr glücklich dabei aus. Dieser kurze Wortwechsel hatte natürlich nicht gerade zu Lereias Beruhigung beigetragen. Sie sah der Wache nach und dann zu Ambar. „Ist er so gefährlich?“, fragte sie leise.
„Ich will Euch keine Angst machen, Lereia“, antwortete er ernst. „Aber ich will Euch auch nicht belügen. Ja, der Mann ist sehr gefährlich. Sein Name ist Sougad Lawshredder. Er hat vor etwa zehn Jahren eine Serie von elf grausamen und spektakulären Morden in Sigil begangen. Ich ... ich hoffe nicht, dass er der Mann aus der Vision ist. Aber es wäre möglich. Daher solltet Ihr ... ihn Euch ansehen.“
Lereia schluckte sichtlich, nickte dann aber fest. „Das werde ich. … Stellt er hier für uns auch eine Gefahr dar?“
„Nein“, beruhigte Ambar sie. „Er ist hier seit zehn Jahren unter strenger Bewachung. Über seiner Zelle liegt ein anti-magisches Feld und es sind immer fähige Wachen hier.“
Lereias Blick huschte kurz zur Tür, dann wieder zurück zu Ambar. „Was ist seine Gabe?“
Er atmete tief durch, in dem Wissen, was sie gleich erwarten würde. „So wie Trolan in uns Frieden und Freude auslöst, verursacht seine Gegenwart Furcht und Schrecken. Er widersteht vielen Arten von Zaubern und der Griff seiner bloßen Hände wirkt wie ein elektrischer Schock.“ Nach einem kurzen Zögern ergriff er Lereias Hand und sah ihr in die Augen. „Kann ich Euch das zumuten? Wenn Ihr nicht wollt, ich werde Euch nicht zwingen.“
Sie lächelte ihn an, als er ihre Hand nahm, und wirkte durchaus nervös, vielleicht sogar etwas ängstlich. Doch sie nickte bestimmt. „Ich möchte das tun. Wir alle wissen nicht, warum Jana bestimmte Visionen hat, aber sie sind mit Sicherheit wichtig.“
Ambar erwiderte das Lächeln warm. „Na gut. Dann kommt.“
Er trat an die Tür heran, schob die Luke zurück und ließ Lereia hindurch sehen, wie auch bei den beiden anderen Insassen. Kurz schloss sie die Augen, blickte dann aber in den dahinter liegenden Raum. Doch sie zuckte sofort erschrocken zusammen, wich wieder ein Stück von der Tür zurück und wandte entsetzt den Blick ab. Ambar hatte eine Vermutung, was geschehen war, und obgleich es ihn eine gewisse Überwindung kostete, trat er an die Luke und schaute hindurch. Wie er es befürchtet hatte, blickte er nicht in den Raum, sondern direkt in ein Paar Augen. Die Iris war unnatürlich hell, nahezu weiß, so dass man fast nur die Pupillen sah, und die beiden Augen starrten direkt in die seinen … voller Bosheit, und es war blanker Wahnsinn, der darin stand. Er spürte, wie sich sofort jene Angst in seinem Inneren ausbreitete, die er in Lawshredders Gegenwart bereits kannte, an die man sich aber niemals gewöhnte. Ein kaltes Entsetzen, das nur eines zu raten schien: Weglaufen. Es war eine eisige Furcht, die in sein ganzes Wesen einsickerte.
Ambar verbannte diese Angst in den hintersten Winkel seines Herzens und zog die Brauen zusammen. „Sougad, hört auf mit dem Unfug“, sagte er ruhig, aber mit Nachdruck.
Von innen war ein heiseres Lachen zu hören und Lereia atmete einige Male hörbar tief ein und aus. Dann hob sie wieder den Kopf und ging einen Schritt vor, offenbar in dem festen Vorsatz, gefasst zu bleiben.
„Ich öffne das Fenster, Sougad“, erklärte Ambar. „Macht keinen Unsinn.“
Er schoss die Luke und öffnete ein größeres Fenster in der Tür, etwa einen halben auf einen halben Meter groß, das aber vergittert war. Der Mann hinter der Tür rührte sich nicht, er sah seinen Besuchern weiterhin mit diesem unangenehmen Grinsen entgegen, in dem der blanke Wahnsinn stand. Ambar wagte kaum, Lereia anzusehen, so als würde eine Antwort auf seine Frage die Vision erst Wirklichkeit werden lassen, so als könnte er den Lauf des Schicksals ändern, wenn er dieser Antwort auswich. Doch er wusste, es war unmöglich, und so drehte er langsam den Kopf, sah die junge Frau fragend an. Sie nickte kaum merklich, in ihren Zügen das reine Entsetzen … Er schloss die Augen, als die Kälte in seinem Inneren ihre Krallen noch unbarmherziger nach seinem Herzen ausstreckte. Wie sehr er gehofft und gebetet hatte, es möge nicht so sein …
Sougad Lawshredder währenddessen richtete seinen Blick auf Lereia. „Was ist das denn Schönes?“, fragte er mit rauer Stimme. „Habt Ihr mir ein Spielzeug mitgebracht, Ambar?“
Sie biss sich auf die Unterlippe, als er sprach, sah ihm aber weiterhin so fest wie möglich entgegen. Ambar bewunderte ihre Unerschrockenheit im Angesicht der Tatsache, dass sie diesem Mann zum ersten Mal gegenüber stand und noch nicht hatte wissen können, was sie erwartete.
Er maß den berüchtigten Mörder mit einem möglichst unbeeindruckten Blick. „Nein, Sougad. Natürlich nicht.“
Lawshredder lachte erneut und eine weitere Welle des Entsetzens durchströmte Ambar. Ja, egal wie oft man diesem Mann begegnete, die Wirkung seiner fürchterlichen Aura wurde niemals schwächer. Vielleicht eher im Gegenteil …
„Was wollt Ihr dann, hm?“ Lawshredder kam noch ein winziges Stück näher an das Gitter. „Mir wieder ein paar Eurer sinnlosen, aber so wundervoll naiven Fragen stellen?“
Lereia zog ihren Mantel enger um sich, als ob dies sie gegen den Schrecken des Serienmörders schützen würde.
Die Falte zwischen Ambars Brauen vertiefte sich etwas. „Würdet Ihr sie denn beantworten, meine Fragen?“
Lawshredder grinste. „Versucht es.“
Ambar machte sich nicht wirklich Hoffnungen, von diesem Mann mehr zu erfahren als es bisher der Fall gewesen war. Doch vielleicht konnte irgendetwas von dem, was er mitteilen würde, Lereia einen Hinweis geben. Jedes noch so kleine Fünkchen Wissen mochte in dieser Angelegenheit von Bedeutung sein. So verschränkte er die Arme, als er Lawshredder – nicht ohne Überwindung – in die Augen blickte. „Ich frage mich natürlich noch immer, was Ihr mit all diesen Morden bezwecken wolltet.“
Der Mörder starrte ihn bohrend aus seinen merkwürdigen Augen an. „Und was wollt Ihr bezwecken, mein lieber Ambar?“
Jedes Mal, wenn dieser Mann ihn mit seinem Vornamen ansprach, überlief es den Barden kalt. Zwar gewann er allmählich seine Ruhe zurück, aber es war nur oberflächlich, das war ihm bewusst. „Ich schütze die Vorboten eines neuen Zeitalters“, erwiderte er. „Ich versuche, neue Beginne zu ermöglichen.“
Lawshredder lachte heiser. „Dann bin ich der Beginn schlechthin, kurzsichtiger Narr!“
Lereia sah beunruhigt von ihrem Bundmeister zu dem Gefangenen, doch diesmal ließ Ambar sich durch Sougads Angriff nicht irritieren. Diese Art von Ausbrüchen kannte er bereits. „Würdet Ihr das näher erklären wollen?“, fragte er daher ruhig.
„Ich werde Euch antworten, auch wenn Ihr nichts begreift“, erwiderte der Mörder, offenbar amüsiert. „Ich bin der Anfang und das Ende. Jeder Tod ist wie ein Auftritt, eine Aufführung, und der letzte Akt wird etwas jenseits aller Vorstellungskraft sein. Dieser ganze wohl überlegte Tanz wird in eine so vollkommene Realität münden, dass ich daran zweifle, dass irgendjemand den Plan begreifen kann. Auch das Chaos hat seine Bestimmung, Ambar.“
Der Bundmeister nickte langsam. Ja, etwas Derartiges hatte Lawshredder ihm schon einmal erzählt. „Habt Ihr diesen Tanz vollendet, Sougad?“, fragte er weiter.
Lawshredder grinste und eine weitere Welle des Entsetzens schwappte zu seinen Besuchern herüber. „Ihr und ich würden jetzt nicht hier stehen, wenn dem so wäre.“
„Was ist der letzte Akt?“, fragte Lereia nun, leise, aber offenbar in dem festen Entschluss, etwas von dem Mörder erfahren zu wollen.
Er drehte ruckartig den Kopf zu der jungen Frau und sah ihr direkt in die Augen. „Was für eine mutige Frage, du unschuldiges, unwissendes Kind. Der letzte Akt? Er ist die Vollendung meiner Bestimmung. Keine Sorge ... du wirst es sicher erleben.“
Lereias Stimme zitterte nun ein wenig. „Also wird es bald so weit sein?“
„Bald ...“ Lawshredder lachte heiser. „Die Zeit ist ein weit interpretierbarer Begriff. Doch wenn du es so willst ... bald.“
„Aber Ihr seid ... eingesperrt“, wandte Lereia zögernd ein und sah ihn voller Unbehagen an.
„Bin ich?“ Der Blick des Serienmörders wurde noch bohrender, noch durchdringender.
Ambar musterte ihn ernst. „Es gibt ein paar Wärter, die denken, Ihr wäret freiwillig hier, Sougad. Warum sollte dem so sein?“
Lawshredders Lächeln war noch viel unangenehmer als das raue Lachen. „Ich nehme mir meine Zeit.“
„Ihr sagt also, dass dem so ist?“ Ambar atmete tief durch. „Doch Ihr seid schon fast zehn Jahre hier. Ihr seid sehr geduldig. Warum?“
Der starre Blick des Serienmörders schien sich geradezu in seine Seele zu bohren. „Nach all den Jahren, Ambar, jetzt, wo Ihr mich ein wenig kennt ... Glaubt Ihr wirklich, ich wurde gefangen?“ Fast war es eine Erleichterung, als sein raues Lachen das unangenehme Lächeln wieder ablöste. „Nächstes Mal wird es ... besser sein.“
„Es wird also ein nächstes Mal geben?“, hakte Ambar nach.
Diesmal war Lawshredders Lachen sehr leise, fast flüsternd und dadurch noch furchteinflößender als zuvor. „Oh ja. Und wenn es soweit ist, dann glaubt mir, wird nichts mich aufhalten. Daher genießt Eure Zeit, Ambar. So lange Ihr noch könnt ...“
Obgleich derartige Andeutungen des Serienmörders ihm nicht fremd waren, überlief ihn doch immer wieder ein Schaudern dabei. Der furchteinflößenden Aura Lawshredders schien man sich einfach nicht entziehen zu können, auch Schutzzauber halfen hier nicht. Lereia war, wie unbewusst, etwas näher an ihn heran getreten.
„Gilt Eure Drohung allen in Sigil?“, fragte sie leise.
„Eine Drohung?“ Der Mörder musterte sie intensiv. „Ihr versteht das ganz und gar falsch, Kind.“
„Wie meint Ihr es dann?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch.
Lawshredder kam noch näher an das Fenster, so dass seine Stirn fast das Gitter berührte, und musterte sie beide, erst Lereia, dann Ambar. In seinem Blick lag eindeutig Wahnsinn, aber zugleich eine merkwürdige Klarheit, zwei Wesenszüge, die nicht zusammenpassten. Er grinste breit und trat dann zurück. „Gute Nacht, Ambar. Passt gut auf das süße Kind auf.“
„Sougad ...“, versuchte der Barde ihn zurück zu halten.
Doch Lawshredder antwortete nicht mehr, sondern zog sich in den dunklen, hinteren Teil seiner Zelle zurück. Lereia schluckte schwer und Ambar schloss das Fenster, um dann den Raum rasch wieder zu verlassen. Der Halbork, der vor der Tür gewartet hatte, nickte ihnen beiden ernst zu und ging dann zurück zu der Zelle, wo er wieder seinen Posten bezog. Erst als Ambar die Tür hinter sich ins Schloss zog, schien die Aura des Entsetzens, die von Lawshredder ausging, ein wenig nachzulassen. Der Bundmeister musterte Lereia eine Weile still, dann seufzte er.
„Er war es, hm? Der Mann in der Vision?“
„Ja.“ Sie nickte langsam. „Die Vision zeigte etwas Wichtiges, da waren wir sicher, doch wir konnten nicht ausmachen, ob es die Vergangenheit oder die Zukunft war. Nun habe ich Angst, dass die Vision das zeigt, wovon er gesprochen hat.“
Ambar teilte ihre Bedenken. „Dieses Bild war ja auch mit dem Satz Etwas beginnt verknüpft, nicht wahr?“
„Das ist mir auch aufgefallen“, bestätigte Lereia. „Er sprach davon, dass er der Beginn wäre ...“
Der Barde fuhr sich kurz mit den Händen über das Gesicht. „Ich habe es befürchtet, als Ihr von dieser Vision erzählt habt. Ich hatte so sehr gehofft, er wäre es nicht, aber ...“
„Diese Hoffnung kann ich verstehen, ich habe nie eine unangenehmere Person getroffen.“ Lereia schauderte sichtlich. „Ich kann nicht einschätzen, ob er nur wahnsinnig ist oder wirklich davon überzeugt, weil es sich um die Wahrheit handelt.“
Ambar nickte ernst. „Das ist auch schwer einzuschätzen.“
Einmal mehr wanderte Lereias Blick voller Unbehagen zu der Tür, hinter der sich Lawshredders Zelle befand. „Kann er denn das Haus verlassen, wenn er es will?“
„Nein“, beruhigte Ambar sie. „Das kann keiner der Insassen hier. Sie sind zu gefährlich. Nicht alle sind böse, aber alle auf ihre Weise labil und zu mächtig, um in diesem Zustand unüberwacht zu bleiben. Allerdings beunruhigen mich seine Worte auch. Als Lawshredder damals erwischt wurde ... das war eine große Sache. Ganz Sigil war in Furcht und Schrecken gewesen.“
„Wer hat ihn erwischt?“
Nun lächelte Ambar zum ersten Mal wieder. „Ratet.“
„Ich hätte zuerst gesagt, die Gnadentöter oder das Harmonium“, meinte sie. „Da Ihr aber dabei lächelt und er hier ist … die Gläubigen der Quelle?“
„Nein, es war tatsächlich das Harmonium“, erklärte Ambar. „Es gab damals eine speziell dafür zusammengestellte Truppe von Offizieren, die viel Erfahrung und Talent in solchen Ermittlungen hatten. Und in dieser Einheit befanden sich Sarin, Killeen Caine, Tonat Shar ... und Valiant.“
Lereias Augen weiteten sich. „Was? Diese vier?“
„Ja, hauptsächlich sie“, bestätigte der Barde. „Es waren zeitweise noch zwei, drei andere Offiziere dabei, glaube ich. Aber ich erinnere mich nicht mehr ganz genau.“
Lereia wand nachdenklich eine Strähne ihres langen, weißen Haares um ihren Zeigefinger. „Das war nach der Zeit von Arella Silberblick, oder?“
„Ja, richtig. Da war gerade Ulan Delazar Bundmeister geworden. Etwa ein knappes Jahr vor den Morden, glaube ich.“
„Vielleicht hängt doch alles zusammen“, meinte Lereia. „Zumindest was Janas Visionen angeht.“
Ambar nickte. „Ich bin inzwischen davon überzeugt, dass alles irgendwie zusammenhängt. Diese Visionen zeigen Jana sicher nicht willkürlich irgendetwas.“
„Ja, und das Bild setzt sich nur langsam zusammen.“ Lereia schwieg kurz, ihr seidenes Haar nach wie vor um ihren Zeigefinger gewickelt, und Ambar konnte erkennen, dass ihr viele, viele Gedanken durch den Kopf gingen. „Ich muss den anderen von heute berichten“, meinte sie schließlich. „Wäre das in Ordnung?“
„Ja, sie sollten es wissen“, erwiderte der Halbelf. „Ich wollte nur vorher sicherstellen, dass es wirklich so ist, wie ich befürchtet habe.“
„Natürlich.“ Lereia nickte, dann sah sie zu Boden. „Ich habe Angst“, gestand sie. „Bisher war alles nicht greifbar, aber diese Person dort drin … So viel Wahnsinn und Boshaftigkeit ...“
Es schmerzte Ambar, dass er sie in eine so beängstigende Situation gebracht hatte und erneut griff er sacht nach ihrer Hand. „Ich verstehe Euch, Lereia. Ganz ehrlich: Ich habe auch Angst. Es tut mir sehr leid, dass Ihr in all das hineingezogen werdet. Ich verspreche, dass ich tun werde, was ich kann, um Euch zu schützen.“
Im Angesicht des berüchtigten Serienmörders in der Zelle hinter ihnen musste er sich eingestehen, dass er nicht wusste, ob er sie wirklich würde vor allem schützen können. Aber was in seiner Macht stand, das würde er tun. Lereia sah auf seine Hand und hielt sie fest, dann blickte sie wieder zu ihm auf. „Ist es nicht eigentlich die Aufgabe der Bundmitglieder, alles zu tun, um ihren Bundmeister zu beschützen?“
Ihre Offenheit, verbunden mit einer unverfälschten Unverdorbenheit, erwärmte ihm das Herz.
„Nein, nicht nur“, erwiderte er warm. „Es ist ein Geben und Nehmen, zumindest sehe ich das so.“
„Das ist gut.“ Sie lächelte, ein wenig schüchtern, aber zugewandt. „Ich fühle mich auch sicher in Eurer Anwesenheit, sogar hier.“
Sie wirkte vollkommen aufrichtig, und merkwürdigerweise versetzte ihr ungetrübtes Zutrauen ihm einen kurzen Stich. Wenn er sich seiner selbst nur ebenso sicher gewesen wäre wie sie. Doch er drückte ihre Hand, sacht und ermutigend, wenngleich er nicht wusste, wen er mehr bestärken wollte, sie oder sich selbst. „Ich hoffe, Euer Vertrauen nie zu enttäuschen, Lereia.“
„Auch, was das angeht, bin ich sicher, dass es niemals passieren wird“, meinte sie. „Aber in der nächsten Zukunft sollten wir trotzdem mehr auf Euch achten. Diese Visionen von Jana über die Bundmeister und das, was der Verkünder gesagt hat ... Da mache ich mir mehr Sorgen um Euer Wohlergehen als um meines.“
Er musste lachen. „Nun, bei einem Wettbewerb, wer gefährdeter ist und riskanter lebt ... ich wage keine Wette, wer von uns beiden da gewinnen würde.“
Seine Worte heiterten Lereia ein wenig auf und sie erwiderte den kurzen Händedruck. „Vielleicht machen wir uns auch zu viele Sorgen.“
„Vielleicht.“ Er wurde wieder nachdenklicher. „Aber eines scheint sicher: All das hier ist nur der Anfang. Ich wünschte, Ihr hättet das heute nicht sehen und erleben müssen. Aber ich brauchte Sicherheit in einer so wichtigen Frage.“
Lereia seufzte. „Diese Augen werden mich sicher noch eine Zeit in meinen Träumen verfolgen. Aber es war wichtig, Gewissheit zu haben, da gebe ich Euch Recht. Die Frage, die ich noch unheimlicher finde: der Anfang von was?“
„Der Anfang vom Ende?“ Er konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. „Ja, ich weiß, das klingt nach sehr schlechter Poesie. Aber die Hüterin und der Verkünder nannten Sigil immerhin die Letzte Stadt des Letzten Zyklus ...“
Lereia nickte ernst. „Und wie es aussieht, hat Sougad Lawshredder etwas damit zu tun.“ Sie sah sich um und zögerte kurz, ehe sie weitersprach. „Ich weiß, es ist eine unserer Einrichtungen … Aber könnten wir das Haus vielleicht doch langsam verlassen? Irgendwie löst es noch Unbehagen in mir aus.“
„Das verstehe ich durchaus“, erwiderte Ambar. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er noch immer ihre Hand hielt und ließ sie los. „Ich bringe Euch hinaus.“
Sie lächelte dankend und er führte sie durch die langen Gänge wieder zurück zum Eingang. Erleichtert fühlte er, wie der Griff von Lawshredders Aura sich allmählich wieder löste. So düster es auch war, dass seine Befürchtungen bezüglich des Serienmörders und Janas Vision sich bewahrheitet hatten, so fühlte er überraschenderweise doch eine gewisse Zuversicht. Ein Zutrauen in die Zukunft, mit dem er für den heutigen Abend nicht gerechnet hatte. Er war sich nicht sicher, ob dies mit Lereias Gegenwart zusammenhing, doch eines wusste er: Ihre Sicherheit und ihr Wohl lagen ihm auf eine Weise am Herzen, die über die einfache Sorge für ein Bundmitglied hinausging.
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gespielt am 11. November 2012
Dies war die erste Begegnung der Spieler (vorerst nur Lereias Spielerin) mit dem berühmten Haus der Vorboten aus dem Abenteuer "Harbinger House" und mit dem berüchtigten Serienmörder Sougad Lawshredder.





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