„Die Götter sind Flittchen!“
an den Io-Schrein im Tempeldistrikt geschmiertes Graffiti,
unter einem Bild der Göttin Sune
Vierter Gildentag von Savorus, 126 HR
Zwei Tage nachdem Naghûl mit Hilfe eines seiner Zeichen die Hüterin gefunden hatte, trafen sie sich in der Kaserne wieder. Morânia und ihr Mann waren ein wenig überrascht gewesen, als die Nachricht über den Treffpunkt sie erreicht hatte – eigentlich war die Zusammenkunft in der Festhalle geplant gewesen, wo Elyria derzeit auch wohnte. Die kurzen Schreiben von Rhys und Erin hatten jedoch keine Erklärung für den Ortswechsel enthalten und so durften sie auf den Grund dafür gespannt sein. Vor dem Eingang trafen sie auf Lereia und Sgillin, die gemeinsam von Lereias Haus nahe der Gießerei gekommen waren. Sie konnten jedoch keinen ihrer Bundmeister entdecken, diese waren also wohl entweder schon in der Kaserne oder würden noch eintreffen. Auch Jana ließ sich nicht blicken, und da sie Kiyoshi ohnehin in seinem Hauptquartier vermuten durften, betraten sie die große Eingangshalle. Sie wurden freundlich von Lady Diana begrüßt, die ihre Gesichter inzwischen sogleich erkannte und sie bat, noch kurz zu warten, Kiyoshi werde gleich eintreffen. So standen sie noch eine Weile im Eingangsbereich der Kaserne und besahen sich schweigend die massiven, hohen Säulen neben dem Haupttor sowie das in den Farben rot und weiß gehaltene Bodenmosaik. Es zeigte stilisierte Sonnen, Schilde und Schwerter, Bestandteile des Bundsymboles des Harmoniums. Nur das leise Kratzen von Dianas Feder auf Pergament war zu hören, als die Concierge sich wieder ihrer Arbeit widmete. Ihr schwerer Schreibtisch aus dunklem Holz stand zentral in der Halle, bedeckt von zahlreichen Büchern und Pergamenten, mehreren Tintenfässern und einigen Schriftrollen.
Als die Stille immer lastender wurde, räusperte Lereia sich leise. „Warum findet das Treffen heute eigentlich in der Kaserne statt?“, fragte sie die anderen.
„Bestimmt, damit sie mich nicht durch die Straßen transportieren müssen“, erklang nun Janas Stimme hinter ihnen.
Überrascht drehten sie sich um und sahen die Hexenmeisterin gerade aus der Tür zum Hauptkorridor treten, gefolgt von einem noch ernster als sonst dreinblickenden Kiyoshi.
„In der Tat“, bestätigte er Janas Worte knapp.
Morânia fragte sich, ob es wirklich war, wonach es aussah. Sie hoffte beim Morgenfürsten, dass dem nicht so sein mochte. „Wieso das?“, fragte sie in möglichst neutralem Tonfall.
Jana sah über die Schulter zu Kiyoshi, ihre Miene fast ebenso versteinert wie seine. „Ich könnte ja möglicherweise … weglaufen, oder so.“
„Wieso sollte es jemanden interessieren, wenn du weggehst?“, fragte Lereia stirnrunzelnd.
„Jana Wetter-san wurde verhaftet“, erklärte Kiyoshi ernst. „Wegen eines dringenden Tatverdachtes.“
Morânia seufzte tief, als sich ihre Befürchtung bestätigte, während Sgillin die Arme vor der Brust verschränkte.
„Hast du Sarin gesagt, dass du ihm nicht vertraust?“, fragte er unschuldig.
Der Blick von Kiyoshis gelben Augen blieb unbewegt. „Weitere Informationen kann ich im Moment leider nicht geben“, erklärte er. „Wegen des laufenden Verfahrens.“
Wenig überraschend gab Naghûl sich mit dieser Auskunft nicht zufrieden. „Was hast du denn gemacht, Jana?“, fragte er die Hexenmeisterin.
Doch sie zog es offenbar vor, die Frage vorerst nicht zu beantworten, sondern wandte sich stattdessen ihrem Bewacher zu. „Wann kann ich eigentlich mit einer Verhandlung rechnen?“
„Diese Entscheidung liegt bei der ehrenwerten Bruderschaft
der Ordnung“, erwiderte Kiyoshi sachlich. „Nach den Maßgaben der Stadtverordnung Sigils, Paragraph 37.“
Morânia hob eine Braue. „Es gibt gleich eine Verhandlung?“ Sie wusste, dass geringfügigere Delikte nur mit einem Bußgeld geahndet wurden. Wenn es also eine Verhandlung geben sollte, so ging es hier wohl nicht nur um eine kleinere Ordnungswidrigkeit.
Jana verschränkte die Arme. „Ich will doch hoffen, dass sie mich nicht rein aus Spaß an der Freude verhaftet haben.“
„Ich hoffe, es war nichts allzu Schlimmes“, meinte Lereia seufzend.
Naghûl hingegen wandte sich nun an Sgillin und reichte ihm die linke Hand zum Einschlagen. „Ich wette, sie hat irgendwie illegal gegen Götter protestiert. Fünf Kupfer?“
Der Halbelf grinste und schlug ein. „Gut, die Wette halte ich. Ich glaube, sie hat sich einen neuen achtbeinigen Spinnendämon als Haustier genommen und vergessen, es der zuständigen Behörde zu melden.“
Diana sah zu ihnen herüber und hob mit sachtem Kopfschütteln eine Augenbraue, als Naghûl lachend ausrief. „Die Wette gilt!“
Morânia unterdrückte ein Seufzen. Nicht, dass sie derartige Dinge von ihrem Mann und auch Sgillin nicht gewohnt gewesen wäre. Die beiden waren nun einmal liebenswerte, aber vollständige Chaoten, das war es nicht. Es war die Tatsache, dass Jana sich offenkundig in eine Richtung entwickelte, die ihr Sorgen bereitete.
Die Hexenmeisterin sah für einen Moment aus, als würde sie ein Grinsen unterdrücken, dann meinte sie leise: „Naghûl hat gewonnen.“
„Mist.“ Sgillin sah zu dem Tiefling. „Ich schulde dir fünf Kupfer.“
„Ein Bier tut es bei Gelegenheit auch“, meinte dieser gut gelaunt.
Jana hingegen stemmte die Hände in die Seiten. „Und dabei habe ich nur einen Wasserfall gemalt! Und es war auch gar kein wirklicher Tempel, nur der Io-Schrein.“
Bei der Erwähnung des Wasserfalls hob Lereia die Brauen und sah mit skeptischem Blick zu Jana. Morânia ahnte den Grund dafür: Die Wertigerin war eine Anhängerin der Göttin Eldath und deren Symbol ein in einen Teich herabstürzender Wasserfall. Die Athar hatte doch wohl nicht am Ende Lereias Göttin geschmäht?
„Ein Wasserfall“, murmelte die junge Frau. „Ich will es gar nicht wissen ...“
„Sei vorsichtig, was du gegenüber unserem treuen Harmoniumsoldaten erwähnst“, stellte Sgillin nun mit leicht giftigem Blick zu Kiyoshi fest. „Er wird alles gegen dich verwenden.“
„Wenn es meine Pflicht verlangt“, erklärte der junge Mann unbeeindruckt. „Und nun kommt. Die Bundmeister erwarten uns.“
Jana warf einen kurzen, ausdruckslosen Blick gen Sgillin und ging dann schweigend in die angegebene Richtung, zurück durch die Tür und in den Hauptkorridor der Kaserne. Die anderen nickten Diana noch einmal zu und Morânia erkannte auf den Zügen der Concierge eine deutliche Mischung aus bewusster, höflicher Zurückhaltung bei einem gleichzeitigen Missfallen über Janas blasphemische Tat. Als sie Kiyoshi und seiner Gefangenen durch den breiten Gang folgten, sprach niemand ein Wort. Auch die kurze, heitere Stimmung ob der Wette bezüglich Janas Missetat hatte sich im Angesicht des bevorstehenden Treffens mit den Bundmeistern wieder verflüchtigt. Ein deutlicher Unmut zwischen Kiyoshi und Sgillin lag in der Luft und ebenso eine spürbare Spannung zwischen Jana und dem ganzen Rest der Gruppe. Es war eine unschöne Stimmung, um zu einem so bedeutungsvollen Treffen zu gehen, bei dem endlich Licht in die Prophezeiung gebracht werden sollte, die nun schon seit Monaten ihr Leben beherrschte. Kurz vor dem Großen Auditorium blieb Kiyoshi stehen und klopfte an eine Tür. Als Sarins tiefe Stimme von drinnen die Erlaubnis zum Eintreten erteilte, öffnete der Soldat, salutierte und postierte sich dann neben der Tür, als auch die anderen herein kamen. Sie alle verneigten sich zur Begrüßung, Jana recht steif und Sgillin etwas zögernd. Alle fünf Bundmeister der derzeitigen Allianz waren bereits versammelt und saßen um einen längeren Tisch herum, in einem Raum, der offenbar als Besprechungszimmer für Offiziere gedacht war. Ein großer Stadtplan von Sigil an einer der Wände, mehrere Waffenregale und ein mit Akten gefüllter Schrank deuteten dies an. Die Stimmung war deutlich angespannter als beim letzten Treffen, das spürte Morânia sofort. Rhys wirkte zwar gewohnt gelassen und diplomatisch, doch kannte sie ihre Bundmeisterin inzwischen gut genug, um zu erkennen, dass die Tieflingsfrau wachsamer war als sonst. Ambar und Erin hatten zwar eine eher unbekümmerte Miene aufgesetzt, aber auch sie wirkten nicht so locker wie sonst. Terrance sah ernst zu Jana und musterte sie schweigend, während Sarin in deutlich gereizter Stimmung war und sowohl Sgillin als auch die Hexenmeisterin finster ansah.
Kiyoshi schlug nun mit der Faust auf seinen Brustpanzer. „Ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui, melde gehorsamst, die Gefangene wurde vorgeführt.“
Jana warf einen verstohlenen Blick zu Terrance, starrte dann aber auf die Tischplatte.
„Danke, Soldat“, antwortete Sarin knapp auf Kiyoshis Worte. „Sie soll sich neben ihren Bundmeister setzen.“
Der junge Mann nickte, führte Jana zu dem leeren Stuhl neben Terrance und positionierte sich hinter ihr. Als sie neben ihm Platz nahm, schüttelte der Hohepriester sacht, aber tadelnd den Kopf. Die Hexenmeisterin lächelte kurz verdruckst und starrte dann wieder auf den Tisch. Morânia wusste ebenso wie die anderen nicht recht, was sie tun, ob sie sich bereits setzen oder noch abwarten sollte. Sie sah, wie Lereia neben ihr angespannt ihre Finger knetete und Sgillin mit der Fußspitze auf dem Boden tippelte. Sarin warf ihnen einen ungeduldigen Blick zu.
„Steht nicht so herum“, herrschte er sie an. „Setzt Euch schon.“ Er machte eine abrupte Geste zu den noch leeren Stühlen.
Morânia zuckte unwillkürlich ein wenig zusammen bei seinem harschen Tonfall und ging dann schnell und leise zu Rhys hinüber, neben der sie Platz nahm. Naghûl begab sich ebenso rasch und mit etwas überraschter Miene ob Sarins Tonfall zu dem freien Stuhl links von Erin, während Lereia fast vorsichtig an dem Paladin vorbei zu Ambar ging.
Sgillin sah unschlüssig in die Runde, dann fiel sein Blick auf den noch leeren Stuhl neben Erin.„Erlaubt Ihr, werte Bundmeisterin?“, fragte er ein wenig zögernd.
Erin nickte ihm höflich zu, dann sah sie zu Sarin, legte kurz beide Handflächen aneinander und lächelte ihn beschwichtigend an. Der Paladin verzog ein wenig den Mund, lehnte sich aber mit verschränkten Armen zurück und sagte nichts. Sgillin zog so leise wie möglich den Stuhl zurück und nahm neben Erin Platz, während Ambar ihn ernst musterte und dann nachdenklich zu Lereia sah. Auch Terrance sah den Halbelfen forschend an. Sgillin versteifte sich etwas, als er die Blicke der Bundmeister spürte, seine Züge versteinerten sich. Morânia konnte erkennen, dass Lereia sehr bedrückt und fast nervös wirkte. Sie hielt die Augen überwiegend auf den Tisch gesenkt, nur als sie Ambars Blick spürte, sah sie kurz zu ihm und lächelte schwach, dann schaute sie schnell wieder nach vorne. Morânia beneidete sie nicht um ihre Lage. Schon für alle anderen war es eine unangenehme Situation, doch Lereia war Sgillins Gefährtin und so musste es für sie ungleich schlimmer sein. Mit Ausnahme vielleicht von Jana, die immerhin als Gefangene hier war und ebenso wie Lereia fast ausschließlich auf die Tischplatte starrte. Hinter ihr stand nach wie vor Kiyoshi, dem Sarin nun einen ungeduldigen Blick zuwarf. „Und worauf wartet Ihr, Soldat?“
Kiyoshi schien sofort noch etwas strammer zu stehen. „Verzeiht, ehrenwerter Bundmeister Sarin-gensui. Ich nahm fälschlicherweise an, Ihr wolltet, dass ich weiterhin die Gefangene bewache.“
„Wenn ich etwas will, dann sage ich Euch das“, fuhr sein Bundmeister ihn an. „Setzen.“ Als er Erins beschwichtigenden Blick wahrnahm, atmete er einmal tief durch, dann wurde sein Tonfall tatsächlich eine Spur milder, als er wiederholte. „Setzt Euch, Soldat.“
Während Kiyoshi Platz nahm, beugte Rhys sich ein wenig vor, um Sarins Reaktion auf Erin zu beobachten, lehnte sich dann aber wieder zurück.
Der Paladin wandte sich nun an alle Versammelten. „Wenn niemand etwas dagegen hat, übernehme ich die Leitung des Gesprächs, da wir in meinem Bundhauptquartier sind.“ Er wartete jedoch keinerlei Einwände ab, sondern fuhr sogleich fort. „Um es kurz zu machen: Über Eure Mission im Elysium wurden wir alle unterrichtet. Wir sind uns einig, dass Ihr diese Sache sehr gut gelöst habt. Das gilt in diesem Fall für alle Mitglieder der Gruppe, nur damit ich nicht falsch verstanden werde. Was den Vorfall mit den Gnadentötern angeht: Wir sind uns einig, dass das von Mallins Seite aus ein ungeheuerliches Vorgehen war und ein Nachspiel haben wird. Ebenso haben wir nach längerer Debatte beschlossen, dass es vorerst keine Zusammenarbeit geben wird.“
Er warf einen kurzen Seitenblick zu Erin, die sacht nickte, aber eine diplomatisch neutrale Miene wahrte. Morânia bemerkte natürlich Naghûls Erleichterung bei dieser Aussage und konnte es ihm nicht ganz verdenken.
„Über den Ablauf des Treffens mit Garush hat mich meine Kollegin Bundmeisterin Rhys freundlicherweise ins Bild gesetzt“, fuhr Sarin fort. „Es ist gut, dass Ihr nicht mehr gesagt habt. Ich will nicht verschweigen, dass ich persönlich mit Mallin und Hashkar durchaus gerne zusammenarbeiten würde, weil sie Bundmeister alliierter Bünde sind. Aber es gibt … zu große Differenzen aufgrund der allgemeinen Konstellation.“
Sein Blick wanderte vornehmlich zu Erin und Terrance, und der Hohepriester nickte zustimmend. „Die Sinnsaten wollen nicht mit dem Prädestinat arbeiten und die Athar nicht mit den Zeichnern. Und auf die Gnadentöter legt außer Sarin hier niemand gesteigerten Wert, nehme ich an.“
Der Blick des Paladins verfinsterte sich prompt. „Ich weiß nicht, Terrance, was das nun wieder für eine Andeutung sein soll, aber ich gehe besser nicht näher darauf ein.“
„Das war keine Andeutung, nur eine Feststellung.“ Terrance runzelte die Stirn. „Bei der Dame, was seid Ihr denn heute so empfindlich?“
„Verzeihung“, erwiderte Sarin, deutlich gereizt. „Ich sitze hier mit einem Anarchisten und einer Tempel-Beschmiererin Eures Bundes in meinen Hauptquartier. Vielleicht liegt es daran.“
Morânia konnte erkennen, wie Lereia sich bei dieser Bemerkung auf die Lippen biss und betreten den Blick senkte, während Sgillin weiterhin eine versteinerte Miene wahrte. Die Hexenmeisterin wiederum starrte auf die Tischplatte und vermied jeden Blickkontakt zu ihrem Bundmeister.
„Janas Schuld ist noch nicht bewiesen“, erwiderte Terrance ernst.
„Die kann ich sehr schnell feststellen, wenn Ihr wünscht.“ Sarins dunkle Augen funkelten, doch dann atmete er tief durch und sammelte sich. „Lassen wir das jetzt. Es ist, wie es ist. Wir haben heute ein wichtigeres Thema.“
Die allgemeine Erleichterung darüber, dass es nicht zu einer Auseinandersetzung zwischen den Bundmeistern des Harmoniums und der Athar kam, war geradezu greifbar. Sarin nahm nun einen kleinen Kristall, der vor ihm auf der Tischplatte lag und fuhr einmal mit der Hand darüber, woraufhin der Kristall zu glühen begann. Es dauerte nicht lange, dann öffnete sich die Tür und die Hüterin trat ein. Sie verneigte sich und kam langsam näher, während Lereia, Naghûl und Morânia ihr freundlich zulächelten. Jana, Kiyoshi und Sgillin grüßten sie ebenso, waren jedoch ernster und zurückhaltender. Elyria nickte ihnen zu, dann wanderte ihr Blick zu Terrance, und ein Strahlen trat in ihre saphirenen Augen. Der Bundmeister der Athar lächelte ihr warm zu.
„Hochverehrte Elyria, es ist eine große Freude für mich, Euch hier zu sehen. Ich hätte niemals angenommen, dass Ihr die Hüterin seid, doch es war eine mehr als willkommene Überraschung, als Jana mir davon erzählte.“
Ambar lächelte sacht, während Sarin überrascht zu Terrance sah. „Ihr kennt einander?“
Der Hohepriester nickte. „Aus den Zeiten, als ich noch in Conclave Fidelis war. Es verbindet uns seit vielen Jahren eine Freundschaft, die auch durch sehr verschiedene Weltanschauungen nie gelitten hat.“
„Das ist wahr“, bestätigte die Lupinal. „Und nichts könnte mich glücklicher machen. Ich kann Eure warmen Worte daher nur zurückgeben, Terrance, mein Freund.“ Dann blickte sie in die Runde der Versammelten. „Und ich freue mich, endlich einen Teil der Erwählten sowie ihre Bundmeister gefunden zu haben.“
Ambar neigte lächelnd den Kopf in ihre Richtung. „Wir freuen uns ebenso. Aber bitte gestattet mir eine Frage, Lady Elyria, auch wenn sie ein wenig direkt sein mag: Wo ist Sir Lorias? Ist er nicht der Verkünder?“
„Das stimmt …“ Morânia bemerkte, dass die Lupinal nun kurz zögerte. „Ich hatte ja schon erwähnt, dass es einen … kleinen Zwischenfall gab. Sir Lorias ist draußen. Er wird nun hereinkommen und ich bitte darum … ihn anzuhören. Ich versichere, dass er er selbst ist.“
„Natürlich“, erwiderte Sarin, offenbar verwundert ob Elyrias plötzlicher Befangenheit. „Wir werden ihn anhören. Er möge bitte eintreten.“
Die Priesterin der Mishakal nickte, trat zur Tür und öffnete sie ein Stück. Es dauerte ein paar kurze Momente, dann war das metallische Klirren einer Rüstung im Flur zu hören und Sir Lorias trat ein. Er trug, eher ungewöhnlich für einen solchen Anlass, noch seinen Helm. Doch es blieb Morânia keine Zeit, dies zu hinterfragen, denn was sie unzweifelhaft von Sir Lorias spürte, ließ ihr den Atem stocken. Rasch warf sie einen erschrockenen Blick in die Runde, speziell zu jenen, von denen sie wusste, dass auch sie es spüren würden … Lereia atmete tief durch und ihr Blick verfinsterte sich. Sie versteifte sich zusehends, blieb aber sitzen, während Sarin dagegen im Stuhl hochfuhr, als Lorias eintrat. Auch Terrance hatte sich sichtlich angespannt und starrte den Verkünder ebenso ungläubig an wie Bundmeisterin Erin. Morânia bildete sich das also nicht ein, sie alle nahmen es wahr. Ein rascher Blick zu Rhys verriet ihr, dass auch ihre eigene Bundmeisterin ahnte, was vorging. Sgillin, Jana, Kiyoshi, Naghûl und Ambar waren offenkundig verwundert über die Reaktion der anderen und sahen ihrerseits gespannt zu Sir Lorias.
„Also, bitte ... nicht erschrecken jetzt“, meinte dieser höflich, statt eines Grußes.
Seine Stimme klang anders als beim letzten Mal, wie Morânia auffiel. Er nahm den Helm ab und ihre Ahnung und Befürchtung bestätigte sich: Zum Vorschein kam nicht das Gesicht des blonden menschlichen Mannes, dessen sie sich erinnerte. Stattdessen blickte sie auf einen blanken Totenschädel …
„Oh ...“, entfuhr es Naghûl.
Sarins Blick verfinsterte sich prompt. „Also, das ist doch …“
„Es war nicht so geplant!“ Lady Elyria hob beschwichtigend die Hände.
Sir Lorias wirkte etwas verlegen - soweit man das einem Skelett ansehen konnte. „Also, ja ... Es ist dumm gelaufen für mich ...“
„Dumm gelaufen?!“ Sarins Stimme gewann an Volumen und Lautstärke. „Was, bei den Abgründen der Abyss, ist hier los?“
„Ich kann das erklären“, versicherte Lorias.
„Ja, ich bitte darum!“ Sarin stand noch immer, beide Hände vor sich auf den Tisch gestützt.
„Also, wir kamen heil hier in Sigil an“, beeilte der Verkünder sich zu erläutern. „Durch ein Portal nahe Conclave Fidelis. Wir hielten uns etwa zwei Tage hier auf ... und dann passierte es. Ich meine, diese Stadt hat buchstäblich überall Portale und ich hatte wohl den Schlüssel zu einem, das ich sicher nicht freiwillig gewählt hätte.“
„Oh, oh“, murmelte Erin leise und bedachte Lorias mit einem mitfühlenden Blick.
Der Verkünder nickte und ließ nun ein wenig die Schultern hängen. „Ein Portal, das mich auf die Negative Energie Ebene führte. Ich suchte natürlich sofort und verzweifelt einen Rückweg, aber ... es dauerte eine Weile. Eine Weile zu lang.“
Ambars grüne Augen weiteten sich ein wenig. „Und Ihr habt Euch nun tatsächlich in einen Untoten verwandelt? Meine Güte …“
Morânia spürte, wie Lorias Erzählung ihr einen scharfen Stich des Bedauerns durch die Brust jagte. Ein junger Mann in der Blüte seines Lebens und zudem ein Paladin des Nobanion – verwandelt in einen Untoten, ein Skelett. Sie konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie er sich wohl fühlen mochte. Auch Lereia schüttelte ungläubig den Kopf.
„Verzeiht die unwissende Frage einer Materierin“, sagte sie vorsichtig. „Aber passiert das immer, wenn man sich zu lange auf dieser Ebene aufhält?“
„Häufig“, erwiderte Sir Lorias bedauernd. „Wenn man nicht einfach stirbt, dann leider sehr oft.“
„Darf ich ... etwas fragen?“, schaltete sich nun Jana ein. „Habt Ihr möglicherweise irgendwie Kontakt zu einem Neugeborenen, Sir Lorias?“
Morânia runzelte kurz die Stirn ob der Frage, doch dann nickte sie verstehend. Natürlich, die Vision die Jana gehabt hatte, von dem Skelett mit dem Säugling im Arm. Der Verkünder konnte davon natürlich nichts wissen und wirkte auch dementsprechend verwirrt.
„Ihr stellt sehr seltsame Fragen“, bemerkte er. „Aber die Antwort ist nein, ich habe keinen Kontakt zu einem Neugeborenen. Derzeit, so denke ich, würden auch die wenigsten Eltern einen solchen Kontakt zulassen.“
Jana lächelte entschuldigend. „Wahrscheinlich. Aber vielleicht könnt Ihr das Bild im Hinterkopf behalten und es ... erkennen, falls es eintreten sollte?“
„Also, sollte ich es mit einem Säugling zu tun bekommen, setze ich Euch gerne in Kenntnis“, erwiderte Lorias noch verwirrter. Dann ließ er seinen Blick über die Versammelten schweifen. „Doch derzeit“, stellte er höflich fest, „bin ich aus einem anderen Grund hier, glaube ich.“
Sarin hatte den Verkünder mit einem intensiven, fast starren Blick fixiert und nickte nun kurz. „Das stimmt, Sir Lorias. Doch ehe Ihr beginnt, habe ich noch eine Frage. Mir wurde gesagt, Ihr wäret Paladin des Nobanion.“
„So ist es, Bundmeister.“ Lorias verneigte sich in Sarins Richtung. „Und ich versichere Euch, ich hin es noch. Ihr könnt mir glauben, trotz dieses Schicksalsschlages gab es keinen glücklicheren Moment in meinem Leben als den, in dem mir bewusst wurde, dass mein Gott mich nicht verstoßen hatte.“
Elyria lächelte sanft. „Weil er weiß, dass deine Werte und Überzeugungen noch dieselben sind.“
Morânia konzentrierte sich etwas intensiver, um Sir Lorias Aura wahrnehmen zu können und tatsächlich – die heilige Energie, die jeden Paladin umgab, war auch um den Verkünder herum zu spüren. Sie lächelte, während auch Sarin Lorias noch einmal genauer ins Auge fasste. Dann seufzte der Bundmeister des Harmoniums und rieb sich die Schläfen.
„Ich sehe, Ihr sagt die Wahrheit. Bei der Dame, das ist ja ...“
„Ich finde das sehr spannend!“, stellte Erin fest und konnte eine gewisse Begeisterung dabei nicht ganz verbergen. „Das ist eine ganz unglaubliche Geschichte!“
„Na ja …“, wandte Lereia leise ein. „Mir tut es sehr leid für Sir Lorias …“
Die Bundmeisterin der Sinnsaten hob mit einer entschuldigenden Geste die Hände, so als wollte sie ausdrücken, dass sie einfach nicht anders konnte, als eine gewisse Faszination ob dieser ungewöhnlichen Geschichte zu zeigen. Lorias verneigte sich gen Lereia wie auch Erin. „Danke, meine Damen. Ich bin auch noch sehr verwirrt und fühle mich verloren. Aber ich werde lernen, damit zu … leben, wollte ich schon fast sagen. Nun ja, Ihr wisst schon.“
Lereia lächelte zaghaft. „Es lässt Euch mit Sicherheit wachsen.“
„Oh, ganz eine Gläubige der Quelle.“ Der Verkünder lachte etwas. „Hoffen wir es.“
Ambar nickte Lereia lächelnd zu, während Sgillin sie mit großen Augen anstarrte, so als könne er nicht glauben, was sie soeben gesagt hatte. Doch er beherrschte sich gut genug, ihre Bundphilosophie nicht zu kommentieren, biss sich ein wenig auf die Lippen und schwieg. Sir Lorias hingegen wandte sich an Sarin.
„Darf ich neben Euch treten, Herr? Nicht, dass Ihr Anstoß daran nehmt.“
Der Bundmeister des Harmoniums lehnte sich zurück und seufzte kopfschüttelnd. Dann trat zum ersten Mal an diesem Abend ein leichtes Lächeln auf seine Lippen. „Von Paladin zu Paladin? Wie könnte ich? Ich werde mich daran gewöhnen müssen, aber ...“ Er sah in die Runde. „Ich muss mich im Moment an einiges gewöhnen.“
Lorias verneigte sich dankend und stellte sich dann gemeinsam mit Lady Elyria ans Kopfende des Tisches, zwischen Sarin und Terrance.
„Ich sagte es ja schon im Elysium“, ergriff nun die Lupinal das Wort. „Wir beide sind die Hüterin und der Verkünder. Wir sind es deswegen, weil wir das Wissen um die gesamte Prophezeiung der Erwählten haben. Und ich nehme an, Ihr möchtet sie gerne hören?“
„Ich schätze, das wäre im Moment das Wichtigste für uns Erwählte“, meinte Lereia, und alle anderen nickten sacht, um ihr zuzustimmen.
„Die Prophezeiung der Erwählten des Ringes ist sehr alt“, fuhr Elyria daraufhin fort. „Auch wir wissen nicht genau, wann sie niedergelegt wurde. Doch muss es zu einer Zeit gewesen sein, als die Ebenen selbst noch jung waren. Nicht von Geburt an hatten wir Kenntnis davon. Erst vor einigen Monaten wurde dieses Wissen in uns gelegt, auf dass wir die anderen Erwählten finden und es an sie weitergeben. Uns wurden mehrere Gruppen von Erwählten genannt, die wir an einem bestimmten Zeichen erkennen können. Euch erkannten wir durch folgenden Hinweis: Die den Deva-Funken in das Labyrinth des Einklangs bringen, dies sind jene, die ihr sucht.“ Lereia nahm ihr Buch zur Hand und begann, sich Notizen zu machen, während Elyria fortfuhr: „Da wir Euch durch diese Tat erkannten, sollt Ihr nun den Inhalt der Prophezeiung erfahren. Sie unterteilt sich in vier Abschnitte, und der Inhalt lautet folgendermaßen:
Der Beginn
Was ganz zu Anfang war, ist unbekannt. Doch irgendwann kamen die Götter, dies ist gesichert. Sie gewannen an Macht, wenngleich uns heute nicht klar ist, wodurch. Sie erforschten das Multiversum und ihr eigenes Wesen und sie begannen, zu erschaffen: die Himmel, die Höllen, die Elemente. Ihre Macht war unvorstellbar, die Möglichkeiten schienen endlos. Nichts schien außerhalb ihrer Fähigkeiten zu liegen.
Bis ihre Überlegungen ihnen ein Rätsel enthüllten, so groß, dass selbst der göttliche Intellekt es nicht lösen konnte. Das Große Konundrum war folgendes: Woher stammen die Götter? Sie waren fähig, alles zu erschaffen, wer aber hatte sie selbst in die Existenz gebracht?
Für viele Äonen dachten sie darüber nach, ohne eine Antwort zu finden. Sie waren sich zumindest immer sicher gewesen, dass es das wahre Wesen und Ziel göttlicher Existenz war, zu erschaffen. So beschlossen sie, zum ersten Mal, Wesen nach ihrem eigenen Bild zu schaffen. Sie hofften, durch dieses Experiment Licht in das Rätsel ihrer eigenen Existenz zu bringen. So entstanden die Sterblichen.
Sie beobachteten fortan die Sterblichen, wie diese in ihre Fußstapfen traten: Sie erforschten, überlegten und erschufen. Die Welten und Kulturen der Sterblichen gediehen und auch sie stellten sich bald die Frage: Woher kommen wir?
Dann kam die Zeit, in der die Götter nicht mehr damit zufrieden waren, ihr Experiment nur zu beobachten. Sie beschlossen, eine aktivere Rolle zu spielen. Viele der ersten Götter standen mit an der Spitze, als es zur bis dahin größten Errungenschaft der Sterblichen kam: zur Gründung der ersten Axialen Stadt – En Saro’ket.“
An dieser Stelle unterbrach Lady Elyria ihre Rezitation und sah zu Sir Lorias. Er nickte und fuhr fort:
„Der Ewige Kreis
Es gab einige Götter, denen der langsame und ergebnislose Fortschritt des göttlichen Experiments nicht gefiel. Diese abtrünnigen Götter wählten radikalere Methoden des Eingreifens. Sie ließen Sterbliche gegen Sterbliche antreten und En Saro’ket, die Erste Stadt, wurde zerstört. Tausende von Sterblichen wurden abgeschlachtet. Noch alarmierender für die Götter aber war, dass während dieses Kampfes ein Gott einen anderen getötet hatte. Diese „Ursünde“ markierte den Beginn des Großen Göttlichen Schismas.
Götter bekämpften Götter, Sterbliche bekämpften Sterbliche und die Schöpfung erbebte. Trotz seiner Grausamkeit endete der Große Krieg mit einem in Stein gemeißelten Pakt. Während dieses Konfliktes hatten die Götter bemerkt, dass ihre Macht nicht unbegrenzt war. Sie kamen daher überein, dass der Krieg enden musste, ehe sie sich selbst zerstörten. Der einzige Weg, ihre Machtfülle wieder herzustellen, war, die Energie, die sie in ihre Schöpfung gesteckt hatten, wieder zurückzunehmen. Das bedeutete konkret: die Seelen der Sterblichen, die Essenz der Schöpfung. Der auf dem Stehenden Stein besiegelte Pakt gab den Sterblichen erstmals einen freien Willen. Von nun an konnten die Götter die Sterblichen nur noch dazu bewegen, ihnen durch freiwillige Verehrung ihre Seelen zu überlassen. Damals teilte sich das Multiversum in die Reiche der Götter und der Sterblichen.
Zyklen begannen sich im Verlauf der Zeit herauszubilden – eine abwärts führende Spirale, in der die Götter miteinander um Wissen, Macht und Einfluss rangen. Um die Heiligkeit ihres alten Paktes zu wahren, benutzten sie Sterbliche als Schachfiguren in ihrem ewigen Krieg. Dieser Krieg dauert bis heute an.“
Der Verkünder verstummte und sah ernst zu Lady Elyria, die gemessen nickte. Nun übernahm wieder die Lupinal das Wort.
„Das Zeitalter von Arendur
Im Zentrum dieses großen Krieges stand immer eine riesige Stadt, eine Axiale Stadt. Beginnend mit En Saro’ket erhob sich in jedem Zyklus eine andere Stadt zu diesem Punkt und wurde der Gipfel und Inbegriff von Wissen, Glauben und Macht – nur um zu fallen, wann immer der Zyklus sein tragisches Ende erreichte. Arendur, die Stadt des vergangenen Zyklus, existierte im Zeitalter der Legenden. Wie die meisten Axialen Städte war Arendur ein Knotenpunkt, ein Nexus des Multiversums mit Türen an buchstäblich jeden Ort. Arendur war eine erstaunliche Stadt, in der sich die größten Denker und Schöpfer dieses Zeitalters versammelten. Der Schutzherr dieser Stadt war Aoskar, eine Gottheit des Wissens, der Möglichkeiten und der Tore. Unter seinem wachsamen Auge konnten Sterbliche scheinbar alles erreichen. Doch wie alle Großen Städte würde auch Arendur in einer vernichtenden Katastrophe enden. Einige Sterbliche wussten dies – und wollten das unvermeidliche Ende abwenden.
Ein außergewöhnlicher Sterblicher, ein Mann namens Tolumvire, hatte einige revolutionäre Ideen. Er schlug vor, das Multiversum zu vereinen, den Zyklus, in den sich die Zeit begeben hatte, zu beenden und ein neues, ganz anderes Zeitalter zu erschaffen, ehe alles wieder zerstört und vergessen würde. Gemeinsam mit den größten Magiern, Priestern, Psionikern und Alchemisten seiner Zeit wollte Tolumvire den ersten Teil seines Planes durchführen – das Multiversum zu vereinen. Doch während des großen Rituals der Verbindung ging etwas schief. So wurde Arendur zerstört und das Zeitalter der Legenden endete.“
Lady Elyria verstummte und sah zu Sir Lorias, damit er den letzten der vier Abschnitte preisgab. Der Paladin des Nobanion nickte und erhob abermals das Wort:
„Das Zeitalter der Abrechnung
Wie es immer geschah, geschah es auch dieses Mal: Eine neue Axiale Stadt wurde errichtet und ein neues Zeitalter begann. Der Name dieser Stadt ist Sigil – wenigen bekannt als die Letzte Stadt des Letzten Zyklus, des gegenwärtigen Zeitalters, des Zeitalters der Abrechnung.
Die Einwohner Sigils kennen die Herrscherin der Stadt als die Dame der Schmerzen. Sie regiert anders als einst Aoskar es tat. Gehüllt in Geheimnisse und Mysterien zerstört Sie Ihre Feinde auf brutale Weise und schickt jene, die den Frieden Sigils bedrohen, in die Irrgärten.
Verglichen mit Arendur ist Sigil restriktiver, dunkler und tödlicher. Und wie allen Großen Städten zuvor, ist es Sigil bestimmt, zu fallen. Doch gibt es auch in dieser Zeit jene, die denselben Ideen folgen wie damals Tolumvire. Noch sind diese Ideen im Dunklen und Verborgenen.
Die Bünde regieren Sigil, doch der Frieden ist brüchig. Krieg wird zwischen den Bünden ausbrechen und Blut die Straßen Sigils überschwemmen. Modronen marschieren über die Ebenen, der Blutkrieg weitet sich über die Höllen hinaus aus, alte Prophezeiungen werden wahr und sogar Götter fallen dem Ende des Zyklus zum Opfer. Das Ende der Zeit ist nah.
Und die Erwählten sind erwacht.“
Mit diesen Worten verstummte Sir Lorias. Auch sonst sprach niemand, eine schwere, lastende Stille legte sich über den Raum wie ein dunkles Gespinst. Morânia versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, doch sie schnellten umher wie aufgeregte Fische in einem rauschenden Bach. Sie fühlte sich, als sollte sie einen Ozean von Wissen in einem einfachen Eimer auffangen. Auch die anderen schienen sich sortieren und ihre Gedanken ordnen zu müssen, denn für eine Weile starrten alle die Hüterin und den Verkünder einfach nur an, um das Gehörte zu verarbeiten. Dann meldete sich, wenig überraschend, als erster Naghûl zu Wort.
„Also, die Erwählten sind erwacht.“ Er nickte immer wieder aufgeregt. „Aber wie geht es nun weiter? Was tun sie? Was ist ihre Aufgabe? Sollen sie diese Ideen verhindern oder verfolgen?“
Ambar hob in einer ratlosen Geste die Hände, während Lereia langsam und ungläubig den Kopf schüttelte.
„Das ist ganz schön viel“, sagte sie. „Und ich verstehe das alles nicht wirklich. Wird das ganze Multiversum ausgelöscht?“
Auch Janas Gedanken schienen in diese Richtung zu gehen. „Bedeutet das, dass in sehr naher Zukunft Sigil fallen und das Ende des letzten Zyklus kommen wird?“
„Das scheint uns die Prophezeiung zu sagen“, erwiderte Elyria ernst, aber ruhig. „Was Ihr eben gehört habt, ist der Hauptteil der Prophezeiung. Aber ehe wir uns darüber Gedanken machen, würdet Ihr vielleicht gerne erfahren, wer Ihr seid?“
Morânia runzelte die Stirn. „Wer wir sind? Was meint Ihr damit?“
Sie wechselte einen kurzen Blick mit Lereia, die ebenso fragend die Schultern hob, dann aber der Hüterin zunickte. „Ja, das würden wir gerne wissen.“
Elyria lächelte daraufhin, nahm Lorias Hand und blickte von einem zum anderen. Dann sprach sie: „Wir sind die Kinder, die hüten, was ist und verkünden, was sein wird. – Sie, die alles vereinen und erwecken, was schläft. Wir sind die Hüterin und der Verkünder.“
Wenngleich Morânia nicht ganz verstand, wohin das führen mochte, hörte sie dennoch aufmerksam zu und beobachtete gespannt, wie die Lupinal nun die Hand des Verkünders wieder losließ und zu Naghûl hinüber trat. Ihr Mann blickte Elyria aufgeregt an, und sie lächelte sacht, als sie ihm eine Hand auf die Schulter legte. „Du bist das Kind, das die unsichtbaren Zeichen erkennt“, sprach sie zu ihm. „Er, der sieht, was die Götter verbergen wollen. Du bist der Sucher.“
Naghûl blickte sie mit leuchtenden Augen an. „Der Sucher“, wiederholte er, fast andächtig. „Meine Zeichen, natürlich. Ja, ich verstehe ...“
Erin lächelte bei diesen Worten, ein wenig stolz, fast so als habe sie selber sich die Rolle für Naghûl ausgedacht. Morânia musste innerlich schmunzeln. Manchmal beneidete sie die Sinnsaten um ihre fast kindliche Begeisterungsfähigkeit in nahezu jeder Situation. Doch rasch richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Sir Lorias, der nun zu Kiyoshi hinüber trat.
Er legte ihm eine Hand auf die Schulter, ganz so wie Elyria es bei Naghûl getan hatte. Dann verkündete er feierlich: „Du bist das Kind, das die Alte Sprache versteht. – Er, der die Worte der Götter spricht. Du bist der Wächter.“
Der junge Soldat versuchte offenbar sein Bestes, um seine übliche, unbewegte Miene zu wahren, doch diesmal gelang es ihm nur unzureichend. Morânia vermeinte, eine Mischung aus Ehrfurcht und Verwirrung auf seinem Gesicht zu erkennen. Doch dann nickte er, gemessen und ernst. „Ich verstehe. Es ist mir eine Ehre, diese Rolle in der Prophezeiung einzunehmen, ehrenwerter Sir Lorias-san.“
Er warf einen kurzen Blick zu Sarin, der ihm knapp zunickte, offenbar zufrieden mit dem Teil, der seinem Soldaten in dieser Sache zugedacht war. Dann war es offenbar wieder an Lady Elyria, das Wort zu ergreifen, denn sie ging zu Lereia und legte ihr sacht eine Hand auf die Schulter.
„Du bist das Kind, das den Duft der Ebenen kennt“, sprach sie. „Sie, die aus Duft Materie webt und aus Materie Zukunft und Schicksal. Du bist die Schöpferin.“
Lereia sah sie mit einem sachten Lächeln an, offenbar nicht unangenehm berührt ob dieser für sie genannten Rolle. „Das klingt sehr schön, finde ich. Ich … danke Euch, Lady Elyria.“
Sie blickte zu Ambar, und auch ihr Bundmeister war offenbar durchaus angetan von den Worten der Hüterin, denn in seinen grünen Augen lag ein warmes Lächeln. Auch er neigte dankend den Kopf in Richtung der Lupinal. Morânia hielt kurz den Atem an, als Sir Lorias nun zu ihr herüber kam. Er deutete eine Verneigung an und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Die Handschuhe hatte er abgelegt, so dass die Bal'aasi nun seine harten Knochenfinger durch den Stoff ihrer Kleidung spürte. Sie fühlte zugleich eine untote wie auch eine geheiligte Aura von ihm ausgehen – eine durchaus verwirrende Erfahrung. Doch es gelang ihr, ein instinktives Schaudern zu unterdrücken, als sie seinen knöchernen Griff spürte, und sie sah ihm freundlich entgegen. Seltsamerweise hatte sie das Gefühl, eine Art Lächeln wahrnehmen zu können, obgleich Lorias Gesicht die unbewegte Knochenmaske eines blanken Schädels war. Dann sprach er:
„Du bist das Kind, das die Seele des Himmels trägt. – Sie, die Antworten gibt von jenseits der Zeit. Du bist die Botin.“
Die Seele des Himmels. Ja, obgleich sie nach wie vor nicht wusste, mit welchem Engel sie auf diese besondere Weise verbunden war, entlockte die Beschreibung Morânia ein Lächeln. Es fühlte sich … richtig an. Und als Botin hatte sich der Engel ihnen ja auch vorgestellt. Sie warf einen Blick zu ihrer Bundmeisterin und Rhys nickte sacht, wissend. Trotz der vielen, teils verwirrenden und teil ängstigenden Informationen, die sie gerade bekommen hatten, war die Tieflingsfrau eine willkommene Quelle der Ruhe und Ausgeglichenheit. Dies war eine der Eigenschaften, die Morânia seit jeher am meisten an Rhys schätzte: ihre innere Stärke und Balance, verbunden mit einer warmen Offenheit für die Ihren. Sie konnte undurchschaubar und geheimnisvoll wirken, das war Morânia bewusst, doch für sie war Rhys dennoch immer ein sicherer Hafen, wenn die Dinge stürmisch wurden. Dann sah sie wieder zu Sir Lorias und neigte den Kopf. „Ich danke Euch. Es ist eine Beschreibung und eine Rolle, die ich gerne annehme.“
Er nickte leicht und sah dann zu Elyria. Die Lupinal war wieder an der Reihe, und sie trat nun zu Jana. Sie schenkte Terrance ein Lächeln, das der Bundmeister der Athar warm erwiderte, dann legte sie der Hexenmeisterin eine Hand auf die Schulter und sprach:
„Du bist das Kind, das in Vergangenheit und Zukunft blickt. - Sie, die sieht, was vergangen ist und was kommt. Du bist die Prophetin.“
Jana lächelte ein wenig verlegen und warf einen raschen Blick zu Terrance. Doch war deutlich zu erkennen, dass sie im Gegensatz zu der Zeit, als all dies begonnen hatte, ihre Gabe und Rolle nun akzeptierte und deren Bedeutung nicht mehr in Frage stellte. Ihr Bundmeister nickte ihr freundlich und bestärkend zu, und so sah sie wieder zu der Lupinal.
„Also, das … ich weiß nicht, was ich dazu … Danke, denke ich ...“ Wie des Öfteren in aufwühlenden Situationen verhedderte Jana sich in ihren Worten und verstummte mit einem entschuldigenden Lächeln.
Elyria schmunzelte sacht und sah zu Lorias, der nun an Sgillins Seite trat, des letzten Erwählten, dessen Rolle und Name in der Prophezeiung noch nicht genannt worden war. Der Paladin des Nobanion legte auch ihm eine Hand auf die Schulter, schien dann jedoch zu zögern. Er tauschte einen kurzen Blick mit Elyria, doch die Lupinal nickte ihm bekräftigend zu. Diese kurze Interaktion verwirrte Morânia, doch hatte sie keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, da sich Sir Lorias nun an Sgillin wandte:
„Du bist das Kind, das Geist und Geist vertauscht. - Er, der durch fremde Augen sieht und dabei tausend Masken trägt. Du bist … der Verräter.“
Sgillin riss ungläubig die Augen auf, als der Verkünder ihn dermaßen adressierte. Auch Morânia traute ihren Ohren kaum … hatte sie sich gerade verhört? Doch dem schien nicht so, denn zum zweiten Mal bei diesem Treffen erhob sich Sarin ruckartig aus seinem Stuhl.
„Wie bitte?!“
Elyria hob sogleich beschwichtigend die Hände. „Wir wissen nicht, was das genau bedeutet.“
„Nun, das erscheint mir doch recht offensichtlich.“ Sarins Blick wanderte zu Sgillin, mit einem Ausdruck, der befürchten ließ, dass sich die Vorgänge aus dem Garten der Festhalle von vor zwei Tagen wiederholen könnten.
„Mit Verlaub, Herr“, entgegnete Lorias vorsichtig. „Aber ich habe lediglich Sgillins Gabe beschrieben und den Namen genannt, den ihm die Prophezeiung zuordnet. Was genau dies aber zu bedeuten haben mag, das ist auch Elyria und mir nicht bekannt.“ Er sah zu dem Halbelfen und neigte leicht den Kopf. „Und ich entschuldige mich vielmals. Aber ich habe mir das nicht ausgedacht, es … ist einfach so.“
Sarins Blick wurde ob dieser Worte nicht weniger finster, doch nun beugte sich Rhys ein wenig in ihrem Stuhl vor und sah ihn beschwichtigend an. „Ich denke auch, dass hier mehr dahinter steckt, als offensichtlich erscheint“, meinte sie diplomatisch. „Wenn Sgillin uns verraten sollte und dann in der Prophezeiung den Titel Verräter trägt, das wäre vielleicht doch etwas zu … plump.“
„Das denke ich ehrlich gesagt auch“, stimmte Terrance ihr zu.
Sarin schnaubte. „Ja, da habt Ihr schon Recht, das wäre in der Tat ein wenig plump. Aber Ihr könnt doch nicht erwarten, dass ich das nun einfach ignoriere.“
„Also, ich hab keineswegs vor, hier irgendwen zu verraten“, warf Sgillin ein. „Ich weiß nicht, was das soll. Aber es hat nichts mit dem zu tun, was ich plane.“
„Und was plant Ihr?“, hakte Sarin sofort ein.
„Ich … nichts!“ Man konnte Sgillin ansehen, dass er sich - verständlicherweise - zunehmend unwohl fühlte unter all den Blicken, die auf ihm ruhten.
„Mein lieber Sarin“, schaltete sich nun Erin ein. „Niemand hier erwartet, dass Ihr etwas ignoriert. Es ist vollkommen klar, dass diese Sache Euch alarmiert, und ich denke, wir alle sind gerade überrascht davon. Sgillin eingeschlossen, wie ich anmerken darf. Aber wie Sir Lorias und meine geschätzte Kollegin Rhys sagten: Wir wissen einfach noch nicht, was das zu bedeuten hat.“
Ambar nickte. „Das stimmt. Es könnte ja auch sein, dass Sgillin jemand ganz anderen verrät und nicht etwa uns. Oder dass das etwas völlig anderes meint und nur eine Metapher ist.“
Morânia konnte beobachten, wie Lereia bei seinen Worten tief durchatmete und ihm fast dankbar zulächelte. Dass nach allem, was im Elysium und zwei Tage zuvor im Garten der Festhalle vorgefallen war, diese neue Enthüllung die junge Frau unter Druck setzte, konnte Morânia sich sehr gut vorstellen und sie beneidete sie wirklich nicht um diese Lage. Sarin hingegen hatte sich durch das Einwirken der anderen Bundmeister wieder ein wenig beruhigt. Die Bal'aasi seufzte innerlich. Auch seine Lage konnte sie gut nachfühlen. Immerhin war er Bundmeister des Harmoniums und saß hier mit einem Anarchisten, der gerade als Verräter in der Prophezeiung enthüllt worden war. Auch nicht gerade eine einfache Situation. Die Prophezeiung stellte sie alle vor einige Herausforderungen, wie es schien.
„Also bitte.“ Sarin hob abwehrend die Hände und nahm wieder Platz. „Na schön, ich werde darüber nachdenken und es in Betracht ziehen. Aber ich garantiere nicht dafür, dass all das nicht noch Konsequenzen für Euch nach sich ziehen wird, Sgillin.“
Der Halbelf presste die Lippen zusammen und erwiderte nichts, sah nur missvergnügt von Sarin zu Lorias. Ja, auch er war in einer mehr als schwierigen Lage, und es tat Morânia leid, dass er nun so in die Ecke gedrängt war. Sie kannte Sgillin schon seit einer Weile, sie hatten auf der Materiellen Ebene einige Kämpfe Seite an Seite bestanden und sie mochte den Waldläufer. Nach ihrer ersten Verärgerung damals im Elysium glaubte sie ihm inzwischen durchaus, dass sein Anschluss an die Anarchisten eher eine ungeschickte Fügung gewesen war als Absicht oder gar ein böswilliger Plan. Und auch, wenn offenbar sogar Sarin in Betracht zog, dies gelten zu lassen, so war Sgillins Lage doch alles andere als beneidenswert. Noch einmal warf sie einen kurzen Blick zu Lereia, stellte aber fest, dass deren Körpersprache nun eher von gespannter Aufregung denn von Nervosität oder Unbehagen zeugte. Die junge Frau setzte sich etwas aufrechter hin und räusperte sich.
„Verzeihung“, sagte sie. „Ich weiß, das war gerade ein sehr ernstes Thema und ich möchte von nichts ablenken, aber ich glaube, ich habe gerade etwas Wichtiges gespürt.“
Terrance warf ihr einen freundlichen Blick zu. „Das klingt in der Tat wichtig, Lereia. Was habt Ihr wahrgenommen?“
„Nun ...“ Sie strich sich rasch eines Strähne ihres weißen Haares zurück. „Wie Ihr Euch sicher alle erinnert, hatte ich berichtet, dass ich allein bei den Erwählten der Prophezeiung keine seelische Signatur wahrnehmen kann. Dies trifft im Übrigen auch auf Sir Lorias und Lady Elyria zu. Oder besser … traf.“
„Traf?“ Ambar hob die Brauen. „Das heißt, Ihr nehmt nun doch etwas wahr?“
„Ja!“ Lereia nickte aufgeregt. „Als Sir Lorias Sgillins Gabe und Namen nannte, da geschah etwas. Durch die sehr … überraschenden Worte des Verkünders war ich abgelenkt und habe mich zuerst gar nicht so genau darauf konzentrieren können. Aber nun nehme ich es ganz deutlich wahr: Ich spüre nun seelische Signaturen bei allen Erwählten!“
„Wirklich?“ Naghûl sprang im Überschwang fast von seinem Stuhl auf. „Was spürst du bei mir?“
Die junge Frau lächelte warm, als sie ihn musterte. „Ich nehme einen blühenden Baum wahr, dessen Blüten sich der Sonne öffnen.“
Naghûl nickte strahlend und tauschte einen begeisterten Blick mit seiner Bundmeisterin, während Lereias Augen zu Kiyoshi weiter wanderten.
„Bei Euch spüre ich glänzendes Elfenbein im Wüstensand.“ Dann sah sie zu der Hexenmeisterin. „Und bei Jana sind es silberne Schatten, die sich in der Tiefe des Waldes miteinander verweben.“
Die Angesprochenen tauschten einen kurzen Blick mit ihren Bundmeistern aus, die beide durchaus Gefallen an Lereias Beschreibung zu finden schienen.
Morânia lächelte ob dieser poetischen Umschreibungen und sie musste zugeben, dass sie ausgesprochen gespannt auf ihre eigene Signatur war.
Lereia sah denn auch zu ihr und erklärte: „Bei Morânia nehme ich die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne wahr.“
Die Bal'aasi lächelte, angenehm berührt, aber doch erstaunt, dass Lereias Beschreibung so gut zu ihrer Berufung als Paladin des Lathander passte. Sie warf ihrer Bundmeisterin einen kurzen Blick zu, der ihr sagte, dass Rhys weniger überrascht war als sie selbst. Sie musste dies wohl, wie so oft, auf deren besondere Verbindung zur Kadenz der Ebenen schieben und wünschte bei sich, sie würde auch eines Tages zumindest in die Nähe dieses erleuchteten Zustandes gelangen.
Lereia wandte sich nun an Elyria und Lorias. „Bei Euch ist es sehr interessant. Denn ich nehme bei Euch beiden dieselbe Signatur wahr. Das habe ich bisher noch nie erlebt.“
„Oh.“ Die Lupinal sah sie überrascht an. „Das klingt in der Tat ungewöhnlich. Aber wir haben sicher beide eine? Ich meine … Sir Lorias auch, nicht wahr?“
Sie warf dem Paladin des Nobanion einen etwas besorgten Blick zu, doch Lereia nickte sogleich beruhigend. „Ja, ganz sicher, ich spüre von Euch beiden eine Signatur: einen Bach, der sanft über helle Steine plätschert. Ihr scheint sie Euch auf irgendeine Weise zu teilen. Ich weiß auch nicht, was genau das bedeutet oder wie es überhaupt möglich ist. Ich … kann nur sagen, was ich wahrnehme.“
Sir Lorias verneigte sich leicht gen Lereia. „Dann ergeht es Euch ganz genauso wie uns. Wir sagen anderen ebenso Dinge, die wir selber nicht ganz begreifen. Aber so verstehen wir zumindest einander.“
Lereia musste ein wenig lachen. „Ja, das stimmt, Sir Lorias.“ Dann wandte sie sich an Sgillin, noch immer mit einem leichten Schmunzeln. „Und bei dir spüre ich die tanzenden Flammen eines wilden Feuers.“
„Hm, das klingt gut finde ich.“ Der Halbelf grinste, zum ersten Mal seit Beginn des Treffens wieder in seiner für ihn typischen Art.
„Und Ihr selber?“, fragte Ambar nun gespannt. „Was nehmt Ihr bei Euch wahr?“
Nun wurde Lereias Blick etwas ernster. „Leider nichts“, erwiderte sie. „Ich kann bei allen hier Anwesenden etwas spüren. Die Signaturen von Euch, Bundmeister Terrance und Bundmeister Sarin habe ich ja schon einmal beschrieben. Bei Lady Erin spüre ich weißen Flieder und schwarze Rosen, ineinander rankend an einer Burgmauer wachsend, an einem warmen Sommertag, kurz bevor ein Sturm aufzieht. Und bei Bundmeisterin Rhys ist es ein weites Kornfeld mit reifen, vollen Ähren in einem sachten Wind. Zwischen den goldgelben Halmen wachsen Tausende von roten Mohnblüten und es riecht nach einem warmen Herbsttag.“ Sie lächelte die beiden Bundmeisterinnen an, als diese ihr zunickten, dankend und offenbar angenehm berührt ob der Beschreibung. „Nur bei mir selber ...“ Sie hob die Hände. „Leider nichts.“
„Oh.“ Ambar nickte verstehend. „Das tut mir sehr leid. Vielleicht könnt Ihr Eure Gabe quasi nicht bei Euch selber einsetzen. Oder aber, Ihr lernt es erst noch und könnt es eines Tages doch wahrnehmen.“ Er lächelte ihr aufmunternd zu.
Lereia nickte dankbar und, so mochte es Morânia erscheinen, mit einem Anflug von Verlegenheit, ehe sie wieder in die Runde sah. „Nun, das … ist alles. Ich wollte es nur erwähnen, weil es mir wichtig erschien.“
„Oh, ich bin sicher, das ist es!“ Erin war so begeistert, wie es alle Sinnsaten waren, wenn wie etwas Aufregendes und Neues erfuhren. „Auch wenn ich mir nicht erklären kann, was es bedeutet, so ist es unzweifelhaft sehr spannend! Ich meine, Ihr müsst doch davor gewiss auch eine Seele gehabt haben, aber warum habt Ihr deren Signatur bis jetzt nicht gespürt?“
„Das ist allerdings eine sehr gute Frage“, stimmte Terrance zu, deutlich gelassener, aber offenkundig nicht weniger interessiert. „Wir setzen sie auf unsere immer länger werdende Liste guter Fragen.“
Die Ironie, die in seiner Stimme mitschwang, entlockte Erin, Rhys und Ambar ein herzliches Lachen, und sogar Sarin musste schmunzeln, so finster seine Stimmung an diesem Tag auch war. Auch die Erwählten grinsten und Elyria nickte sacht.
„Ja, in der Tat, mein Freund: so viele offene Fragen und so wenige eindeutige Antworten. Und ich fürchte, wir müssen der Liste noch ein paar hinzufügen.“
„Noch mehr?“ Sarin runzelte die Stirn. „Söhne von Dis, was kommt denn jetzt noch?“
Er räusperte sich sogleich entschuldigend ob seines Fluches in Gegenwart einer Celestin, doch die Hüterin winkte begütigend ab.
„Wir haben Euch die Prophezeiung enthüllt“, erklärte sie. „Und wir haben auch gesagt, was sie zu den einzelnen – zumindest den hier versammelten – Erwählten enthält. Es gibt jedoch auch noch einen Teil, der Euch betrifft, verehrte Bundmeister.“
„Uns?“ Ambar hob die Brauen. „Ich nahm bisher immer an, die Prophezeiung sei ausschließlich mit den Erwählten verknüpft. Den Kindern, wie sie genannt werden, die jene besonderen Gaben besitzen. Aber Ihr wollt sagen, dass auch wir hier eine Rolle darin spielen?“ Er wies auf seine Kollegen und dann auf sich selbst.
„So ist es“, bestätigte Sir Lorias. „Das Wissen, das uns dazu enthüllt wurde, enthält auch eine Strophe zu jedem hier anwesenden Bundmeister. Möchtet Ihr sie hören?“
„Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, ob ich das möchte“, erklärte Sarin seufzend. „Aber wie es aussieht, bleibt uns ebenso wenig eine Wahl wie den Erwählten.“
„Ich fürchte, das trifft zu, Bundmeister“, erwiderte Elyria seufzend und richtete ihren Blick dann auf Terrance. „Soll ich … mit Euch den Anfang machen, lieber Freund?“
Der Bundmeister der Athar hob die Brauen und in seinen klaren, blauen Augen stand eine Spur von Sorge. „Ihr wirkt sehr ernst, werte Elyria. Ist die Strophe, die mich betrifft, denn so Unheil verheißend?“
„Nun …“ Sie zögerte kurz. „Ich möchte sagen, sie regt durchaus … zum Nachdenken an. Aber macht Euch selbst ein Bild, mein Freund. Die Zeilen lauten folgendermaßen:
Wer rief dich, das Siegel zu erben?
Nun sollst du im Finstern dich winden
Und seufzend, ein Licht zu erwerben,
Ertauben, verstummen, erblinden!
Der Anfang des Wissens heißt: sterben.
Das Ende: Im Licht zu verschwinden.
Ihr, mein lieber Freund Terrance, seid der Siegelbewahrer der Dame.“ Sie verstummte und musterte den Bundmeister der Athar nun ruhig, aber nicht ohne Sorge mit ihren saphirblauen Augen.
Terrance verschränkte die Finger ineinander, wie er es oft tat, wenn er nachdachte, und lehnte sich langsam zurück, recht souverän ignorierend, wie nun die Blicke aller Anwesenden auf ihm lasteten. „Nun“, meinte er nach einer Weile. „Das klingt erst einmal wenig erfreulich, das muss ich zugeben.“
Jana blickte ihn mit einigem Unbehagen an. „Es passt irgendwie … zu der Vision, die … die ich über Euch ...“
„Ja.“ Terrance nickte ihr ruhig zu. „Es fällt schwer, die Vision und diese Strophe nicht in Verbindung zu bringen.“ Er sah wieder zu Elyria. „Und Ihr könnt mir nicht mehr dazu sagen?“
„Leider nein“, erwiderte die Hüterin mit aufrichtigem Bedauern. „Ich wünschte, ich könnte es. Doch das ist alles, was wir dazu wissen.“
„Nun gut.“ Der Hohepriester nickte gemessen. „Dann müssen wir uns fürs erste damit begnügen. Wer weiß schon, was die Zukunft bringt. Ich werde Eure Worte ebenso wie Janas Vision sehr wohl im Kopf behalten. Aber nicht zulassen, dass nun all meine Erwägungen oder Handlungen davon beeinflusst werden.“
„Eine weise Entscheidung“, stimmte Rhys ihm zu. „Noch können wir nicht erschließen, was all das bedeuten soll. Auf jeden Fall sollten wir uns erst noch den Rest anhören.“
Sir Lorias nickte. „Natürlich, Bundmeisterin. Dann ist die Reihe wieder an mir.“
Er trat nun von Sgillin weg, hinüber zu Ambar. Gespannt richtete der Barde sich in seinem Stuhl auf und sah den Verkünder abwartend an. Obwohl dieser inzwischen ein Skelett war und daher keiner Luft mehr bedurfte, wirkte es fast, als atmete er einmal tief durch, ehe er begann:
„Den Stab willst du tragen vor andern?
So irr nun, beraubt aller Gaben,
Den endlosen Pfad von Mäandern,
In Felslabyrinthen begraben!
Der Anfang des Wollens heißt: Wandern.
Das Ende: Die Liebe zu haben.
Ihr, Bundmeister Ambar, seid der Herold der Dame.“ Lorias beendete seine Worte mit einer Verneigung und der Barde nickte langsam.
„Das klingt zugegeben auch nicht viel besser als die Strophe von Terrance. Nun ja, bis auf das Ende. Die Liebe haben hört sich doch gut an.“ Er schmunzelte. „Und wenn alles darauf hinaus läuft, dann bin ich guter Dinge.“
Lereia lächelte ein wenig bei seinen Worten, doch konnte man ihr deutlich anmerken, dass die Worte des Verkünders ihr dennoch Sorgen bereiteten. Wenn man sich in Erinnerung rief, wie Jana Ambar in ihrer Vision gesehen hatte, dann war das auch durchaus nachvollziehbar. Terrance musterte seinen langjährigen Freund aufmerksam, ließ ihm die lockere Art, in der er das ernste Thema zu überspielen versuchte, jedoch offenbar durchgehen, denn er sagte nichts. Lady Elyria entfernte sich nun von Terrance und trat zu Sarin hinüber.
„Bundmeister“, sagte sie höflich. „Wenn ich darf?“
Der Paladin lehnte sich in seinem Stuhl zurück und nickte knapp, man konnte ihm jedoch deutlich ansehen, dass die Situation ihm nicht behagte. Die Hüterin nickte sacht, ehe sie ansetzte:
„Das flammende Schwert willst du schürzen?
Die Hölle hohnlacht deines Strebens,
Dein Herzblut mit Schrecken zu würzen.
Dem Abgrund entfliehst du vergebens.
Zu wagen beginnen, heißt: Stürzen.
Das Ende: Die Fülle des Lebens.
Ihr, Bundmeister Sarin, seid der Ritter der Dame.“ Sie vollführte zum Abschluss ihrer Ausführung einen tiefen Knicks.
Der Bundmeister des Harmoniums weitete die Augen, als die Lupinal ihm diese Worte darlegte. Sie entfernte sich sogleich ein wenig von seinem Stuhl, mit einer entschuldigenden Miene, auch wenn sie für den Inhalt der Strophen ja nicht verantwortlich war. Dann wechselte die Überraschung in Sarins Blick zu einer Mischung aus Unbehagen und Unmut. Ja, dachte Morânia bei sich, einem Paladin das Hohnlachen der Hölle weiszusagen, konnte gewiss nicht auf Begeisterung stoßen.
„Was soll das bitte bedeuten?“, fragte der Bundmeister des Harmoniums. Sein Tonfall war unüberhörbar schroff, doch war die Schärfe in seiner Stimme gewiss nicht Elyria selbst, sondern ihren aufwühlenden Worten geschuldet.
Ihre Ohren zuckten kurz, als sie antwortete. „Es tut mir sehr leid, Bundmeister, aber ich weiß es nicht. Ich versichere Euch, könnte ich Euch irgendetwas Erhellendes dazu sagen, so würde ich es tun. Aber was Bedeutung und Sinn dieser Worte angeht, so wissen wir leider ebenso wenig wie Ihr.“
Es wurde Sarin wohl bewusst, in welchem Tonfall er die Celestin angesprochen hatte, daher neigte er leicht den Kopf. „Bitte entschuldigt meinen unangemessenen Umgang, Lady Elyria. Eure Worte rufen einige Bedenken in mir wach, das muss ich offen zugeben. Sie rechtfertigen jedoch nicht mein Gebaren.“
„Aber nein, Bundmeister.“ Die Lupinal lächelte bereits wieder. „Es ist schon gut. Ich verstehe, dass das sehr verwirrend und auch beunruhigend ist. Dass es Euch aufwühlt, ist nur zu verständlich.“
Er nickte ihr dankend zu. „Ich gestehe, das tut es durchaus. Aber da, wie Ihr sagt, wir im Moment keinerlei weitere Anhaltspunkte haben, werde ich Eure Worte erst einmal mitnehmen und ruhen lassen. Sie werden mich in nächster Zeit gewiss oft genug beschäftigen. Aber ich bin sicher, trotz ihrer offensichtlichen Bedeutungsschwere möchten auch meine beiden Kolleginnen hier gerne die Worte hören, die sie betreffen.“
Auf diese Feststellung hin trat Sir Lorias zu Rhys hinüber, wartete jedoch ihr zustimmendes Nicken ab, ehe er zur nächsten Strophe ansetzte:
„Verflucht ist von nun an das Zaudern!
Streck aus nach dem Kelch deine Rechte!
Der Trunk macht dich nie wieder plaudern,
Denn Sie fordert schweigende Knechte.
Der Anfang des Schweigens heißt: Schaudern.
Das Ende: die Macht aller Mächte.
Ihr, Bundmeisterin Rhys, seid die Botschafterin der Dame.“ Er verneigte sich zum Abschluss seiner Worte tief vor ihr.
Rhys hatte ihn die ganze Zeit über sehr aufmerksam angesehen und still zugehört. Nun nickte sie sacht. „Ich danke Euch, Sir Lorias.“
Dann lehnte sie sich zurück und sah zu Elyria, offenbar in der Erwartung, dass diese sich nun an Erin wenden würde. Die irritierten Blicke der Runde aber blieben bei Rhys.
„Ähm … mehr wollt Ihr nicht dazu sagen?“, fragte Ambar zweifelnd.
„Nein“, erwiderte Rhys ruhig. „Zumindest jetzt noch nicht.“
Trotz des Inhaltes der Strophe, der Morânia verwirrend und auch düster erschien, musste die Bal'aasi ein wenig schmunzeln. Die Reaktion ihrer Bundmeisterin überraschte sie nicht, doch sie erlebte immer wieder, dass Rhys Verhalten gut geeignet war, Irritation hervorzurufen. Als sie tatsächlich nichts mehr erwiderte, sondern Ambar nur ruhig zulächelte, hob der Barde abwehrend die Hände.
„Natürlich, wie Ihr meint, werte Kollegin. Ich dachte ja nur ...“
Rhys schmunzelte leise, dann wanderte ihr Blick zu Erin, zu der Lady Elyria nun hinüber gegangen war. Die Bundmeisterin der Sinnsaten legte beide Hände ineinander und presste sie zusammen. „Bitte“, meinte sie. „Ich bin sehr gespannt.“
Die Hüterin nickte und hob zur letzten geheimnisvollen Strophe an:
„Nun reite auf Einhorn und Drachen!
Und hast du die Sphinx überwunden,
Der Schlange greif kühn in den Rachen,
Am tödlichen Gift zu gesunden.
Der Anfang der Freiheit heißt: Lachen.
Das Ende wird nimmer gefunden. 1)
Ihr, Bundmeisterin Erin, seid das Gefäß der Dame.“ Sie vollführte zum Abschluss einen eleganten Knicks.
Morânia war überrascht. Sie wusste nicht genau, was sie bei Erin erwartet hatte, aber auf jeden Fall nicht das, was die Hüterin nun preisgegeben hatte. Sowohl der Inhalt der Strophe an sich als auch die Bezeichnung Gefäß der Dame erstaunten sie, und ein kurzer Blick in die Runde zeigte ihr, dass es den anderen offenbar ähnlich erging.
Auch Erin selbst wirkte verwundert. „Das Gefäß?“
„Bitte fragt nicht“, meinte die Hüterin lächelnd.
Der Ausdruck der Bundmeisterin wandelte sich von überrascht zu aufgeregt. „Oh, ich hätte tausend Fragen!“
„Und ich habe keine Antworten“, erwiderte Elyria bedauernd.
Erin nickte verstehend und runzelte die Stirn. „Gefäß der Dame …“, wiederholte sie, eher für sich. Dann nickte sie der Hüterin dankend zu und verfiel kurz ins Grübeln.
Elyria trat trat nun wieder an Lorias Seite und der Verkünder wandte sich an alle Versammelten. „Nun haben wir Euch gesagt, was wir wissen“, erklärte er feierlich und verneigte sich.
Terrance lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Das reicht auch fürs erste …“, stellte er seufzend fest.
Morânia versuchte, das soeben Erfahrene für sich zu sortieren und erkannte, dass es den anderen wohl ebenso erging. Alle Anwesenden wirkten wahlweise nachdenklich, irritiert oder besorgt, selbst Kiyoshi gelang es nur teilweise, sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Und sogar von ihrer Bundmeisterin nahm Morânia derartige Schwingungen wahr.
Schließlich war es Lereia, die sich als erste wieder zu Wort meldete. „Dürfen wir Euch noch etwas fragen?“
„Ich weiß nicht, ob wir Antworten haben“, erwiderte Elyria freundlich. „Aber fragt.“
Die junge Frau nickte ihr dankend zu. „Wisst Ihr noch etwas über unsere Gaben im Speziellen? Wie viele Erwählte wir insgesamt sind und was wir eigentlich für eine Rolle in dieser ganzen Prophezeiung spielen? Wozu sind wir erwacht?“
„Genau“, klinkte Naghûl sich ein. „Nun kennen wir den Ursprung der Zyklen. Wir wissen nun mehr über Sigil. Aber was ist mit den Erwählten, die erwachten? Welche Rolle spielen sie? Man kann doch die Prophezeiung nicht damit enden lassen, dass die Erwählten erwachen.“
Elyria senkte kurz den Kopf und schmunzelte dabei. „Ehrlich gesagt dachte ich mir dasselbe. Und ich vermute, dass dies nicht alles ist, was wir wissen. Unsere Gabe ist es, Wissen zu hüten und weiterzugeben. Wie Eure Gaben wird unsere wahrscheinlich wachsen und wir können mehr Wissen weitergeben. Aber jetzt noch nicht.“
Lereia nickte verstehend. „Also wisst Ihr noch nicht mehr als das, was Ihr uns heute berichtet habt?“
„Nicht im Moment“, erwiderte Sir Lorias. „Wir sollten Euch aber mitteilen, dass wir auch den anderen Erwählten die Prophezeiung enthüllen werden. Denn auch sie haben uns gefunden, so wie Ihr, nur an anderen Orten.“
„Und wenn wir versuchen, das zu unterbinden?“ Jana hatte die Frage gestellt ohne aufzusehen und bemerkte daher den stirnrunzelnden Blick ihres Bundmeisters nicht.
Der Verkünder jedoch ließ sich durch die Frage nicht aus der Ruhe bringen. „Ja, das könntet Ihr versuchen“, antwortete er sachlich. „Ich habe keine Ahnung, wozu das führen würde.“
„Wir sagen jedem nur, was ihn selbst betrifft“, erklärte Elyria. „Aber es ist gut möglich, dass Ihr dennoch bald mehr darüber erfahrt. Sei es über die Prophetin, über die Botin oder auf anderen Wegen.“
Kiyoshi nickte ernst. „Ich danke Euch für diese erleuchtenden Worte“, sagte er.
Sarin bedachte seinen Soldaten mit einem skeptischen Blick und man konnte ihm deutlich ansehen, dass er die Enthüllungen der Hüterin und des Verkünders als weniger erleuchtend empfand.
Naghûl schien es ähnlich zu gehen, denn er runzelte nachdenklich die Stirn. „Ja, danke für Aufklärung und neue Verwirrung“, meinte er. „Was wäre die ganze Prophezeiung denn schon für ein Spaß, wenn man uns gleich alles deutlich erklären würde?“
Morânia musste ein wenig schmunzeln. Sie wusste, ihr Mann meinte es nicht böse, aber sie wusste auch, er mochte keine Rätsel, und die Ring-Prophezeiung war vom ersten Tag an ein einziges, großes Rätsel gewesen.
„Ich würde gerne noch etwas erwähnen“, meinte Lereia. „Etwas, das vielleicht auch für Sir Lorias und Lady Elyria wichtig sein könnte, sei es als Information oder als Warnung.“
„Sprecht nur“, meinte Sir Lorias freundlich. „Jetzt, wo wir Euch unser Wissen vermittelt haben, sind wir im Moment nicht klüger als Ihr. Also haben wir auch nicht mehr zu sagen.“
Lereia nickte lächelnd. „Als wir das letzte Mal die Gelegenheit hatten, die Botin anzurufen, hat sie erneut mehrere Fragen beantwortet. Drei davon sind vielleicht auch für Euch von Wichtigkeit. Die eine Frage drehte sich um Janas Vision mit dem Skelett und dem Kind. Im Angesicht von Sir Lorias ist es vielleicht ein Hinweis, wer weiß. Wir fragten, ob dieses Kind …“ Sie zögerte etwas, ehe sie weitersprach. „... ob dieses Kind Sarin sei. Die Antwort war Nein. Wir fragten danach auch, ob das Kind einmal ein Bundmeister des Harmoniums wird, und die Antwort war ebenso Nein. Die dritte Frage war: Arbeitet Lord Valiant gegen uns? Hier war die Antwort Ja.“
Sarin blickte Lereia konsterniert an. „Bitte was? Also … zum ersten: Was ist das für eine Geschichte mit Valiant? Warum stellt Ihr dazu Fragen? Und zum zweiten: Warum, bei den Söhnen von Dis, fragt Ihr, ob ich dieses Kind aus Janas Vision war. Oder ob es einmal ein Bundmeister des Harmoniums wird?“ Noch während er sprach, schlug seine Irritation in einen gewissen Unmut um.
Naghûl hob sogleich abwehrend die Hände. „Nicht alle waren bei diesen Fragen dabei“, merkte er an.
„Verzeihung, Bundmeister.“ Morânia räusperte sich entschuldigend. „Die Fragen erschienen uns sinnvoll in Verbindung mit Janas Visionen, das ist alles.“
„Das stimmt“, setzte Lereia eilig hinzu. „Uns fiel auf, dass des Öfteren das Harmonium in Janas Visionen vorkam, insbesondere auch Lord Valiant. Wir hatten ein ungutes Gefühl.“
Sarin setzte schon zu einer Bemerkung an, doch Sir Lorias kam ihm zuvor. „Und nun vermutet Ihr, ich trage irgendwann ein Kind herum, das aber weder Bundmeister Sarin war noch ein Bundmeister des Harmoniums sein wird?“
Er klang eindeutig verwirrt und Naghûl schien ein kurzes Lachen unterdrücken zu müssen. Auch Ambar grinste ein wenig, während Lereia abwehrend die Hände hob.
„Wir vermuten gar nichts. Wir haben diese Fragen gestellt, weil wir uns die Vision mit dem Skelett nicht erklären können.“
„Schon gut“, lenkte Sarin ein. „Ich glaube auch nicht, dass diese Visionen ein Zufall sind. Und dass Lord Valiant gegen uns arbeitet, das ...“ Er unterbrach sich. „Na, egal.“
„Das finde ich nicht gerade egal, Sarin“, warf Terrance ernst ein.
Der Paladin verschränkte die Arme. „Das sind Bund-Interna“, versetzte er knapp.
„Nicht, wenn das auch uns betrifft“, entgegnete der Hohepriester ruhig, aber mit Nachdruck. „Wenn jemand wie Euer Großinquisitor gegen mich arbeitet, würde ich das gerne wissen.“
Sarin seufzte. „In diesem Punkt kann ich Euch leider schlecht widersprechen. Aber ehrlich: Ich weiß nichts von Valiants derzeitigen Aktivitäten. Ich hatte seit vier Jahren keinen Kontakt zu ihm außer bei den Sitzungen der Oktade. Und den Himmeln sei dafür gedankt. Er hat sich eigentlich komplett nach Ortho zurückgezogen.“
„Es klingt, als würde sich das möglicherweise ändern“, wandte Terrance ein.
Sarin nickte finster. „Womöglich, ja.“
„Es ist jedenfalls Vorsicht geboten, wenn wir ihn treffen sollten“, stellte Sgillin fest.
„Allerdings“, antwortete der Paladin ernst. „Und zwar in jedweder Hinsicht. Wir …“ Er unterbrach sich, als es an der Tür klopfte. „Herein!“
Die Klinke wurde nach unten gedrückt und ein trat Tonat Shar, Sarins Legat und Stellvertreter in Sigil. Er verneigte sich in Richtung der anderen Bundmeister, dann trat er auf Sarin zu.
„Verzeih mir, ich weiß, du hast eine wichtige Besprechung, aber es kam eine Nachricht an, von der ich sicher bin, dass du sie so schnell wie möglich erhalten willst.“ Er hielt einen Brief in der Hand, doch nach einem kurzen Blick in die Runde beschloss er offenbar, Sarin den Inhalt nicht direkt zusammenzufassen, sondern überreichte ihm stattdessen das Schreiben.
„Das muss wirklich wichtig sein“, stellte Sarin fest, als er das Schriftstück entgegen nahm.
„Ja, leider.“ Sein Legat nickte mit einem tiefen Seufzen.
„Bitte entschuldigt“, wandte Sarin sich an seine Kollegen und an die Erwählten. „Es dauert nur einen Moment.“ Dann öffnete er den Brief, um ihn zu lesen.
Er stutzte kurz, dann verfinsterte sich eine Miene und schließlich las er das Schreiben offenbar noch ein zweites Mal, wie um sicher zu gehen, dass er den Inhalt auch wirklich richtig verstanden hatte. Dann ließ er den Brief sinken und sah in die Runde. „Es ist eine Nachricht von Lord Valiant“, erklärte er, fast ungläubig. „Er schreibt, dass er Sigil demnächst einen Besuch abstatten möchte.“
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gespielt am 3. November 2012
1) Michael Ende







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