„Das Geheimnis, wie man in den Ebenen überlebt, ist sehr einfach: Bleib zu Hause.“
Depresar, ein Githyanki
Vierter Markttag von Savorus, 126 HR
Nur ein Grillenbein und ein Loch in einem hohlen Baum nahe Xaos - das war alles, was es brauchte, um sie wieder zurück nach Sigil zu bringen. Manchmal war Krystall noch immer fasziniert davon, wie einfach das Reisen in den Ebenen sein konnte. Wenn es nicht gerade chaotisch, langwierig und auch gefährlich war, so wie der nun hinter ihnen liegende Flug mit dem Barrakuda. Nachdem sie in dem alten Tempel auf der schwebenden Insel Schleierfels letztendlich auf Hüterin und Verkünder gestoßen waren, hatten der Paladin und die Lupinal ihnen erklärt, dass sie sie zwar erwartet hatten – allerdings nicht in der Konstellation, in der sie erschienen waren. Zum einen war Figaro kein Erwählter der Prophezeiung, doch hatten Elyria und Lorias ihn wohl eher als eine Art Vertrauten von Krixxi gesehen – oder vielleicht auch als Ersatz für den abwesenden Sgillin, der wie immer mit der anderen Gruppe unterwegs war. Síkhara jedoch war einfach nicht eingeplant gewesen, das hatten sie nicht schönreden können. Und die Feuergenasi hatte sich auch durchaus verwirrt und skeptisch ob der Situation gezeigt. So hatten Hüterin und Verkünder erklärt, sie würden in Sigil erneut mit den Erwählten sprechen - Zamakis Gabe würde sie dort wiederfinden können. Auf die Frage der Vampirin, warum man sich nicht gleich in der Stadt der Türen hatte treffen können, warum ein derart aufwändiger Flug durch die Außenländer nötig gewesen war, hatten die beiden ein wenig lachen müssen. Sie wüssten es nicht, hatten sie zur Antwort gegeben. Sie täten auch nur das, was ihnen überliefert sei. Krixxi hatte natürlich versucht, hundert Fragen zu stellen, doch Krystall hatte sie gebremst. Es war offensichtlich gewesen, dass Elyria und Lorias noch nicht mehr hatten preisgeben wollen. So hatten sie sich bereit erklärt, die beiden in Sigil wieder zu treffen und dann nachdenklich den Tempel verlassen.
Sie hatten den Barrakuda zurück nach soXa gesteuert – allerdings ohne Síkhara, die noch einen Auftrag in dieser Gegend der Außenländer zu erledigen hatte. Die Blutjägerin hatte jedoch keinen Hehl daraus gemacht, dass sie daran interessiert war, die Gruppe in aXos wieder zu treffen. Zum einen wollte sie Sigil nach längerer Zeit wieder einen Besuch abstatten und zum anderen schien sich durch die gemeinsamen Erlebnisse in Bexrey und auf Schleierfels eine Freundschaft zwischen ihr und den Erwählten zu entwickeln. Krystall und die anderen hatten erfreut zugesagt und so waren sie in osaX tatsächlich wieder mit Síkhara zusammengetroffen, nachdem sie den Barrakuda den Chaos-Ingenieuren dort zurück gegeben hatten. Rakalla hatte zwar noch eine Bemerkung über die Söldner gemacht, die sie beim Abflug angegriffen hatten, doch irgendwie schien die Sache niemanden mehr so wirklich zu interessieren. Eigentlich wollten sie alle nur möglichst schnell nach Sigil zurück. Und diesmal brauchte es wirklich nur einen hohlen Baum und das Bein einer Grille – so einfach. Dann standen sie alle wieder in der Stadt der Türen. Der Sigil-seitige Ausgang war ein großes Schaufenster – glücklicherweise die Außenseite, so dass sie nun nicht in der Auslage einer Bürstenbinderei saßen, sondern in einer belebten Straße im Marktbezirk standen. Sofort umfing sie die gewohnte, leicht chaotische und unglaublich vielfältige Atmosphäre des Käfigs. Auf der einen Seite der Straße machte gerade eine Gruppe von Passanten einigen Blutkriegssöldnern in abgenutzten Rüstungen Platz, während unweit von ihnen ein Tiefling mit leuchtenden Bällen jonglierte. Ein muskulöser Halbork, der einen Karren voller Fässer schob, beschwerte sich, dass er ihm den Weg versperrte. Und oben auf den Dächern jagte eine Tressym nach Tauben. Krystall lächelte und atmete tief durch. Ja, sie war zu Hause. Mochte sie die eine oder andere Reise durch die Ebenen auch genießen, die Stadt der Türen war der Ort, an den sie wirklich gehörte. Der Ring der Stadt erstreckte sich in beide Richtungen, scheinbar endlos und leicht gekrümmt.
Während Krystall ihm mit ihrem Blick folgte, wich sie einem nervös wirkenden Halbling aus, der einen zweiköpfigen Hund an der Leine führte, auf dem er auch gut hätte reiten können. „Endlich wieder daheim“, stellte sie zufrieden fest.
Krixxi wirkte ebenso erfreut darüber, hüpfte aber bereits ungeduldig neben ihr von einem Bein auf das andere. „Du, ich muss gleich mal nach meiner Werkstatt sehen“, meinte sie. „Nur sichergehen, dass da alles in Ordnung ist und so.“
Figaro nickte zustimmend. „Das wäre mir auch lieb. Wenn wir länger nicht da sind, dringen dort manchmal fragwürdige Gesellen ein und versuchen, Schindluder zu treiben.“
Wie so oft musste Krystall über die gestelzte Ausdrucksweise des sprechenden Hahnes schmunzeln. Sie überspielte es jedoch rasch und nickte ernsthaft. „Natürlich, das versteht sich. Geht ruhig mal nach dem Rechten sehen. Ich würde sagen, wir treffen uns morgen in der Schwelenden Leiche und besprechen, wie es weitergeht.“
„Alles klar!“, rief die Goblinfrau. „Dann viel Spaß noch, bei was auch immer ihr macht.“
Sie eilte davon, Figaro dicht hinter ihr, und schon bald waren die beiden im Getümmel des Marktbezirkes verschwunden.
„Ich werde mich auch zurückziehen“, erklärte Zamakis. „Die letzten zwei Wochen waren ein wenig zu turbulent für meinen Geschmack – und ein wenig zu viel Gesellschaft. Nicht persönlich gemeint.“
Krystall winkte schmunzelnd ab, doch Schwarzhuf brummte zustimmend. „Ja, doch … da ist was dran. Ich werd jetzt auch erstmal zum Torhaus gehen. Derioch wird nicht begeistert sein, dass sie so lange meine Schicht beim Suppe austeilen mit übernehmen musste. Und ich hab ein paar von den Kälbern … ähm, Kindern versprochen, dass ich sie ein bisschen auf den Schultern rumtrage.“
Síkhara lächelte. „Du scheinst mir echt nen weichen Kern zu haben, Großer.“
„Und wie“, meinte Rakalla. „Wenn es um kleine Wesen geht, die beschützt werden müssen, dann kann ihn nur wenig aufhalten.“
Der Minotaurus hob seine gewaltigen Schultern, wie um anzudeuten, dass er das für selbstverständlich hielt. „Mag's nicht, wenn auf Kleineren rumgetrampelt wird“, erklärte er. „Dann bis morgen in der Schwelenden Leiche.“
Krystall winkte Zamakis und Schwarzhuf noch einmal nach, dann sah sie fragend zu Rakalla.
„Ich brauch auch erstmal ne Pause zum Nachdenken“, erklärte die Medusa. „Ich werd in meinem Labor sein, falls jemand mich sucht. Ach, und Síkhara: Wenn du dich mit Haer'Dalis treffen willst, komm gerne bei mir vorbei: das Basiliskenhaus in der Styx Straße. Ich weiß, wo er in der Regel rumhängt.“
„Danke dir“, erwiderte die Feuergenasi. „Darauf komme ich auf jeden Fall zurück. Ich hab ihn wirklich zu lange nicht gesehen.“
Rakalla nickte ihr noch einmal zu und verschwand dann in einer Seitengasse.
Krystall wandte sich an Síkhara, die neben ihr stand und der Medusa nachdenklich hinterher blickte. „Wie wäre es mit einem Bier?“, schlug sie vor. „Rum? Schnaps? Nach was auch immer dir ist, ich kenne eine recht gemütliche Taverne in der Nähe. Wir könnten uns unterhalten … Ich meine, ein bisschen was kann ich dir vielleicht erzählen, über diese ganze … Sache.“
Síkhara nickte. „Ja, gerne. Ich muss zugeben, dass ich neugierig geworden bin.“
Sie machten sich auf den Weg Richtung Zentrum des Marktbezirks, die Architektur Sigils jenes wilde Durcheinander verschiedener Stile, das das Bild der Stadt seit jeher prägte. Doch eine Gemeinsamkeit hatten all die vielen, unterschiedlichen Gebäude: die scharfen, gebogenen Klingen, die unter Fenstersimsen, über Türrahmen, entlang von Dachfriesen aus den Mauern ragten. Hier, im Zentrum des Handels von Sigil, beleuchteten magische Lichter in allen Farben Schilder und Schaufenster. Zusätzlich zu den Geschäften im Erdgeschoß der Gebäude hatten auch viele Händler Stände und Zelte direkt auf der Straße aufgebaut. Einmal blieben die beiden Frauen kurz stehen, um ein mechanisches Konstrukt in Form eines Käfers zu beobachten, das die Wand eines Gebäudes hinauf kroch. Ein kleiner Schwarm leuchtender Pixies flatterte aufgeregt daneben auf und ab. Doch da weder Síkhara noch Krystall der Feensprache mächtig waren, verstanden sie nicht, worum es ging und schlenderten weiter. Neben einem schwebenden Gebäude, das von gewaltigen Ketten gehalten wurde, blieb Krystall schließlich stehen. Sie deutete jedoch nicht auf die fliegende Monstrosität aus dunklem Metall, sondern auf ein eher unscheinbares Haus daneben, errichtet aus einfachen Ziegelsteinen und mit einem Schindeldach. Ein kunstvoll geschnitztes Holzschild war über der Tür angebracht, das eine lächelnde Schildkröte mit grün-blau gefiederten Schwingen zeigte. "Zur Geflügelten Schildkröte" stand darauf.
„Ein nettes Schild“, stellte Síkhara schmunzelnd fest. „Hat irgendwie etwas Heimeliges.“
„Stimmt“, meinte Krystall. „Der Name geht auf eine alte Geschichte zurück. Es heißt, dass der Gründer der Taverne, ein abenteuerlustiger Halbling namens Finn Leichtfuß, einst eine magische, geflügelte Schildkröte traf. Diese Schildkröte habe die Fähigkeit besessen, durch Raum und Zeit zu reisen und Finn auf eine fantastische Reise mitgenommen. Am Ende seiner Abenteuer brachte die Schildkröte Finn nach Sigil, wo er beschloss, sesshaft zu werden und eine Taverne zu eröffnen. Als Erinnerung an sein wundersames Abenteuer nannte er die Taverne Zur Geflügelten Schildkröte. Es heißt, dass das Schild aus einem Stück Holz gefertigt wurde, das Finn von seinen Reisen mitgebracht hat.“
„Weißt du, was das Schöne ist?“, meinte Síkhara nachdenklich. „Das könnte eine reine Erfindung sein, um eine spannende Geschichte über die Entstehung der Taverne erzählen zu können. Es könnte aber ebenso gut wahr sein. Denn wer weiß schon, was jemand, der die Ebenen bereist, alles erlebt haben könnte?“
Krystall nickte zustimmend. „Wohl wahr. Und letztlich spielt es auch keine Rolle, so lange die Geschichte spannend und das Bier gut ist.“
„Darauf würde ich trinken“, erklärte die Feuergenasi.
So betraten sie die Taverne, deren geräumiger Hauptraum sich über zwei Etagen erstreckte. Eine gewundene Treppe führte nach oben zu einer Galerie mit weiteren Tischen. Von der hohen Decke hingen Laternen mit verschiedenfarbigem Licht und hinter der Bar stand ein imposanter Erdgenasi. Der derzeitige Wirt und Eigentümer Throk, wie Krystall wusste. Der sagenumwobene Finn war schon lange nicht mehr Besitzer der Geflügelten Schildkröte. Die graue Haut des Genasi war mit dunklen Tätowierungen bedeckt und er polierte gerade Gläser, während er ihnen grüßend zunickte. Die Taverne war zu dieser Tageszeit mäßig besucht, eine Gruppe Zwerge trank an einem der größeren Tische Bier, zwei Quadronen spielten in einer Ecke ein kompliziert aussehendes Brettspiel und ein elegant gekleideter Rakshasa saß alleine an einem Tisch, schien offenbar auf jemanden zu warten. Über der Bar schwebte ein magisches Prisma, das leuchtende Bilder von verschiedenen planaren Landschaften an die Wände warf. Die Motive wechselten langsam und schufen so eine sich ständig verändernde Kulisse an den Wänden der Taverne. Krystall und Síkhara suchten sich einen ruhigen Tisch mit Blick auf die Straße und warfen einen Blick auf die Getränkekarte.
„Kannst du etwas Bestimmtes empfehlen?“, fragte die Feuergenasi.
„Der Feen-Funkelnektar verändert bei jedem Schluck die Farbe“, erklärte Krystall. „Das ist ganz lustig, aber nur, wenn dir gerade nach etwas Süßem ist. Den Schatten-Whiskey finde ich persönlich nicht schlecht, aber er hinterlässt einen Hauch von Kälte beim Trinken – also vielleicht eher weniger dein Ding? Abyssalischer Absinth ist auch spannend - wenn du auf leichte Halluzinationen stehst. Oder … oh, ich weiß: Limbus-Lava! Ein rauchiger Cocktail, der sehr heiß serviert wird, gemischt aus Drachenfrucht-Sirup, Lavablüten-Nektar und Brandy aus der Messingstadt. Und oben drauf gestreut: fein gemahlener Obsidian, der beim Trinken knistert.“
Síkhara lachte. „Überzeugt, den nehme ich.“
Ein Kenku, der ihre Bestellungen perfekt imitierte, kehrte kurze Zeit später mit einem Tablett zurück und stellte die gewünschten Getränke vor ihnen ab.
Krystall hatte sich für den Schatten-Whiskey entschieden und prostete der Feuergenasi zu. „So,“ sagte sie. „Du hast sicher einige Fragen.“
Síkhara lehnte sich zurück, ihre türkis-grünen Augen leuchteten geradezu im gedämpften Licht der Taverne. „Allerdings. Aber ich bin nicht ganz sicher, ob ich die Antworten wissen will.“
Krystall nickte ernst. „Sehr klug von dir. Und noch kann ich dir auch nicht alle Antworten geben. Zum einen, weil ich sie selbst noch nicht kenne. Zum anderen, weil wir uns dahingehend erstmal besprechen müssen. Wen wir einweihen dürfen und bis zu welchem Grad … Aber ein paar Dinge kann ich dir erzählen. Wenn du sie hören willst.“
„Ich spüre, dass ich das möglicherweise bereuen werde“, erwiderte Síkhara. „Andererseits ist das ein Gefühl, das ich nur zu gut kenne. Also erzähl.“
Krystall nahm noch einen großen Schluck Schatten-Whiskey, ehe sie sie begann. „Im Grunde fing alles an mit einem Stück Pergament ...“





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