„Der Wert eines Geheimnisses hängt von denen ab, vor denen es bewahrt werden muss.“ 1)
Vierter Dametag von Savorus, 126 HR
Als Sarin und Erin sich dem Brunnen näherten, waren die beiden offenbar in ein intensives Gespräch vertieft. Da sie nicht allzu weit entfernt waren, erhob Naghûl sich rasch und deaktivierte den Kristall, der die Stillezone rund um den Brunnen erzeugte. Die anderen warfen ihm überraschte Blicke zu und der Sinnsat wies mit einem kurzen Kopfnicken in Richtung der sich nähernden Bundmeister.
„Sarin, nun wartet doch mal“, hörten sie nun Erin sagen, als die unsichtbare Barriere gefallen war und wieder Töne von außen zu ihnen durchdrangen. „Wir können doch sicher noch einmal in Ruhe darüber reden.“
„Worüber sollen wir da reden, Lady Erin?“, erwiderte der Paladin mit ungeduldigem Unterton. „Ihr habt Euren Standpunkt mehr als klar gemacht.“
Lereia, Jana und Sgillin erhoben sich ebenso, als die beiden Bundmeister sich den Bänken näherten, allerdings so vertieft in ihr Gespräch, dass sie die dort Sitzenden noch nicht wahrgenommen hatten.
„Ich liebe blumige Umschreibungen“, meinte Erin beschwichtigend. „Kommt, setzen wir uns und reden wir.“
„Ja ja.“ Sarin seufzte. „Reden wir darüber.“
Jetzt erst richteten beide den Blick auf die um den Brunnen angeordneten Bänke und hielten inne. Die Erwählten verneigten sich grüßend und Naghûl konnte nicht verhindern, dass ihm dabei ein wenig das Herz sank. Wusste Sarin bereits …?
Des Paladins Blick verfinsterte sich prompt, als er auf Sgillin fiel. „Ha!“, rief er aus.
Naghûl schloss die Augen. Natürlich wusste er es … Auch Erin wusste natürlich, was ihren Kollegen bewegte und streckte beschwichtigend eine Hand nach ihm aus, ohne ihn jedoch zu berühren. „Oh, Sarin, bitte …“
„Nichts da“, unterbrach der Paladin sie ungewohnt harsch und ging mit ein paar wenigen Schritten an ihr vorbei. „Darf ich bitte, Mylady?“
Sie biss sich auf die Lippen, erwiderte aber nichts mehr, während Lereia Sarin erschrocken anstarrte.
Der Bundmeister des Harmoniums ging rasch und zielstrebig auf Sgillin zu. „Ihr!“
Naghûl wechselte einen raschen Blick mit seiner Bundmeisterin, die das Gesicht in den Händen vergrub. Sgillin wich einen Schritt vor Sarin zurück, doch der Paladin schloss die Distanz zwischen sich und dem Halbelfen mit zwei weiteren, raschen Schritten. Ohne zu zögern griff er mit der Linken nach Sgillins Hals. Er war sehr schnell und der Waldläufer viel zu überrascht, um wirklich reagieren zu können. Innerhalb eines Lidschlages hatte Sarin ihn daher am Kragen gepackt.
„Bundm …“, setzte Naghûl schon an, verschluckte aber auf einen warnenden Blick von Erin hin den Rest.
Lereia hingegen trat, offenbar unwillkürlich und fast unbewusst, einen Schritt nach vorne. „Bundmeister …“, brachte sie atemlos hervor.
Sarin hielt Sgillin mit der linken Hand fest an der Kehle und warf Lereia einen stechenden Blick zu. „Ruhe!“, herrschte er sie an.
Obgleich sie Sarin oft als streng und manchmal auch schroff erlebt hatten, diese Seite von ihm hatten sie bisher nicht kennen gelernt. In diesem Moment war nichts von der Ritterlichkeit geblieben, die der Paladin so oft ausstrahlte, es war nur der barsche Befehlston eines Generals und Gesetzeshüters übrig. Mit großen Augen starrte Lereia ihn an, sagte aber nichts mehr. Wahrscheinlich war das auch besser so … Sarins sprühender, nicht im Geringsten verborgener Zorn weckte in Naghûl den Drang, sich hinter seiner Bundmeisterin zu verstecken. Auch Jana war vorsichtshalber gleich mehrere Schritte zurück getreten. Erin hingegen hatte geistesgegenwärtig den Kristall am Brunnenrand wieder aktiviert.
Sgillin wand sich im Griff des Paladins und hustete ein wenig. „Was … soll das?“, brachte er hervor.
Sarins Daumen lag mit einem sanften Druck auf dem Kehlkopf des Halbelfen, aber offenbar nicht fest genug, um ihm wirklich die Luft zu nehmen. „Was glaubt Ihr eigentlich, was Ihr für ein Spiel mit mir spielen könnt?“, fuhr der Paladin den Waldläufer an.
„Ich spiel mit Euch überhaupt kein ... Spiel“, erwiderte Sgillin keuchend. „Wovon sprecht Ihr?“
Naghûl schüttelte mit leichtem Entsetzen den Kopf ob dieser Worte. Es musste seinem Freund spätestens jetzt klar sein, dass Sarin über ihn und die Klingenengel Bescheid wusste. Es abzustreiten würde den Bundmeister des Harmoniums nur noch mehr in Rage versetzen. Was mit Sicherheit eine schlechte Idee war … Planlos und ahnungslos, dachte der Tiefling bei sich. Aber das würde ihm hier nicht weiterhelfen …
„Tut nicht so!“, herrschte Sarin ihn auch sofort an. „Ihr seid längst nicht so planlos wie Ihr Euch stellt. Also!“
„Ich weiß nicht ... wovon Ihr sprecht“, beharrte Sgillin. Er hatte inzwischen aufgehört, sich in Sarins Griff zu winden und hielt still, woraufhin der Paladin seine Finger ein wenig lockerte.
Erin trat vorsichtig ein wenig näher, sagte jedoch nichts, während Lereia verängstigt zwischen ihr und Sarin hin und her sah. Jana stand immer noch ein Stück weiter hinten, wagte aber nun einen schüchternen Einwurf.
„Ähm … er ist nur ein Planloser, Bundmeister.“
„Habe ich Euch gefragt?“, fuhr Sarin ihr über den Mund, ehe er sich wieder Sgillin zuwandte. „Zu welchem Bund gehört Ihr?“
Fast unbewusst faltete Naghûl die Hände und legte sie vor seinen Mund. In Gedanken flehte er seinen Freund an, jetzt keinen Unsinn zu machen. Sgillin ahnte wahrscheinlich nicht, wie sehr er gerade auf Messers Schneide wandelte.
„Zu ... keinem Bund“, brachte der Halbelf hervor, als Sarin den Griff nun wieder etwas verstärkte. „Immer noch nicht … nur zu einer Gruppe ...“
„Ach was?“ Des Bundmeisters Augen schienen geradezu Funken zu sprühen. „Und zu welcher Gruppe?“
Aus dem Augenwinkel nahm Naghûl wahr, wie Erin alles wachsam beobachtete und auf den passenden Moment zu warten schien.
„Sie nennen sich ... Klingenengel“, antwortete Sgillin etwas mühsam.
Sarin zog die Brauen zusammen und schüttelte den Halbelfen kurz. „Bei den Klingen der Dame! Ob Ihr ein Anarchist seid, will ich wissen!“
„Nein, natürlich nicht“, erwiderte der Waldläufer. „Warum sollte ich auch?“
Der Druck von Sarins Hand an Sgillins Kehle verstärkte sich merklich und Naghûl schloss erneut die Augen.
„Ihr habt die Stirn, mir hier offen ins Gesicht zu lügen?“
Die Stimme des Paladins hatte an Lautstärke gewonnen und sein Tonfall weckte in Naghûl die schlimmsten Befürchtungen. Lereia zitterte inzwischen vor Anspannung und Aufregung und sah hilflos von einem zum anderen. „Bitte, Bundmeister“, wandte sie sich in flehendem Tonfall an Sarin. „Lasst ihn bitte erklären.“
„Er weiß es nicht besser“, setzte Jana leise hinzu.
Nach dem ersten Schrecken löste nun eine andere Empfindung die Überforderung in Sgillins Blick ab: Zorn. „Ich lüge nicht!“, entgegnete er heftig. „Ich bin weder Anarchist noch Terrorist noch sonst irgendetwas. Die Politik ... der Bünde in Sigil ... interessiert mich nicht im Geringsten. Ich ... bin bei einer Gruppe, die mir den Arsch gerettet hat ... und die meiner Meinung nach das Richtige tut ... und das hat ... nichts mit dem zu tun, was ich bisher von den Anarchisten ... gehört habe.“
Er musste dabei ein paarmal Luft holen, da Sarins Hand noch sehr eng um seine Kehle lag. Dann sah er dem Bundmeister in die Augen und hielt dessen vernichtendem Blick entschlossen und mit einem deutlichen Ausdruck von Wut stand. Sarins Zorn hingegen schien plötzlich abzukühlen, er wurde deutlich ruhiger … kein gutes Zeichen, da war sich Naghûl sicher.
„Bitte, wie Ihr meint“, erwiderte der Paladin auf Sgillins Worte hin. „Ich kann Euch auch gleich zu Mallin bringen.“
Genau, was er befürchtet hatte … Der Tiefling spürte, wie eine gewisse Panik nun ihre krallenbewehrten Klauen nach ihm ausstreckte und ein kurzer Seitenblick zu Lereia verriet ihm, dass es ihr ähnlich ging. Doch das war der Moment, auf den Erin offenbar gewartet hatte.
„Sarin, bitte“, sagte sie sanft, aber mit Nachdruck. „Wenn Ihr mein Amt oder meine Person in irgendeiner Weise respektiert, dann nicht hier. Nicht in meinem Bundhauptquartier und nicht auf diese Weise.“ Sie musterte ihn ruhig, aber ernst.
Der Paladin erwiderte ihren Blick für einige Momente, und Naghûl konnte, gleichermaßen erleichtert wie fasziniert, erkennen, dass sein ganzer Ausdruck ein wenig nachgiebiger wurde. „Ihr wisst, dass ich Euch respektiere“, antwortete er dann.
„Dann kommt meiner Bitte nach“, entgegnete Erin unvermindert ruhig und ohne den Blickkontakt auch nur für eine Sekunde zu unterbrechen.
Eine gewisse Ironie fand in Sarins Stimme Einzug. „Sollen wir mal wieder reden?“
„Ja.“ Die Bundmeisterin der Sinnsaten lächelte sacht. „Bitte lasst ihn reden.“
„Vor ... allem“, setzte Sgillin, nun wieder mit einer gewissen Vorsicht, hinzu, „Vor allem … könntet Ihr mich .. erst einmal loslassen, Bundmeister.“
„Bitte“, fügte Naghûl rasch an, so als würde es von dem Halbelfen kommen.
Sarin seufzte etwas, dann ließ er Sgillin tatsächlich los, jedoch nicht ohne ihm sogleich einen unsanften Stoß in Richtung Bank zu geben. „Setzen!“
Erin atmete auf und Lereia wollte offenbar schon zu Sgillin eilen, hielt sich dann aber zurück. Der Halbelf stolperte in Richtung Bank, seine Augen noch immer funkelnd vor Zorn. Naghûl betete innerlich, dass er nun nichts Dummes tun würde. Doch so unbedacht war er glücklicherweise nicht, kannte den Käfig immerhin gut genug, um zu wissen, dass in seiner Lage jegliche unbedachte Aktion gegenüber einem Bundmeister Sigils dem reinsten Selbstmord gleichgekommen wäre. So richtete er lediglich seine Kleidung und setzte sich dann, das Gesicht versteinert. Sarin nahm ihm gegenüber Platz und musterte ihn durchdringend.
„Hört auf damit“, sagte er dann warnend. „Kiyoshi hat mir alles berichtet.“
Ein wenig zögernd hob Naghûl die Hand. „Bei allem Respekt, Bundmeister. Darf ich etwas sagen?“
„Nein“, erwiderte Sarin knapp.
Die schroffe Antwort überraschte den Tiefling nicht, er senkte die Hand wieder und regte sich nicht mehr.
Der Paladin wandte sich erneut dem Halbelfen zu. „Also. Seid Ihr den Anarchisten beigetreten oder nicht?“
Er wirkte nun ruhiger, doch Naghûl wusste, dass nach wie vor höchste Vorsicht geboten war. Er hoffte bei den Klingen der Dame, dass auch Sgillin dies bewusst war.
„Wie ich sagte, nein“, antwortete der Waldläufer ernst. „Ich habe weder den Anarchisten noch sonst irgendjemandem die Treue geschworen. Weder ihnen noch ihren Zielen, die ich auch nur vom Hörensagen kenne. Warum sollte ich auch? Seitdem ich in Sigil angekommen bin, kämpfe ich für das meiner Meinung nach Gute und habe schon mehr als einmal deswegen an der Schwelle des Todes gestanden.“
Lereia nickte bestätigend auf diese Worte hin und ließ Sarin und Sgillin nicht aus den Augen, wenngleich sie ein wenig gefasster wirkte, seit der Bundmeister ihren Gefährten zumindest nicht mehr am Kragen gepackt hielt.
Mit einem Seufzen lehnte der Paladin sich zurück. „Ich zweifle nicht einmal an, dass Ihr das Gute wollt. Ich zweifle aber an, dass Ihr es so erreicht. Ihr tragt also kein Amulett der Anarchisten bei Euch?“
„Bundmeister, ganz ehrlich, ich habe von der Heraldik Sigils keinen blassen Schimmer.“ Sgillin schüttelte den Kopf. „Ich weiß auch erst davon, seit Morânia und Naghûl mir fast an die Kehle gegangen sind.“
„Also tragt Ihr es“, stellte Sarin unnachgiebig fest.
„Ja, ich trage es“, räumte der Halbelf ein. „Für mich steht es für die Gruppe, die mir geholfen hat und deren Ziele ich für einigermaßen ehrenwert halte. Aber ich stehe nicht hinter den Anarchisten.“
Der Bundmeister des Harmoniums hob eine Braue. „Mit Sicherheit keine legale Gruppe, darf ich annehmen.“
„Was man im Stock eben so als legal annehmen kann“, warf Naghûl ein.
Es war ihm einfach so heraus gerutscht und er biss sich sofort auf die Lippen, als Sarin wie auch Erin ihm einen scharfen Blick zuwarfen.
„Das weiß ich nicht“, erklärte Sgillin bereitwillig. „Aber sie setzen sich für die Ärmsten im Stock ein, das genügt mir. Sollten sie Mittel anwenden, die mir widerstreben, Terror oder ähnliches, habe ich das Amulett die längste Zeit getragen. Sie haben uns übrigens auch schon geholfen, indirekt, als wir die Stockwürgermorde aufgeklärt haben.“
Sarin musterte den Halbelfen eingehend bei jedem seiner Worte und eine gewisse Härte wich ganz allmählich aus seinem Blick, auch wenn er ernst blieb. „Ich verstehe. Und diese Leute sind eine Anarchistenzelle, ja?“
„Keine Ahnung.“ Sgillin hob die Schultern. „So lange kenne ich sie noch gar nicht.“
„Aber sie gaben Euch das Amulett?“
Der Waldläufer nickte. „Ja, aber ich weiß nicht, was sie damit verbinden. Das, was sie mir erzählt haben, stimmt jedenfalls nicht mit dem überein, was ich bisher über die Anarchisten gehört habe.“
„Welch Wunder ...“, bemerkte Sarin sarkastisch.
Sgillin vergrub kurz das Gesicht in den Händen und seufzte tief. „Bundmeister … Warum sollte ich in einer Stadt wie Sigil, die mich eigentlich nicht wirklich interessiert, einem Bund beitreten, der gegen alles arbeitet, was ich als gut ansehe? Habe ich Euch oder irgendjemandem sonst Anlass gegeben, mir so etwas zu unterstellen?“
„Hättet Ihr mir Anlass dazu gegeben, wäret Ihr schon lange verhaftet worden“, erwiderte Sarin ernst. „Aber Kiyoshis Bericht gibt mir nun leider Anlass dazu.“
Erin nutzte die kurze Stille, die entstand, um schnell und leise wie ein Schatten neben Sarin auf der Bank Platz zu nehmen.
„Aber aufgrund von Kiyoshis Bericht“, meinte sie vermittelnd, „gehen wir auch davon aus, dass es ein ... Unfall war, oder?“ Lereia nickte bekräftigend auf Erins Worte hin und die Bundmeisterin wandte sich nun relativ freundlich an Sgillin. „Der Grund, warum Sarin hier so heftig reagiert - und auch ich selbst alles andere als begeistert bin, auch wenn ich es weniger zeige - ist der, dass die Anarchisten für die meisten von uns eine Bedrohung darstellen, das Regierungssystem Sigils untergraben und oft zu Gewalt greifen. Zu teilweise recht extremer Gewalt.“
Sgillin nickte ernst. „Das ist mir bewusst, Lady Erin. Aber ich tue das nicht und werde es auch nicht tun. Mir wurde einmal gesagt, dass man in Sigil nicht den Bund sucht, sondern der Bund einen findet. Mich hat diese Gruppe gefunden, und da ich weder Fanatiker noch Terrorist bin, gehe ich davon aus, dass die Klingenengel diese Interessen auch nicht haben.“
Es gab einige Bemerkungen, die Naghûl schon seit Sarins Eintreffen auf den Lippen brannten, doch hatte er sich bislang nach Kräften beherrscht, sich zurückzuhalten. Nun aber wagte er es, abermals die Hand zu heben. Sarin sah es und schüttelte angestrengt den Kopf.
„Meine Güte, Ihr Sinnsaten seid ein penetrantes Volk. Was gibt es?“
Erin schmunzelte sacht und Naghûl beeilte sich, sich dankend zu verneigen, als der Paladin ihm das Wort erteilte.
„Danke, Bundmeister Sarin. Ich möchte nur ein paar wichtige Punkte anmerken. Zum einen gibt es tatsächlich Anarchistenzellen, die zwar das System nicht gut finden, aber Ziele verfolgen, die sogar teilweise anerkennenswert sein können.“
Sarin schnaubte abfällig, hörte ihm aber zu.
„Sicher, dies ist selten“, räumte der Tiefling auch gleich ein. „Aber eine dieser Zellen hat Sgillin geholfen. Weiterhin ist es so, dass wir vielleicht wieder einmal im Stock werden operieren müssen. Und es mag wahrlich nicht schaden, auf etwas Unterstützung dort hoffen zu können. Danke, Bundmeister.“
Sarin hatte während Naghûls Ausführungen schon zu einer Bemerkung angesetzt, aber Erin hatte ihm sanft eine Hand auf den Unterarm gelegt und er hatte den Tiefling aussprechen lassen.
„Danke für diesen kleinen Vortrag, Faktotum“, erwiderte er dann. „Ich werde jetzt einmal so freundlich sein und meiner Pflicht nachkommen, die Gesetzeslage in diesem Punkt darzulegen. Als Anarchie gelten alle bewussten Handlungen, die direkt oder indirekt das Ziel haben oder zu dem Ziel tendieren, die regierenden Institutionen von Sigil, also die Bünde, zu destabilisieren oder zu schädigen. Jeder Bund steht für einen wichtigen Aspekt Sigils, von daher ist ein Angriff auf die Bünde oder auf einen der Bünde ein Angriff auf Sigil selbst. Darauf steht die Todesstrafe ohne Möglichkeit der Berufung oder Begnadigung.“
Jana hob die Brauen, als der Bundmeister des Harmoniums den Gesetzestext so rasch, ohne darüber nachdenken zu müssen, parat hatte und Lereia legte ihre Hände auf Sgillins Schultern, während sie Sarin weiterhin mit großer Sorge musterte.
„So.“ Der Paladin sah den Halbelfen streng an. „Das sind die Buchstaben des Gesetzes. Und da Ihr das Amulett tragt, dürfte es Euch schwer fallen, Eure Mitgliedschaft abzustreiten. Aber Euch fällt gewiss etwas auf, in der Formulierung des Textes.“
Sgillin nickte langsam. „Ja … der Passus bewusste Handlungen.“
„Richtig“, bestätigte Sarin ruhig. „Es steht geschrieben, als Anarchie gelten alle bewussten Handlungen, die das Ziel haben und so weiter. Ihr solltet wissen, dass das ein interessanter und ungewöhnlicher Punkt ist. Denn die Gesetze Sigils gewähren ansonsten selten Milde aufgrund von Unwissenheit.“
„Und es wird von mir auch keine bewussten Handlungen in diese Richtung geben“, versicherte der Halbelf. „Ich will unsere Angelegenheit über die Bühne bringen und werde danach nie wieder einen Fuß in diese Stadt setzen.“
Der Bundmeister des Harmoniums musterte Sgillin eine Weile ernst und nickte dann. „Ich glaube Euch das sogar. Doch womöglich ist diese Angelegenheit von längerer Dauer, als uns allen lieb ist und unsere Einstellungen dazu sind in dieser Frage nicht sehr relevant. Ich möchte Euch daher ein paar Takte zur Eurer neuen Mitgliedschaft sagen. Ich bin davon nicht begeistert, das ist klar. Ich finde es auch fragwürdig, dass Ihr Euch in Eurer damaligen Lage an irgendeine Bande im Stock gewandt habt und nicht an Eure Freunde oder einen Bund wie das Harmonium, das genau dafür zuständig ist. Ich glaube aber Kiyoshi, dass es eine Art Unfall war, wie Ihr zu den Anarchisten gelangt seid. Und ich glaube auch Eurem eigenen Bericht. Daher lassen die Gesetze Sigils es in diesem Fall zu, die Sache nicht unmittelbar zu ahnden. Ich gebe jedoch offen zu, dass ich noch nicht genau weiß, wie ich weiterhin mit Euch verfahren soll.“
„Wir sollten das auch mit den anderen besprechen“, warf die Bundmeisterin der Sinnsaten sacht ein.
Sarins Brauen zogen sich ein wenig zusammen. „Seht Ihr, Erin, das ist auch so eine Sache. Dass ich plötzlich alles mit Euch, Terrance, Rhys und Ambar besprechen soll … das geht mir teilweise auch gegen den Strich.“
„Es geht Euch gegen den Strich, mit mir zu sprechen?“ Erin setzte eine empörte Miene auf. „Ihr seid ja besonders ungalant heute.“
„Ihr wisst schon, was ich meine“, erklärte der Paladin mit einer beschwichtigenden Geste. „Ich beziehe das nur auf rein geschäftliche Fragen.“
„Ja ja.“ Erin hob die Brauen, grinste dabei aber ein wenig. „Ihr dürft mir das Gegenteil beweisen, indem Ihr die nächste Oper besucht.“
„Aber nicht die Ysgardische“, entgegnete Sarin sofort.
Naghûl schmunzelte ein wenig, erleichtert darüber, dass die mehr als kritische Situation offenbar begann, sich in eine nur noch angespannte Lage zu verwandeln. Er warf der noch immer nervösen Lereia einen aufmunternden Blick zu und wollte schon leise etwas zu ihr sagen, als sein Blick am Brunnen hängen blieb. War da ein Leuchten im Wasser zu sehen? Ja, tatsächlich, es wirkte wie ein schwaches Glühen, das aus dem untersten Becken des stufenförmig aufgebauten Brunnens hervor strahlte. Verwundert ging der Tiefling um die Bank herum, hinter der er stand, und trat näher an das herab plätschernde Wasser heran. Als er in das Becken blickte, erkannte er dort tatsächlich etwas … Ähnlich wie kürzlich, im Wasser des Stillen Sees im Elysium, formte sich dort ein Zeichen. Doch dieses sah anders aus als das vor einigen Tagen.
„Naghûl?“, vernahm er Erins verwunderte Stimme hinter sich. „Sucht Ihr etwas?“
„Ja ...“, erwiderte er, fast abwesend, ohne jedoch den Blick vom Wasser abzuwenden. „Zeichen …“
Neugierig trat nun auch Jana näher an den Brunnen heran. „Siehst du gerade eines?“
Naghûl nickte, den Blick starr auf das Zeichen im Wasser gerichtet, um es sich ganz genau einzuprägen. Er überlegte kurz, dann zog er einen kleinen Dolch, den er an seinem Gürtel trug, eher um Früchte damit zu schälen denn als ernsthafte Bewaffnung gemeint. Er ging zurück zu der Bank, bei der er die ganze Zeit gestanden hatte und begann, das soeben gesehene Zeichen in das Holz zu ritzen. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie Erin neben ihm die Arme verschränkte.
„Die Bänke sind aus arboreanischer Goldpinie ... Wollte ich nur anmerken.“
Naghûl warf ihr einen entschuldigenden Blick zu, ritzte aber weiter. Er hatte gerade weder Papier noch einen Kohlestift zur Hand und wollte das Zeichen keinesfalls vergessen, für den Fall, dass es nach einer Weile einfach wieder verschwinden sollte.
Sarin blickte zu Erin und hob vielsagend die Brauen. „Interessant, was Ihr hier in der Festhalle so treibt“, bemerkte er ironisch.
„Ha ha“, erwiderte die Bundmeisterin der Sinnsaten und trat dabei näher, um einen besseren Blick auf Naghûls Geritze werfen zu können.
Auch Lereia, Sgillin und Jana kamen zu der Bank herüber. Nachdem der Tiefling fertig war, steckte er den Dolch wieder ein und blickte auf das verschlungene Zeichen, das er in die Armlehne der Bank geritzt hatte.
„Was bedeutet das?“, fragte Erin neugierig.
„Das ist ein Zeichen, das ich gerade eben im Wasser des Brunnens gesehen habe“, erklärte Naghûl. „Ich wollte es hier festhalten, um es nicht zu vergessen, daher …“ Er unterbrach sich, als das Zeichen auf der Bank nun ebenfalls zu glühen begann. „Seht ihr das auch?“
„Ja“, meinte Sgillin. „Oder eher nein. Es ist verschwunden.“
„Verschwunden?“ Der Tiefling blickte auf die Armlehne der Bank – und stellte fest, dass seine neue „Verzierung“ des Möbelstückes tatsächlich weg war. Das Holz war wieder glatt und unversehrt, so als hätte er nie seinen Dolch daran angesetzt. Doch direkt über der entsprechenden Stelle schwebte, aus feinen, leuchtenden Linien gebildet, genau dasselbe Symbol, wie er es eingeritzt hatte. Es stieg langsam auf, schwebte zum Brunnen hinüber und sank in das Wasser, eben dort, wo er das Zeichen ursprünglich erblickt hatte. Das Wasser begann nun erneut zu strahlen, von innen heraus zu glühen: ein warmes, goldenes Licht, das ganz leicht pulsierte.
Naghûl lief zum Brunnen und starrte hinein. „Seht … seht ihr das? Nicht, oder?“
Sarin verschränkte die Arme und musterte ihn skeptisch. „Nein, wir sehen nichts, Faktotum. Was treibt Ihr da?“
„Könnte dieses Zeichen dazu dienen, Hüterin und Verkünder zu rufen?“, überlegte Lereia. „Sie sagten doch, du würdest sie durch deine Gabe finden können.“
Naghûl nickte begeistert und blickte mit leuchtenden Augen auf das Symbol. „Ja, ein guter Gedanke!“
Neben ihm klatschte Erin aufgeregt in die Hände, während Sgillin plötzlich irritiert zu der dunklen Umhängetasche blickte, die er bei sich trug.
„Was ... soll denn das jetzt? Da bewegt sich doch was …?!“ Rasch öffnete er die Tasche, blickte hinein und zog dann etwas daraus hervor.
Es handelte sich um eine Laterne in der Form eines Schädels. Naghûl erkannte sie sogleich wieder: Diese Lampen waren bei Rock im Ring im vergangenen Jahr verteilt worden, als kleine Andenken für die Zuhörer. Er war damals als Eichelhäher aufgetreten, gemeinsam mit seiner Gruppe Aucupium, mit Sgillin als Gitarrist. Auch er selbst besaß eine solche Laterne, und eigentlich waren es nur lustige, harmlose Spaßgegenstände. Doch nun … nun bewegte der Totenkopf seine Kiefer und wackelte dabei hin und her.
„Bei allen Höllen …“, rief Sgillin verdutzt aus. „Die Lampe. Die … scheint was sagen zu wollen …“
Er hielt die Laterne etwas weiter in die Höhe, während die anderen neugierig näher traten. Und tatsächlich begann der Schädel zu sprechen …
„Symbol erkannt“, sagte er mit leicht knarzender Stimme. „Symbol „die Hüterin“ empfangen.“
Es klang vage vertraut … Ja, genau! Naghûl erinnerte sich. Die Fratze im Stock, die nahe der Leichenhalle zu Kiyoshi gesprochen hatte. Ihre Stimme hatte ähnlich geklungen, nur älter und spröder.
„Keine architektonisch verankerte Registrierung“, fuhr der Schädel fort. „Keine Informationen hinterlegt.“
Mit einem fragenden Stirnrunzeln blickte Sarin zu Naghûl, doch der Tiefling konnte nur ahnungslos die Hände heben.
„Ich verstehe es auch nicht …“
„Symbol "Die Hüterin" nicht geo-registriert ...“, klapperte die Laterne weiter. „Symbol eigenaktiv … Inkrafttreten in 5 … 4 ... 3 … 2 … 1 ...“
Instinktiv traten sie alle einen Schritt von Sgillin und der Laterne zurück.
„Symbol wird aktiviert.“ Im selben Moment verlosch das Glühen im Wasser und Naghûls Zeichen war wieder verschwunden.
„Nein!“, rief er aus. „Es hieß doch aktiviert! Warum verschwindet es nun?“
Die anderen blickten ihn ratlos an und Sgillin ließ die Hand mit der nun wieder leblosen Laterne sinken. Hektisch sah Naghûl sich um, ob er das Symbol anderswo entdecken konnte oder vielleicht ein neues zu sehen war. Dabei fing abermals ein Leuchten seinen Blick ein, doch diesmal kam es von einer einige Schritte entfernt stehenden Vogeltränke.
„Ich habe eine Idee!“, rief der Tiefling aus. „Kommt mit!“
Noch während er sprach, begann er schon loszurennen, und die anderen folgten ihm, teils neugierig, teils verwirrt. An der Vogeltränke blieb Naghûl ruckartig stehen und sah hinein. Und tatsächlich … „Da ist es wieder!“
„Was ist da?“, fragte Jana stirnrunzelnd.
„Das Symbol!“ Der Sinnsat hüpfte vor Begeisterung kurz auf und ab. „Da im Becken! Seht ihr es nicht?“
„Nein, wir sehen leider nichts“, erklärte Lereia sachlich.
Sarin verschränkte mit einem Stirnrunzeln die Arme, während Sgillin mit der Laterne ins Becken leuchtete, aber ebenso den Kopf schüttelte.
„Verdammt, das ist so ungerecht!“ Erin stemmte die Hände in die Seiten. „Naghûl, Ihr müsst mir unbedingt Euren Sinnstein öffnen.“
„Natürlich, Bundmeisterin!“, erwiderte der Tiefling begeistert. „Es wäre mir eine Ehre und eine Freude! Ich … oh, nein! Es ist wieder weg …“ Rasch blickte er sich um, als das Symbol erneut verblasste. „Wandert es vielleicht?“
„Oh.“ Lereia horchte auf. „Wie eine Spur?“
Naghûl nickte eifrig und rannte zum nächsten Brunnen, nahe des Eingangs zum Olympischen Flügel der Festhalle. Und tatsächlich leuchtete nun dessen Wasser und er konnte das Zeichen darin aufglühen sehen. „Ja, da ist es!“
„Vielleicht führt es uns zu ihr?“, meinte Lereia hoffnungsvoll. „Zur Hüterin.“
„Oh ja!“ Erin klatschte begeistert in die Hände, während Sarin ein wenig seufzte, der Gruppe aber in das Innere des Festhalle folgte.
„Ich hoffe, wir müssen jetzt nicht alle Brunnen Sigils ablaufen …“, warf Sgillin ein, noch immer mit der Totenkopf-Laterne in der Hand.
„Ach, bei der Dame!“ Naghûl winkte in Richtung des Halbelfen ab, nicht bereit, sich seine freudige Erregung und seine Begeisterung über das Geschehen in irgendeiner Weise trüben zu lassen. „Weiter!“
Ohne sich umzusehen, ob die anderen ihm folgten, rannte er zum nächsten Brunnen, der nahe der berühmten Statuengruppe „Die Bestie und die Jägerin“ stand. Wie er es gehofft hatte, glühte nun dessen Wasser auf und zeigte ihm das geheimnisvolle Symbol. Sobald der Schein wieder verblasste, schaute Naghûl zu dem Brunnen weiter hinten in der Haupthalle – doch nichts.
„Weiter hinten sehe ich nichts“, meinte er aufgeregt. „Also wahrscheinlich vor dem Haupteingang!“
Er eilte an Splitter vorbei, dem goldhäutigen Wächter und Empfangsmeister der Festhalle, und stürmte durch das hohe Eingangstor, die anderen ihm dicht auf den Fersen. Die Umstehenden sahen reichlich verdattert aus, als die Gruppe aus der Festhalle stürmte, darunter eine kindlich begeisterte Erin, ein eher angestrengter Sarin und ein Halbelf, der eine Totenkopflaterne schwenkte ... Die meisten brauchten eine Weile, bis sie sich wieder fassten und hastig verbeugten, und alle starrten der Gruppe neugierig hinterher. Naghûl jedoch erkannte, wie erhofft, ein Leuchten im Wasser des Brunnens vor der Festhalle. Es sprang weiter zu einem nahen Vogelbad, dann zu einer Pfütze und zu einem Fass voll Regenwasser. Der Tiefling hielt nicht mehr inne, spurtete von Wasseroberfläche zu Wasseroberfläche, in der Annahme und Überzeugung, dass die anderen ihm schon folgen würden. Da es ein eher seltener Anblick war, zwei Bundmeister zu Fuß und in solcher Eile und Aufregung durch den Kuratorenbezirk hasten zu sehen, folgten ihnen zahlreiche neugierige Blicke. Weder Sarin noch Erin schienen sich in diesem Moment daran zu stören. Jedoch konnte Naghûl aus dem Augenwinkel wahrnehmen, dass der Bundmeister des Harmoniums seiner Kollegin nicht von der Seite wich und das eine oder andere Mal einige zu neugierige Umstehende zurück scheuchte, damit sie Erin nicht zu nahe kamen. Trotz aller Aufregung um das unsichtbare Zeichen sah er sich im Moment offenbar in erster Linie als ein Mitglied des Harmoniums, das dafür sorgen musste, die Sicherheit einer Bundmeisterin Sigils zu gewährleisteten.
Naghûl hoffte bei sich, dass Sgillin nicht Recht behalten und das Zeichen sie nicht am Ende tatsächlich durch halb Sigil und womöglich gar bis in den Stock führen mochte. Erin würde nicht zögern, ihm zu folgen, aber diese Situation wäre selbst dem zumeist unbekümmerten Tiefling zu heiß gewesen. Doch glücklicherweise schien ihnen dieses Dilemma erspart zu bleiben, denn das Zeichen sprang schließlich von einem kleinen Wandbrunnen zu einem Wassereimer, der direkt vor der Limbusbar stand. Naghûl war nicht mehr dort gewesen, seit er den anderen seine Frau Morânia als eine der Erwählten vorgestellt hatte. Jedoch schien es nun, dass sie eintreten sollten, weil das Zeichen im Wasser des hölzernen Eimers verblasste und ansonsten kein Glühen oder Leuchten mehr in der Straße erkennbar war. Ohne lange zu zögern riss der Tiefling daher die Tür auf und stürmte hinein. Es war erst Nachzenit und daher noch nicht allzu viele Gäste anwesend, doch die Bar kam deutlich in nervösen Aufruhr ob der Anwesenheit der beiden Bundmeister. Sarin machte eine beschwichtigende Geste, um den Leuten zu bedeuten, ruhig zu bleiben und einfach weiter ihr in verschiedene Getränke verwandeltes Änderbier zu trinken.
Erin hingegen zog aufgeregt an Naghûls Ärmel. „Und nun? Wo ist es?“
Der Tiefling sah sich um – es war hier im Inneren der Bar nicht mehr so leicht wie draußen, eine Spur des Zeichens auszumachen. Die mit Chaosmaterie gefüllten Glaslaternen, die zu Dutzenden unter der Decke hingen, tauchten den Raum in ein diffuses Licht, das zudem in unregelmäßigen Abständen Farbe und Helligkeit änderte. Die bunt beleuchteten Regale hinter der Bar taten ein Übriges, um das Erkennen eines sachten Glühens hier deutlich zu erschweren. Naghûl musste zu einigen Tischen laufen, ehe er das Zeichen dann schließlich im Glas eines Feuergenasi entdeckte, der ihn irritiert anblickte und sofort mit seinem Stuhl vom Tisch abrückte, als er Sarin sich nähern sah. Doch da war der Tiefling schon weiter gehastet.
„Da lang!“, rief er, während er dem Aufglühen von Glas zu Glas durch die Bar folgte, aufgeregt wie ein kleines Kind.
Die Spur endete erneut an einer Tür, und zwar an dem Durchgang, der zu den zu mietenden Zimmern der Limbusbar führte. Ohne weiter nachzudenken oder abzuwarten, öffnete Naghûl sie und trat in den dahinter liegenden Gang. Mehrere Türen gingen davon ab, doch welche mochte die richtige sein? Fieberhaft ließ der Tiefling seinen Blick durch den Gang schweifen. Und dann erkannte er tatsächlich ein sachtes Glühen in einer Blumenvase, die auf einem Tischchen neben der vorletzten Tür des Ganges stand. In seiner Aufregung vergaß Naghûl jeglichen Anstand, riss einfach ohne anzuklopfen die Zimmertür auf und stürmte in den Raum. Und tatsächlich, direkt gegenüber des Eingangs, auf einem niedrigen Sofa, saß eine Lupinal mit hellgrauem Fell in einem türkis-grünen Kleid, die gerade in einem Buch gelesen hatte - Elyria. Ihre saphirblauen Augen musterten Naghûl freundlich, aber nicht sonderlich überrascht, als er derart unangemeldet und auch ungehobelt in ihr Zimmer stürzte.
„Da ist sie!“, rief er triumphierend.
Lereia betrat hinter ihm den Raum, jedoch gemessener und langsamer, hielt dann inne und lächelte, als sie Elyria sah. „Hüterin, ich grüße Euch“, sagte sie, wobei sie höflich den Kopf neigte.
Die Lupinal erhob sich schmunzelnd und vollführte einen Knicks, den sie noch etwas vertiefte, als ihr Blick auf die beiden Bundmeister fiel. „Mishakal zum Gruße.“
„Ach ja.“ Naghûl war noch immer aufgekratzt, entsann sich nun aber seiner Manieren und verbeugte sich. „Hüterin, der Segen der Dame.“
Auch Sgillin, Jana, Sarin und Erin waren nun eingetreten, und die Bundmeisterin der Sinnsaten schloss leise die Tür hinter sich.
Der Paladin verneigte sich knapp vor der Lupinal. „Ihr seid also die Hüterin?“
„So ist es“, erwiderte Elyria lächelnd. „Ich wusste, dass Naghûls Fähigkeit mich findet.“
„Und meine Lampe“, warf Sgillin grinsend ein.
Naghûl strahlte noch immer. „Das ist unglaublich.“
Auch Lereia wirkte aufgeregt und erfreut. „Ja, so hat Lady Elyria es uns im Elysium gesagt“, erklärte sie, an Sarin und Erin gewandt. „Sie wollen bei unserem nächsten Treffen dabei sein.“
Der Paladin musterte die Lupinal, ließ dann seinen Blick durch den Raum schweifen, konnte aber ansonsten niemanden entdecken. „Verzeiht“, wandte er sich an Elyria. „Darf ich fragen, wo Euer … Gefährte ... nein.“ Er unterbrach sich wieder. „Unglücklich formuliert, oder?“
Elyria nickte. „Sir Lorias.“ Sie schien keinen Anstoß an Sarins Formulierung zu nehmen, wurde aber ernster, als der Paladin des Nobanion erwähnt wurde. „Also, es gab da einen kleinen ... Zwischenfall.“
Die Begeisterung wich aus Erins Gesicht und machte einem besorgten Ausdruck Platz. „Was ist passiert? Bei der Dame ... Er ist doch nicht ...“
Auch Sarins Blick war alarmiert. „Geht es ihm gut? Ist er … noch am Leben?“
„Gewissermaßen ...“ Die Lupinal seufzte tief.
Sgillin runzelte die Stirn. „Gewissermaßen geht es ihm gut oder gewissermaßen ist er noch am Leben?“
„Also, das ...“ Elyrias Ohren zuckten etwas. „Das soll er Euch am besten bei dem Treffen, das wir sicher abhalten werden, selbst erzählen. Es war nicht so geplant, aber ... es soll uns von unserer Aufgabe nicht abhalten.“
Naghûl konnte sich keinen Reim auf die Worte der Hüterin machen und setzte schon zu einer Frage an, doch die Lupinal wehrte sie durch eine kurze Geste ab. „Ich glaube, ich habe bereits zu viel gesagt. Vergebt mir, ich möchte das nicht in seiner Abwesenheit tun. Aber ich kann versichern, Sir Lorias wird zu dem Treffen kommen.“
Sarin runzelte die Stirn. „Als geheimnisvolle Verkünderin macht Ihr Euch ziemlich gut, muss ich sagen.“
„Hüterin“, korrigierte Lereia leise und räusperte sich dann entschuldigend. „Verzeiht.“ Als der Paladin nur gnädig abwinkte, wandte die junge Frau sich wieder an die Lupinal. „Und nun bleibt Ihr hier in Sigil?“
Lady Elyria nickte. „Ich denke, das ist vorerst meine Aufgabe. Ich kann Euch aber erst alles erzählen, wenn auch Sir Lorias zugegen ist. Wir müssen das gemeinsam tun.“
Es gab eine Sache, die Naghûl schon die ganze Zeit über auf den Lippen brannte, und nun konnte er sich nicht mehr zurückhalten. „Die Frage ist nur, wo Ihr in dieser Zeit unterkommen sollt. Nicht hier in der Limbusbar, nehme ich an.“ Er warf einen Blick zu Erin. „Bundmeisterin, darf ich?“
Sie nickte mit einem wissenden Lächeln, vollführte eine zustimmende Geste. „Nur zu.“
Der Tiefling verneigte sich in Richtung der Lupinal. „Lady Elyria, es wäre uns eine Freude, wenn wir Euch einladen dürften, während Eurer Zeit in Sigil in der Städtischen Festhalle zu wohnen. Wir werden Euch den Aufenthalt so angenehm wie nur möglich gestalten.“
„In der Festhalle?“ Die Hüterin lächelte. „Wie könnte ich da nein sagen?“
„Moment“, wandte der Bundmeister des Harmoniums sofort ein. „Ist es da sicher genug?“
Erin warf ihm einen tadelnden Blick zu. „Sarin, ich bitte Euch ...“
Er hob die Brauen. „Die Frage war ernst gemeint, Lady Erin.“
Naghûl erkannte, wie Sgillin kurz die Augen verdrehte, den Moment nutzend, in dem der Paladin ganz auf die Hüterin konzentriert war.
Diese warf Sarin einen zögernden Blick zu. „Ähm ... die Kaserne ist sicher ein ehrenhafter und ... sehenswerter Ort“, meinte sie vorsichtig. „Ein sehr sicherer Ort, aber ...“
„Aber niemand wird gegen seinen Willen dort untergebracht, wenn er nichts verbrochen hat“, stellte Erin beruhigend fest und maß ihren Kollegen mit einem strengen Blick. „Oder?“
Abwehrend hob Sarin die Hände. „Ist ja gut, es war nur eine Anmerkung. Bei der Dame, beruhigt Euch, was ist denn heute mit Euch los?“
„Seltsam.“ Erin hob eine ihrer kupferfarbenen Brauen. „Das wollte ich Euch vorhin im Garten auch fragen ...“
Sarin schüttelte den Kopf, wenn auch nicht ohne eine leise Erheiterung. „Sehr witzig.“
Naghûl musste ein Schmunzeln unterdrücken, als Erin sich daraufhin mit einem kleinen Grinsen wieder an Elyria wandte. „Ihr seid somit in der Festhalle herzlich willkommen.“
„Dann nehme ich die Einladung gerne an“, erwiderte die Hüterin lächelnd. „Treffen wir uns – alle, die dabei sein sollten – in zwei Tagen, dann werden wir Euch mitteilen, was wir wissen.“
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gespielt am 12. Oktober 2012
1) Carlos Ruiz Zafón, Der Schatten des Windes




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