"Alles zu erfahren bedeutet, alles zu verstehen.“
Bundmeisterin Erin Montgomery
Dritter Leeretag von Savorus, 126 HR
Erin führte ein lockeres Gespräch mit ihrer Kollegin Rhys, während sie auf Terrance und Ambar warteten. Es ging um die Annehmlichkeiten des Wetters von Savorus und die anstehende Gemäldeausstellung von Via Caprakan in der Städtischen Festhalle. Erins Tressym Aurita hatte sich dabei auf Rhys Schoß zusammengerollt und schnurrte behaglich. Es war der Bundmeisterin der Sinnsaten bereits aufgefallen, dass die geflügelte Katze sich gerne bei der Tieflingsdame aufhielt, wenn sie zugegen war. Wahrscheinlich lag es an der inneren Ausgeglichenheit, die Rhys stets ausstrahlte und an ihren ruhigen Bewegungen. Mit ihren schlanken, hellgrauen Fingern strich sie behutsam über das weiße Fell, und schon bald atmete Aurita tief und gleichmäßig, offenbar in einen sanften Schlummer hinüber gedämmert. Als es dann klopfte, machte Erin ihrer Kollegin ein Zeichen, sitzen zu bleiben, um die Tressym nicht zu wecken und erhob sich ihrerseits, um zu öffnen. Die leuchtend orangen und dunkelvioletten Stofflagen ihres bodenlangen Gewandes umflossen sie dabei leicht, fast schwebend. Die Kreation von der Magma-Ebene trug den Namen Feuerfeder und war mit aufwändigen Stickereien in der Form eines Phönixschweifes verziert. Wie erwartet standen vor der Tür Ambar und Terrance, überraschender allerdings war, dass sie zeitgleich erschienen. Dass der Barde es schaffte, gerade dann einmal pünktlich zu kommen, wenn Sarin nicht zugegen war, entlockte Erin ein Schmunzeln. Es entging Ambar nicht, und er deutete es auch richtig, denn er hob abwehrend die Hände.
„Sagt es nicht, Lady Erin“, meinte er mit einem leichten Grinsen. „Ich mache das wirklich nicht, um Sarin zu ärgern. Ombidias, Keldor und ich sind nur tatsächlich in der Gießerei früher als erwartet mit der Begutachtung unseres neuen Projektes fertig geworden.“
„Ein Projekt, das nun glücklicherweise nicht mehr die Konstruktion von sieben riesigen Speichen ist, die den ganzen Ring von Sigil durchspannen“, setzte Terrance erheitert hinzu.
Erin musste herzlich lachen. „Ah ja, diese Sache. Seid Ihr sehr erleichtert, mein lieber Ambar, dass Karan das Projekt hat fallen lassen?“
„Aber ich bitte Euch.“ Der Barde grinste. „Es war doch vollkommen klar, dass die Xaositekten ein derartiges Projekt niemals zu Ende bringen würden.“
Erin schmunzelte. „Ja, ich muss zugeben, Eure Taktik war durchaus realistisch und das Risiko, dass Ihr das Projekt vollenden müsst, gering.“
Sie bat die beiden Männer, ihr in den hinteren Teil ihres Empfangsraumes zu folgen, wo Rhys mit Aurita auf dem Schoß auf einem der Sofas saß. Sie grüßte ihre Kollegen lächelnd und wies mit einer kurzen Geste auf die Katze, sich so entschuldigend, dass sie sich zur Begrüßung nicht erhob.
Ambar lachte. „Oh ja, das verstehe ich. Katzen sollte man nicht ohne Not wecken. Sie können sehr ungnädige Wesen sein.“
Beschwingt ging er zu dem Sofa gegenüber, setzte sich und legte leger den linken Fuß auf das rechte Knie. Terrance nahm neben ihm Platz, deutlich gemessener, wobei seine dunkelblaue Robe sacht raschelte. Er mochte nicht mehr der Vorsteher von Conclave Fidelis sein, aber er hatte dennoch immer den gewissen Habitus eines Hohepriesters an sich, der ihn nie ganz verließ. Erin wies auf den Tisch, um den beiden Männern zu bedeuten, sich an den Getränken zu bedienen, wenn ihnen danach war, und setzte sich dann wieder neben Rhys.
„Nun, lasst hören“, sagte sie dann im Plauderton. „Was gibt es an interessanten Neuigkeiten aus Euren Bundhauptquartieren?“
„Hm.“ Ambar legte ein wenig den Kopf schief. „Also, ich finde, dass man in letzter Zeit etwas mehr als sonst über Euch und Sarin redet.“
Sein neckendes Grinsen dabei entging ihr nicht und sie winkte erheitert ab. „Ach was. Es wird ständig geredet. Über alles und jeden.“
„Mhmm“, machte der Barde gedehnt. „Und in letzter Zeit etwas … mehr. Natürlich nicht verwunderlich, möchte ich meinen. Ihr und Sarin gehört mit Sicherheit zu den populärsten Führungspersönlichkeiten Sigils. Ihr seid beide attraktiv und mächtig und …“ Er lachte. „Ach, Ihr macht das doch mit Methode, werte Erin, ich bin sicher.“
Sie wölbte eine ihrer kupferfarbenen Brauen und beschloss, zu einem freundschaftlichen Gegenangriff überzugehen. „Ich kann nicht umhin zu bemerken, dass es nicht das erste Mal ist, dass Ihr Sarins Aussehen kommentiert, mein lieber Ambar.“ Dass des Barden Interesse Frauen wie auch Männern galt, war ihr zwar hinlänglich bekannt und eigentlich auch keiner Anmerkung wert - doch da gerade Sarin im Spiel war, konnte sie auf einen Kommentar nicht verzichten.
In den Zügen des Halbelfen zeichnete sich nun auch ein gewisses, wenngleich amüsiertes Erstaunen über ihre kleine Spitze ab. „Also, Erin, ich bin entsetzt“, erwiderte er. „Einerseits darüber, wie Ihr hier gerade vom Thema ablenkt und andererseits über die Anmerkung an sich. Ich habe Euer beider Aussehen kommentiert.“
Sie bemerkte das leise Schmunzeln auf den Mienen von Rhys und Terrance und zwinkerte Ambar zu. „Mhmm … Ja, schon klar.“
Er setzte zu einer Entgegnung an, bemerkte dann aber das Amüsement seiner Kollegen und lehnte sich zurück, während er sacht den Kopf schüttelte. „Oh nein, so einfach lasse ich mich nicht von Euch ärgern“, erklärte er erheitert. „Sarin ist ein attraktiver Mann, das wird man ja wohl noch sagen dürfen.“
„Immer doch“, meinte Erin schmunzelnd. „Aber tut mir den Gefallen und sagt es das nächste Mal in seiner Gegenwart. Denn das wäre noch weitaus lustiger.“
Ambar lachte herzlich, während Terrance sich mit einem belustigten Kopfschütteln eine Tasse Safran-Orangen-Tee eingoss. Dann wurde der Blick des Hohepriesters ernster.
„Bei diesem Stichwort … Warum ist Sarin eigentlich nicht hier?“
Erin nickte mit einem leichten Seufzen. „Ich möchte, erst einmal nur mit Euch dreien, über die Sache mit Sgillin sprechen.“
„Hinter Sarins Rücken?“ Ambar runzelte die Stirn. „Also, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Ich fühle mich dabei nicht ganz wohl. Das fühlt sich nicht richtig an.“
„Aber wir reden doch nicht hinter seinem Rücken“, beschwichtigte Erin ihn. „Wir wissen lediglich alle ganz genau, dass sein Bund das größte Problem mit dieser Sache hat. Wir vier können da etwas … lockerer sein. Und daher sollten wir uns erst einmal besprechen, wie wir vier zu der Sache stehen. Wie wir es damit halten wollen. Und uns dann überlegen, ob und in welcher Art wir auf Sarin einwirken möchten.“
In Terrances Stimme schlich sich ein deutlich ironischer Beiklang. „Also, kurz und knapp formuliert reden wir hinter seinem Rücken darüber.“
„Aber Terrance.“ Erin schlug ein Bein übers andere und lächelte etwas. „Ihr seid sehr ungnädig mit meinem Versuch, im Vorfeld ein wenig die Wogen zu glätten, die diese unerfreuliche Sache leider erzeugt.“
„Verzeihung“, erwiderte er schmunzelnd. „Nichts läge mir ferner. Und ich gebe zu, Ihr habt Recht. Es ist möglicherweise tatsächlich besser, das Thema erst einmal in diesem Kreis zu besprechen.“
Ambar nickte, wenngleich nicht ohne ein Seufzen. „Da ist wahrscheinlich was dran.“
Er beugte sich nach vorne, um sich etwas zu trinken einzuschenken. Auf die ihr eigene, fast unheimliche Weise schien Rhys geradezu zu erspüren, dass Ambar den Pfirsichwein wollte und reichte ihm ungefragt die Karaffe hinüber.
„Sagt, wie geht es Lereia nach der Sache gestern?“, fragte sie dabei.
Der Barde stutzte kurz, als sie ihm die Karaffe reichte, kannte die Bundmeisterin der Kryptisten aber inzwischen gut genug, um sich nicht allzu sehr über ihren prophetisch anmutenden siebten Sinn zu wundern. Mit einem dankenden Nicken nahm er das Getränk entgegen. „Als sie mir heute Vormittag davon berichtete, war sie recht gefasst“, antwortete er dann. „Aber ich konnte bemerken, dass Mallins Aktion sie durchaus verunsichert und auch verärgert hat. All diese politischen und gesellschaftlichen Verwicklungen sind ihr natürlich noch fremd. Und irgendwie habe ich auch ein schlechtes Gewissen wegen der Sache.“
„Aber das war doch nicht Eure Schuld“, entgegnete Terrance. „Noch hattet Ihr in diesem Moment Kontrolle darüber oder Einfluss darauf.“
„Das stimmt schon“, erwiderte Ambar. „Doch es tut mir leid, dass Lereia so schnell und mit solcher Wucht in den politischen Moloch des Käfigs gezogen wurde. Außerdem habe ich den Eindruck, dass die Situation zwischen ihr und Sgillin im Moment etwas angespannt ist. Kein Wunder nach den jüngsten Enthüllungen. Aber das macht es ihr natürlich nicht leichter.“
„Nur zu verständlich“, meinte Erin ernst. „Die Sache mit Sgillin ist das eine. Und Mallins Verhalten ist wirklich bodenlos!“
Der Barde nickte zustimmend. „Es ist in der Tat ungeheuerlich, was er sich da herausgenommen hat. Allerdings hat er möglicherweise Recht damit, dass wir alle in einem Boot sitzen. - In dieser speziellen Sache“, fügte er auf Erins scharfen Blick hin rasch hinzu.
Die Bundmeisterin der Sinnsaten stellte energisch ihr Glas ab. „Ich weigere mich ausdrücklich, mit jemandem wie Rowan Dunkelwald in einem Boot zu sitzen. Und selbiges gilt für Mallin. Ich sagte Sarin bereits deutlich, ich würde eher nackt in eine Schlangengrube steigen, als mit diesem Mann zusammenzuarbeiten.“
Der Barde wölbte eine Braue bei dieser Beschreibung und Erin kannte ihn gut genug, um zu ahnen, dass sich in seinem Kopf eine gewisse bildliche Vorstellung zu dieser Bemerkung aufbaute – wohingegen Sarin sich offenbar große Mühe gegeben hatte, sich dies nicht bildlich auszumalen. Terrance hingegen blieb mit der gewohnten Gelassenheit beim Thema.
„Ich kann Euch verstehen“, erwiderte er. „Ich wiederum bin auf die Zeichner nicht besonders scharf.“
„Ach, Darius ist doch wirklich in Ordnung“, warf Ambar ein. „Und ihre Philosophie ist nicht so schlecht. Zumindest nicht so destruktiv wie ...“
„... die der Athar?“, fragte Terrance mit einem Anflug von Ironie.
„Terrance!“ Der Halbelf setzte eine gespielt entrüstete Miene auf ob dieser offensichtlich nicht ganz ernst gemeinten Unterstellung. „Sinker oder Staubmenschen wollte ich sagen!“
„Da bin ich ja beruhigt“, entgegnete der Hohepriester mit einem erheiterten Schmunzeln. „Aber im Ernst: Ich habe nichts gegen Darius. Doch ich habe etwas gegen den Willen des Einen, und so lange diese Prisine im Spiel ist, habe ich nun einmal ein paar Vorbehalte.“
Rhys nickte sacht, während sie nach wie vor die leise schnurrende Tressym kraulte. „Und Sarin wird sich wahrscheinlich an der Freien Liga stören. Somit scheint es, als wären die Herrschner der einzige Bund, mit dem niemand von uns ein Problem hat. Etwas dünn für eine Allianz.“
„Das stimmt einerseits“, räumte Ambar ein. „Andererseits: Wenn Athar und Harmonium zusammenarbeiten können ...“
Er zwinkerte Terrance dabei neckend zu und Erin musste einmal mehr über die Dynamik der beiden Männer schmunzeln. So eng sie auch befreundet waren, so fanden sie doch stets Gefallen daran, sich in Gesprächen ein paar gut gemeinte Spitzen zuzuschießen.
„Dass diese Zusammenarbeit funktioniert“, bemerkte sie erheitert, „liegt aber nur daran, dass die Oberhäupter beider Bünde so abgeklärt und vernünftig sind.“
„Oh, danke.“ Terrance neigte leicht den Kopf. „Diese Abgeklärtheit brauche ich gerade auch mehr denn je.“
Rhys musterte ihn aufmerksam. „Probleme mit dem radikaleren Flügel Eures Bundes?“
„Nein.“ Der Bundmeister der Athar schüttelte den Kopf. „Zumindest nicht mehr als sonst. Es geht mehr um Jana.“
Ambar runzelte die Stirn. „Was ist denn mit ihr?“
„Ich weiß nicht, ob der Besuch in Conclave Fidelis ihr wirklich … gut getan hat“, erklärte der Hohepriester seufzend. „Sie fragte mich heute Vormittag, ob sie auch einen Tempel entweihen könnte.“
„Oha“, entkam es Erin.
„Ja, genau.“ Terrance nickte. „Sie meinte, dass zum einen meine Geschichte, wie ich den Tempel des Chemosh in Verdammnis entweiht habe, sie auf diese Idee gebracht hätte. Sie habe aber auch noch andere Gründe.“
Er wirkte alles andere als begeistert und Erin konnte es ihm nicht verdenken. Für einen angehenden Bundmeister der Athar war eine solche Tat verpflichtend und daher naheliegend. Für ein einfaches Bundmitglied jedoch … „Habt Ihr ihr erklärt, dass das vielleicht keine so gute Idee ist?“, fragte die Bundmeisterin der Sinnsaten daher vorsichtig.
„Ich bitte Euch“, erwiderte Terrance ernst. „Natürlich habe ich ihr das erklärt. Ich habe ihr dargelegt, dass es eine sehr ernste und schwerwiegende Tat ist, die viele Folgen nach sich ziehen kann. Und die man nur begehen sollte, wenn es absolut nötig ist.“
„Wie sie wissen sollte, weil ...“ Ambar sprach nicht weiter, sondern musterte seinen Freund und Kollegen eingehend.
Terrance stellte seine Teetasse ab und sah den Barden ruhig an. „Ja?“
„Weil gewisse Visionen über Euch das ja auch … andeuten könnten“, führte Ambar den begonnenen Satz zu Ende.
Der Hohepriester blieb so gelassen wie gewohnt, doch eine gewisse Unnachgiebigkeit, ja eine Spur von Härte fanden in seine Stimme, als er antwortete. „Ich weiß Eure Sorge zu schätzen, Ambar, aber ich habe hinlänglich klargemacht, dass ich über dieses Thema nicht mehr sprechen möchte, so lange wir keine weiteren Informationen dazu haben. Zudem es gerade nicht um mich geht.“
Der Halbelf hob die Hände und lächelte entschuldigend. „Verzeiht, Terrance. Seht es einfach als die Besorgnis eines guten Freundes. Aber Ihr habt Recht, das bringt uns im Moment nicht weiter. Wie verlief das Gespräch mit Jana dann noch?“
Die beiden Männer, das wusste Erin, verband seit über zwanzig Jahren eine enge Freundschaft. Ambars Sorge war aufrichtig und anrührend, und obgleich Terrance seinen Standpunkt gerade mit einem gewissen Nachdruck deutlich gemacht hatte, wusste er die Fürsorge seines Freundes gewiss zu schätzen, wie sein nun wieder versöhnliches Nicken andeutete. Er verschränkte die Finger ineinander, als er das ursprüngliche Thema wieder aufnahm.
„Jana meinte, je nachdem, welchen Tempel sie entweihen würde, könnte es ja auch eine gute und edle Tat sein.“
Sacht hob Rhys eine ihrer dunklen Brauen. „So wie den eines bösen Gottes des Untodes? Meinte sie das damit?“
„Ja, vermutlich“, erwiderte der Bundmeister der Athar seufzend.
Erin musterte ihn nachdenklich. „Interessanterweise fand ich immer, dass Ihr bei dieser Geschichte sehr zurückhaltend seid, wenn ab und an einmal das Gespräch darauf kommt. Fast so, als wäre es Euch unangenehm. Seid Ihr denn nicht … stolz darauf?“
Terrances Lächeln war so ernst, dass man es eher ein Stirnrunzeln nennen mochte. „Ich habe damals lange überlegt, welchen Tempel ich entweihen sollte. Ich wollte das eigentlich gar nicht tun. Aber wenn ich schon musste, dann wollte ich zumindest einen Gott wählen, der gegen alles steht, woran ich glaube. Und doch … Nachdem ich es vollbracht hatte, fühlte ich mich dennoch nicht so gut, wie ich es gerne getan hätte. Ich kann es schwer erklären. Ich hatte einfach das Gefühl, das wäre nicht … ich.“
Der ruhige, aber forschende Blick von Rhys dunkelroten Augen hatte den Hohepriester nicht verlassen, seit das Gespräch auf Jana gekommen war. „Woher rührte dieses Gefühl?“, fragte sie nun interessiert, aber sachlich.
Terrance lehnte sich zurück, seine Gedanken schienen zu jenem Tag zurückzukehren. Er schien keinen Anstoß an der Frage seiner Kollegin zu nehmen und dachte kurz nach. „Ich bin nicht sicher“, erwiderte er dann. „Vielleicht, weil ich es eher als meine Aufgabe ansehe, andere zu erleuchten und dabei etwas zu schaffen, statt zu zerstören. Ich bin in meinem Wesen eigentlich nicht so … offensiv, so aggressiv, wie ich es an jenem Tag war.“
Erin lauschte ihm gespannt. Es war eine seltene, aber willkommene Gelegenheit, einen solchen Einblick in die Gedanken und Gefühle des stets so abgeklärten Bundmeisters der Athar zu erlangen. Rhys hingegen nickte, offenbar zufrieden mit dem Gehörten.
„Und was treibt Jana an?“, fragte sie dann.
Abermals seufzte Terrance vernehmlich. „Sie denkt, sie könnte so das Große Unbekannte auf sich aufmerksam machen.“
„Also, das … ist mal was anderes“, bemerkte Ambar mit gehobenen Brauen. „Was habt Ihr ihr geantwortet?“
„Dass dies ja gerade der Punkt mit dem Großen Unbekannten ist“, erklärte der Hohepriester. „Dass da nicht jemand sie wahrnehmen oder ihre Hingabe bemerken muss. Das ist ja genau das, was die Götter wollen. Das Große Unbekannte ist etwas Größeres, Mächtigeres. Die eine Quelle, aus der uns alle Macht zufließt, wenn nur unser Glaube stark genug ist, dass wir diese Macht nutzen können.“
Ambar nickte lächelnd. „Die Quelle, die sogar den Göttern ihre Macht gibt.“
„Richtig. Warum also den Umweg über so genannte Gottheiten nutzen?“ Noch während er es sagte, neigte er leicht den Kopf in Erins Richtung, um den Affront etwas abzumildern, den diese Bemerkung ihr als Priesterin des Diancecht gegenüber enthielt. „Vergebung, Mylady.“
Sie winkte mit einem sachten Lächeln ab. In ihren religiösen Ansichten fühlte sie sich durch Terrances gelegentliche Spitzen deutlich weniger gestört als Sarin. Sie sah das Thema als nur einen von vielen bund-spezifischen Stolpersteinen, die man eben ab und an elegant umgehen musste. Sie bemerkte Rhys Schmunzeln bei dem Austausch der beiden kurzen Gesten, die, so klein sie auch sein mochten, dennoch viel über ihr und Terrances Temperament und Einstellungen verrieten.
Dann kam die Tieflingsdame wieder auf die eigenwillige Erwählte der Athar zurück. „Und hat Jana das verstanden?“
Er hob vielsagend die Brauen. „Sie sagte, sie würde es verstehen. - Direkt bevor sie mich fragte, ob sie meine Erlaubnis bräuchte, um einen Tempel zu entweihen.“
Erin schüttelte ein wenig ungläubig den Kopf. „Und … braucht sie die?“
„Ich würde gerne sagen, ja“, erwiderte der Bundmeister der Athar, nicht ohne eine gewisse Resignation. „Aber im Grunde nicht, nein.“
Alarmiert hob Ambar die Brauen. „Terrance ...“
„Sie versicherte mir, sie würde nichts gegen meinen Willen unternehmen“, erklärte der Hohepriester ruhig, wenngleich sein Tonfall erkennen ließ, dass er sich möglicherweise nicht unbedingt auf diese Versicherung verlassen wollte. „Ich sagte ihr, ich verstehe nicht, warum sie so versessen darauf ist. Sie antwortete, sie verstünde das selbst nicht, habe sich aber schon einen Tempel ausgesucht.“
Erin stellte ihr Glas ab. „Im Ernst?“
„Den Tempel des Sekolah in der Gläsernen Stadt auf der Wasserebene“, meinte Terrance seufzend. „Weil er ein Teufel sei und gegen alles stünde, woran sie glaube. Er sei aber nur ihr momentaner Favorit.“
Ambar schüttelte den Kopf. „Verzeiht meine direkten Worte, Terrance. Aber was reitet diese Frau?“
„In ihrem Inneren ist viel Aufruhr“, erwiderte der Hohepriester mit der ihm eigenen, bewundernswerten Gelassenheit. „Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass wir Frieden in unserem Inneren selten durch solche Taten gewinnen, wie sie Jana vorschweben. Ich riet ihr dringend, erst mehr Ruhe in sich selbst zu finden und sich dann darüber klar zu werden, ob sie das tatsächlich noch will. Sie meinte, sie würde versuchen, sich das wieder aus dem Kopf zu schlagen, aber … Nun ja, sicher bin ich mir da nicht.“
„Also, was Ihr da über Jana erzählt …“ Der Halbelf rieb sich den Nacken. „Das ist der nächste Grund, warum es gut ist, dass Sarin heute nicht hier ist.“
„In Sarins Gegenwart hätte ich das auch gewiss nicht so detailliert dargelegt“, erwiderte Terrance mit ironischem Unterton. „Er regt sich über solche Dinge immer so schnell auf.“
Erin konnte ein Schmunzeln über diese Bemerkung nicht unterdrücken, wurde dann aber wieder ernster. „Kommen wir doch zu dem, was Sarin garantiert besonders und zu Recht aufregen wird ...“
Ambar nickte. „Sgillin ...“
Terrance schenkte sich noch eine Tasse Tee ein und wiegte leicht den Kopf. „Nun, ich mag nicht Sarin sein, aber begeistert bin ich von dieser Geschichte auch nicht.“
„Ich ebenso wenig“, räumte der Barde ein. „Allerdings muss ich betonen, dass Lereia mir glaubhaft versichert hat, dass Sgillin nicht bewusst war, welchem Bund er sich da angeschlossen hat. Dass er in dem Glauben, ja der festen Überzeugung handelte, diese Klingenengel seien lediglich eine Bande im Stock. Keinesfalls eine Anarchistenzelle.“
„Ja.“ Rhys Finger strichen noch immer sacht über Auritas seidiges Fell. „So hat Morânia es mir auch berichtet.“
„Das waren auch in etwa die Worte, die Jana dafür gefunden hat“, bestätigte Terrance. „Wenngleich dabei mehrfach der Ausdruck Dussel fiel. Sie betonte, dass ein Mann, der schon seit einer Weile gewisse Geschäfte in Sigil macht und sogar für die Königin des Querhandels arbeitet, zumindest soweit mit der Stadt vertraut sein sollte, dass er ein Zeichen der Anarchisten erkennt. Und obgleich ich Janas Ansichten oft nicht teile, in diesem Punkt stimme ich ihr zu.“
Es erleichterte Erin, dass ihre drei Kollegen zumindest in den Grundzügen schon einmal eine gewisse Einigkeit zeigten. Das war kein schlechter Ausgangspunkt, um eine gemeinsame Basis zu finden. „Nun, da ist schon etwas dran“, stimmte sie Terrances Worten zu. „Das deckt sich auch mit Naghûls Bericht. Aber der wichtigste Punkt – und da scheinen wir uns einig zu sein – ist doch, dass Sgillin im Unwissen gehandelt hat, nicht wahr? Da stellt sich nun die Frage: Wie gehen wir mit der Sache um? Können wir hierin eine Einigkeit erzielen? Und letztlich: Können wir auch Sarin von dieser Sichtweise überzeugen, sollte er weniger verständnisvoll sein als wir?“
„Was durchaus wahrscheinlich ist“, warf Ambar ein.
„Richtig.“ Erin schlug ein Bein über das andere. „Ich sehe das so: Sgillin ist offenbar in diese Sache hinein gestolpert. Es war nie seine Absicht, sich ganz gezielt der Revolutionsliga anzuschließen. Das wiederum bedeutet, dass wir wahrscheinlich nicht fürchten müssen, dass er uns konkret hintergehen will. Zumal er mit Naghûl und Morânia befreundet und Lereia sogar seine Gefährtin ist. Und diese Bande sind deutlich älter und fester als seine neue Mitgliedschaft.“
Rhys nickte. „Dem stimme ich zu. Und wenn wir nun zu stärkeren Repressalien greifen, besteht das Risiko, dass wir ihn uns entfremden und er sich der Liga in verstärktem Maße zuwendet. Auf der anderen Seite dürfen wir nicht ignorieren, dass Anarchie nach den Gesetzen Sigils nun einmal verboten und Sarin Bundmeister des Harmoniums ist. Wie wir alle muss er den Prinzipien seines Bundes entsprechend handeln und seine Pflicht erfüllen. Wir stehen somit also durchaus vor einem größeren Dilemma.“
„Hm.“ Ambar blickte nachdenklich auf die friedliche schlummernde Tressym in Rhys Schoß. „Vielleicht können wir Sarin davon überzeugen, dass es vorteilhafter wäre, wenn Sgillin Teil unserer Gruppe von Erwählten bleibt als wenn wir ihn vertreiben und so komplett aus den Augen verlieren? Ich sage es ganz offen: Schon allein um Lereias Willen möchte ich nicht, dass irgendwelche schwerwiegenden Maßnahmen gegen ihn ergriffen werden.“
Terrance seufzte. „Ich kenne Sgillin noch nicht sehr lange und nicht sehr gut. Allerdings schätze ich ihn weder als einen Mann mit einem dunklen Herzen ein noch als einen Fanatiker. Ich persönlich bin bereit, ihm den Bonus des Zweifels zuzugestehen, so lange er uns keinen Anlass zum Gegenteil gibt. Aber ich kann auch leicht reden, weil ich Bundmeister der Athar bin und nicht der des Harmoniums.“
„Doch was wäre die Alternative?“, gab Erin zu Bedenken. „Ein schwerwiegender Punkt ist, dass es sich bei Sgillin auch um einen Erwählten der Ring-Prophezeiung handelt. Er wird mit den anderen Erwählten gemeinsam arbeiten müssen, daher können wir ihn schlecht einfach wegsperren. Ganz zu schweigen davon, dass dies für einen aus Unwissenheit begangenen Akt auch recht extrem wäre.“
„Und auch einen weiteren Punkt dürfen wir nicht vergessen“, fügte Rhys an. „Mehr und mehr zeichnet sich ab, dass die Erwählten sich über alle Bünde verteilen. Sollte tatsächlich zu jedem Bund ein Erwählter gehören, dann kommen wir um die Anarchisten letzten Endes nicht herum. Aber dann wäre es von Vorteil, ihr Erwählter wäre zumindest jemand, den wir kennen und der den unseren freundschaftlich verbunden ist.“
Ambar nickte. „Ich denke, hierin sind wir uns alle einig. Die Frage bleibt: Wie überzeugen wir Sarin von unserer Sichtweise?“
„Das werde ich versuchen“, erklärte Erin. „Ich werde ihn gleich morgen Nachmittag zu einem Gespräch hier in der Festhalle bitten und ihm alle Punkte darlegen, die wir gerade gesammelt haben. Ich bin sicher, er wird mir zuhören.“
„Wenn nicht Euch, dann niemandem“, bemerkte Terrance mit einem milden Lächeln.
„Ich bin sicher, Ihr überschätzt mich in dieser Frage“, schwächte Erin seine Bemerkung ab, obgleich sie nicht verleugnen konnte, dass seine Einschätzung ihr durchaus schmeichelte. „Ah ja, und da wir gerade schon hier versammelt sind: Da ist noch etwas anderes. Mir kam der Gedanke, dass es durchaus sinnvoll wäre, ein paar mehr Verbündete zu haben. Spezielle Verbündete, meine ich damit. Solche, die zwar nicht von der Prophezeiung und der Göttermaschine wissen, aber über Einfluss und Macht verfügen. Und die auch … dunklere Ecken erreichen können.“
Der Bundmeister der Athar hob die Brauen. „Die Gründe, die für Sarins Abwesenheit sprechen, werden ja immer vielfältiger“, stellte er mit leiser Erheiterung fest.
„Terrance!“, meinte Erin, gespielt empört. „Ich fühle mich heute auf unangenehme Weise stets aufs Neue von Euch ertappt.“
Ambar musste lachen. „Liebe Erin, das klingt – bei allem Respekt – ein wenig falsch ...“
Sie maß den Barden mit einem Blick, in dem sich Amüsement und Tadel zu gleichen Teilen mischten.
„Eure lasterhaften Gedanken sagen mehr über Euch aus als über mich, das ist Euch klar, oder?“
„Lasterhaft?“ Ambar grinste. „Ich muss doch sehr bitten. Aber lasst Euch nicht unterbrechen, Eure Ausführungen wurden gerade sehr spannend.“
Erin nickte, wurde wieder ernster und fuhr fort. „Die Botin sagte, es gäbe in anderen Bünden Personen, die gegen uns arbeiten. Aber ich denke, die Sache könnte durchaus weiter gehen, wenn auch eine Frau wie Shemeshka offenbar ihre Finger im Spiel hat. Und dann gäbe es da auch noch die Goldenen Lords, die wir auch nicht außer Acht lassen sollten. Einige von ihnen gehören Bünden an, aber nicht alle.“
„Ja, gerade unter den Hohen Häusern Sigils ist die Zahl der Bundlosen signifikant höher als in anderen Schichten“, stellte der Bundmeister der Göttermenschen fest. „Weil sie sich für mächtig und reich genug halten – und manche sind das sogar.“
„Richtig“, bestätigte Erin. „Und genau hier sind unsere Lücken. Mal einen Spion als Hausdiener hier oder sogar einen Verwalter dort einschleusen, schön und gut. Tun wir das nicht alle?“ Sie erwiderte Terrances wissendes Lächeln mit einem Augenzwinkern. „Aber wir brauchen jemanden, der mehr ist. Ich hätte gerne ein, zwei Goldene Lords an der Hand, die ganz direkt und effektiv mit uns zusammenarbeiten.“
„An wen dachtet Ihr?“, fragte der Bundmeister der Athar sachlich.
Erin schmunzelte. „Ihr vermutet ganz richtig, dass ich bereits jemanden im Auge habe. Ich dachte in zweiter Linie an Haus Arabani, in erster aber an Haus Loranóv.“
„Haus Loranóv?“ Ambar pfiff leise durch die Lippen. „Der uralte Vampir, nicht schlecht ...“
„Sarin wird begeistert sein“, setzte Rhys mit einem leisen Lächeln hinzu.
Die Bundmeisterin der Sinnsaten konnte nicht verhindern, dass die Vorstellung, ihrem Kollegen vom Harmonium diese Auswahl zu erklären, eine gewisse Aufregung wie auch eine gewisse Vorfreude in ihr wachrief. Es war ein wichtiger Schachzug auf genau dem Parkett, auf dem sie sich am liebsten bewegte und Sarin ein Mitspieler, den sie trotz – oder gerade wegen – so mancher Reibungspunkte hoch schätzte. „Es wird gewiss interessant, Sarin diesen Vorschlag zu unterbreiten“, erklärte sie lächelnd. „Aber eine Allianz mit Haus Loranóv hätte einige Vorteile. Vor allem dahingehend, dass ich dem Grafen zutraue, auch in sehr dunklen Ecken und an sehr … delikaten Orten verschüttete Informationen zu erreichen. Ich bin noch am Überlegen, wie wir das am besten anstellen. Wir sollten uns auf jeden Fall erst einmal auf ein Haus konzentrieren, das wird schwer genug. Ich spreche mich also für Haus Loranóv aus und Rhys ist meiner Ansicht. Sarin ist dieser Ansicht sicher auch, nur weiß er es noch nicht.“ Sie grinste spitzbübisch auf Terrances erheitertes Kopfschütteln hin.
„Und wie wollt Ihr vorgehen?“, fragte Ambar interessiert.
Erin nahm einen Fächer aus Pfauenfedern aus einer Schlaufe am Gürtel, klappte ihn auf und fächerte sich Luft zu. „Damit ein Mann wie Graf Loranóv an einer Zusammenarbeit mit uns interessiert ist, müssen wir ihm etwas bieten, das er unbedingt will. Und was er will, sollten wir herausfinden, ohne ihn zu fragen. Dann besorgen wir es und haben es sofort parat, wenn wir den Handel machen. Das ist wesentlich beeindruckender, als wenn wir ihn erst fragen müssen und dann noch Wochen oder Monate brauchen.“
Der Bundmeister der Athar lächelte. „Geschickt wie stets, Lady Erin.“
„Zu viel des Lobes, werter Kollege.“ Sie neigte leicht den Kopf. „Ich werde ein paar Informationen zu Haus Loranóv einholen lassen. Der Graf ist eine sehr geheimnisumwitterte Gestalt. Angeblich ist er sehr, sehr alt. Inwieweit das stimmt oder nur Eindruck machen soll, weiß ich nicht. Man sagt auch, er käme eigentlich von der Materiellen. Das trifft wahrscheinlich zu, sonst würde er es sich wohl nicht nachsagen lassen.“ Diese Bemerkung hätte sie in Sarins Anwesenheit natürlich höflich unterlassen. „Ich werde versuchen, so bald wie möglich an diese Information heranzukommen.“
„Ich sehe, es bleibt wie immer spannend“, stellte Ambar fest. „Also kümmert Ihr Euch zuerst um den Bundmeister des Harmoniums und dann um den uralten Vampir-Lord?“
„So ist es.“ Erin musste schmunzeln. „Und ich weiß im Moment nicht, was ich als die größere Herausforderung ansehe.“
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basierend auf dem Rollenspiel vom 4. Oktober 2012 mit Janas Spieler und vom 9. Oktober 2012 mit Naghûls Spieler





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