"Ein Tanz sagt mehr als tausend Worte."
Sprichwort aus Svartalfheim
Dritter Kuratorentag von Savorus, 126 HR
Die eisige Luft biss in ihre Wangen, als sie den Rand des Kristallwaldes erreichten. Dilae blickte auf den Nordwind Kompass in ihren Händen, der sie zuverlässig bis hierher geführt hatte. Die Eiswölfe hatten sie in dem Schlitten durch eine endlose Weite aus Schnee und Eis gezogen, unterbrochen nur von gelegentlichen Eisformationen, die wie stumme Wächter aus der weißen Ebene ragten. Einmal waren sie durch einen Spalt zwischen zwei Eisbergen gefahren, wie schon bei der Flucht vor den Yetis, doch dieser war länger gewesen und hatte immer wieder kleinere Eisbrocken auf sie herabregnen lassen. Glücklicherweise hatte das magische Dach des Schlittens sie geschützt. Stunden waren vergangen, der Wind hatte an ihrer Kleidung gerissen und winzige Eiskristalle mit sich getragen, die sich wie Nadelstiche auf ihrer Haut angefühlt hatten. Dann endlich war der Kristallwald vor ihnen aufgetaucht und sie hatten den Schlitten zurück gelassen. Als sie den Ort betraten, zu dem der Nordwind Kompass sie geführt hatte, umfing sie sofort eine Welt aus glitzerndem Eis und schimmerndem Licht. Jeder Baum schien aus reinem Kristall zu bestehen, seine Oberfläche so glatt und klar, dass man hindurchsehen konnte. Die Stämme erhoben sich majestätisch in den Himmel, manche schlank und gerade, andere gewunden und verschlungen wie erstarrte Tänzer. Die Äste der Kristallbäume verzweigten sich in filigranen Mustern, jeder Zweig ein Kunstwerk aus Eis. Unzählige Eiszapfen in allen Größen hingen daran, die im leichten Wind aneinander schlugen und eine zarte, glockenhelle Melodie erzeugten. Es war, als sänge der Wald ein leises Lied. Das Licht brach sich in den Eisbäumen und warf Regenbogenfarben auf den gefrorenen Boden. Der Schnee war übersät mit schimmernden Flecken in Rot, Blau, Grün und Gold, als gingen sie durch ein riesiges Kaleidoskop.
Bewundernd musterte Dilae ihre Umgebung. „Ich war schon an ein paar Flecken in den Ebenen“, meinte sie lächelnd. „Aber ich habe noch nie etwas Vergleichbares gesehen.“
Je tiefer sie in den Wald vordrangen, desto dichter standen die Bäume. Die Luft schien mit einer uralten Magie erfüllt zu sein, spürbar in jedem Atemzug. Nur das leise Klingen der Eiszapfen brach die tiefe Stille.
Plötzlich hielt Tarik inne und deutete auf einen nahen Baum. „Seht“, flüsterte er.
Dilae blickte in die Richtung, in die der Tiefling zeigte und erspähte auf einem der niedrigeren Äste ein kleines Wesen, nicht größer als eine Kinderfaust. Es hatte die Gestalt einer winzigen Frau und durchscheinende Libellenflügel, aber sein Körper schien vollständig aus Eis zu bestehen. Mit flinken Bewegungen webte das Geschöpf etwas, das wie ein feines Netz aus Frost aussah.
„Das muss eine Frostfee sein“, meinte Yelmalis leise.
Als hätte sie die Worte gehört, drehte sich die Fee zu ihnen um. Ihre hellblauen Augen funkelten wie zwei Eiskristalle. Mit einer anmutigen Bewegung ließ sie sich auf dem Ast nieder, an dem sie ihr Netz befestigt hatte. Die Form ließ vermuten, dass es eine Art Spinnennetz werden sollte. „Willkommen, Reisende“, sagte die Fee. „Nur selten verirren sich Sterbliche in unseren Wald.“
Garush warf Dilae einen auffordernden Blick zu – anscheinend war die Halborkin nicht scharf darauf, mit der Frostfee zu sprechen.
So trat die Dunkelelfe ein wenig vor und nickte sacht. „Wir suchen die Eisnachtigall“, erklärte sie. „Kannst du uns vielleicht sagen, wo sie zu finden ist?“
Die zarten Flügel der Fee bewegten sich schnell auf und ab. „Ein edles Ansinnen.“ Sie nickte ernst, und ihr Gesichtsausdruck ließ vermuten, dass sie genau wusste, worum es hier ging. „Der Weg zur Eisnachtigall ist nur schwer zu finden. Aber ich werde euch helfen.“
„Und was ist der Preis?“, fragte Sekhemkare unumwunden.
Tarik seufzte. „Nicht jeder verlangt immer etwas. Manchmal helfen Leute tatsächlich auch selbstlos.“
Die Zunge des Yuan-Ti schnellte kurz hervor. „Leute, ja. Aber Feen?“
Dilae wollte schon eine tadelnde Bemerkung machen, aber die Frostfee lachte, ein heller, kristallklarer Ton. „Er hat nicht unrecht. Normalerweise würde ich etwas für meine Hilfe verlangen. Aber König Torvik hat mich einmal vor ein paar sehr unfreundlichen Eismephiten gerettet. Daher bin ich ihm etwas schuldig.“
Sekhemkare nickte zufrieden, offenbar beruhigt, dass er nicht in der Schuld einer Fee stand – und auch weil er mit seinem Einwurf letztlich Recht behalten hatte. Die Frostfee hingegen begann nun, ihr Netz weiter zu weben. Doch faltete sie dabei immer wieder dessen Enden ein, löste die unteren Haltefäden und klappte einen Teil des Gespinstes nach oben. Einige der Fäden, die sie hinein webte, waren dunkler als die anderen, schimmerten hellblau, türkis und azurblau. Staunend erkannte Dilae, dass die Fee das Netz zu einer Art Karte spann. Schließlich war eine etwa handtellergroße, sechseckige Struktur entstanden, die entfernt an eine Schneeflocke erinnerte und kleine hellblaue Punkte, türkise Linien sowie ein paar dunkelblaue Flecken zeigte.
Mit beiden Händen hielt die Frostfee die Karte hoch. „Hier, dies wird euch den Weg zur Eisnachtigall weisen. Aber seid vorsichtig: Sie ist zerbrechlich und kann durch die Wärme eurer Körper schnell schmelzen.“
Garush sah fragend zu Sekhemkare, doch der Yuan-Ti hatte gerade erst einen Feuertrank genommen, ansonsten wäre er in der eisigen Umgebung schon lange in Kältestarre verfallen.
"F-45 kann die Karte tragen“, schlug Yelmalis vor. „Er kann auch auf niedriger Wärme-Einstellung operieren und hat seine Hüllen-Temperatur ohnehin schon reduziert, um Energie zu sparen.“
Dilae schmunzelte und strich dem Monodron sanft über das kühle Metall direkt über dem Auge. „Auf dich ist eben Verlass, F-5.“
Das kleine Konstrukt wandte ihr sein Auge zu. „Anmerkung: Ich verstehe nicht, warum du darauf bestehst, mich F-5 zu nennen, obgleich meine Bezeichnung F-45 lautet, Dilae aus Svartalfheim. Aber die Antwort lautet: Ja, ich kann die Karte tragen.“
Mit einem Schmunzeln ob der Antwort seines Vertrauten, aber auch wegen Dilaes Freude darüber nahm Yelmalis die Karte von der Frostfee entgegen und befestigte sie vorsichtig an einem der Flügel von F-45.
Die Fee nickte. „Folgt dem Pfad, den diese Karte weist. Aber seid gewarnt: Die Yuki Onna, die diesen Wald beherrscht, wird die Eisnachtigall nicht einfach hergeben. Möge das Glück mit euch sein.“ Mit diesen Worten löste sie sich in eine Wolke glitzernder Schneeflocken auf und war verschwunden.
So gingen sie los, geleitet von der zerbrechlichen Eiskarte, die am Flügel von F-45 befestigt war. Es stellte sich rasch heraus, dass Yelmalis und Sekhemkare am besten darin waren, die ungewöhnliche Karte der Frostfee zu lesen. So gingen die beiden voran, ihr Blick konzentriert auf die schimmernde Karte gerichtet, während die anderen wachsam die Umgebung im Auge behielten. Der Pfad, den die Karte wies, führte sie tiefer in den Kristallwald hinein. Die Bäume standen hier dichter, ihre durchsichtigen Stämme und Äste verwoben sich zu einem filigranen Labyrinth aus Eis. Das Licht, das durch die kristallinen Strukturen fiel, brach sich auch hier in allen Farben des Regenbogens und tauchte die Umgebung in ein surreales, schimmerndes Zwielicht.
„Vorsicht“, warnte Garush, als sie unter einem Ast hindurchgingen, von dem messerscharfe Eiszapfen hingen.
Trotz der märchenhaften Atmosphäre war der Wald offensichtlich nicht ohne Tücken. Die Kälte wurde intensiver, je weiter sie vordrangen, und Dilae spürte, wie sich eine Gänsehaut auf ihren Armen bildete. Einmal blieb Tarik stehen und deutete auf eine Öffnung zwischen den Bäumen. Dort, auf einer kleinen Lichtung, stand eine Gruppe von Eisskulpturen, so lebensecht, dass man glauben konnte, wirkliche Tiere wären mitten in der Bewegung zu Eis erstarrt. Sie sahen einen Fuchs, der gerade zum Sprung ansetzte, ein Reh, das anmutig den Kopf neigte, und einen kleinen Vogel, der die Flügel ausbreitete, als ob er im nächsten Moment davonfliegen würde.
„Eine schwache arkane Signatur“, murmelte Yelmalis, während er die Skulpturen musterte. „Sie scheinen von innen heraus zu leuchten.“
Sekhemkare zischte leise, offenbar weniger angetan von dem Anblick. „Lasst uns weitergehen. Diese Statuen machen mich nervös.“
Sie setzten ihren Weg fort, wobei sie noch ein paar weitere der wundersamen Eisgebilde entlang des Pfades entdeckten. Einmal überquerten sie eine schmale Brücke aus purem, durchsichtigem Eis, unter der ein gefrorener Bach lag. Dilae konnte Fische sehen, die wie in der Zeit erstarrt unter der Eisoberfläche schwammen. Schließlich führte die Karte sie zu einem Vorhang aus Eiszapfen. Dahinter schimmerte ein bläuliches Licht.
„Das muss es sein“, flüsterte Dilae aufgeregt.
Es dauerte eine Weile, in den dicht hängenden Eiszapfen eine Lücke zu finden, die groß genug war, um sie durchzulassen. Fast war es, als würden sie durch Reißzähne aus Eis einen riesigen Rachen betreten. Dilae erschauderte ein wenig, und dies nicht nur der Kälte wegen. Doch nachdem sie sich vorsichtig zwischen zwei großen Eiszapfen durchgeschoben hatten, betraten sie keineswegs eine maulartige Höhle, sondern eine wunderschöne, kreisrunde Lichtung. In der Mitte stand ein einzelner Baum, größer und prächtiger als alle anderen, die sie im Wald gesehen hatten. Seine Zweige formten eine natürliche Kuppel, unter der wie ein Findling ein großer Brocken aus purem, blauem Eis lag. Und dort, auf einem der unteren Äste, saß ein kleiner Vogel. Sein Gefieder war so klar wie reiner Diamant, jede Feder ein Kunstwerk aus Eis und Licht. Es konnte nur die Eisnachtigall sein, dessen war Dilae sicher. Die Gruppe sah sich um, überwältigt von der Schönheit und spürbaren Magie des Ortes. Doch ehe sie sich der Nachtigall nähern konnten, spürten sie alle eine Veränderung in der Luft … Es war, als hielte der gesamte Wald den Atem an.
Garush, stets wachsam, ließ ihre Hand zum Axtgriff gleiten. „Irgendetwas ist anders hier“, murmelte sie, ihre gelben Augen aufmerksam auf die Umgebung gerichtet.
Sekhemkare neigte den Kopf zur Seite, während er die Luft mit seiner Zunge prüfte. „Die Magie hier ist ... intensiv“, zischte er leise.
F-45, der bisher schweigend neben Yelmalis gestanden hatte, drehte seine kleinen Flügel hin und her. „Vorsicht“, warnte er. „Meine Sensoren zeigen eine Anomalie in der Luftdichte und Temperatur direkt vor uns an.“
Kaum hatte der Monodron die Worte gesprochen, als ein eisiger Wind aufkam. Die Luft vor ihnen begann zu wirbeln, Schneeflocken und Eiskristalle verdichteten sich zu einer schimmernden, ätherischen Gestalt. Eine Frau mit schneeweißer Haut und Haar, wie aus dünnen Eisfäden gesponnen, erschien vor ihnen. Sie schwebte einige Fingerbreit über dem Boden, gekleidet in einen weiten, weißen Kimono. Ihre Augen waren kalt und durchdringend wie Eissplitter, fixierten jeden in der Gruppe für einen langen Moment. Dilae hielt den Atem an. Die Yuki Onna war erschienen, bereit, die Eisnachtigall zu beschützen. Garush spannte sich an, offenbar bereit für einen Kampf, doch Tarik legte ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm. Sekhemkare und Yelmalis hingegen verneigten sich leicht in Richtung der Schneefrau, respektvoll, aber auch vorsichtig.
Dilae fasste sich ein Herz, trat einen Schritt vor und sprach mit ruhiger, aber fester Stimme. „Ehrwürdige Yuki Onna, wir kommen in Frieden und mit einer Bitte.“
Die Schneefrau neigte leicht den Kopf. „Sprecht, Sterbliche. Was führt euch in mein Reich?“ Ihre Stimme war wie das Flüstern von fallendem Schnee.
Yelmalis, der F-45 schützend hinter sich geschoben hatte, antwortete. „Wir kommen im Auftrag von König Torvik und ersuchen die Hilfe der Eisnachtigall. Sein Volk ist in Gefahr, und nur ihr Lied kann den Fluch brechen.“
Die Luft schien plötzlich noch kälter zu werden. Die Worte der Yuki Onna, obwohl kaum lauter als ein Flüstern, wehten durch den Wald wie ein eisiger Wind, der die Zweige der Kristallbäume zum Klingen brachte. „Ihr begehrt also unseren wertvollsten Schatz. Doch wisst: Sie singt nur für jene, die ich als würdig befinde.“
Die Gruppe stand wie erstarrt, gebannt von der überirdischen Erscheinung des Schneegeistes und unschlüssig, was nun zu tun war. Garushs Hand lag fest auf dem Griff ihrer Axt, während Tarik an Yelmalis Seite getreten war, beide nun schützend vor F-45 stehend. Sekhemkare zischte leise, seine Zunge zuckte in sehr kurzen Abständen zwischen seinen Lippen hervor, wie immer, wenn er angespannt war. Dilae spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Sie wusste, dass dieser Moment entscheidend war. Mit einem tiefen Atemzug trat sie noch einen Schritt weiter nach vorn. Der Schnee knirschte leise unter ihren Füßen, und der Kontrast ihrer dunklen Haut gegen das blendende Weiß des Waldes erschien ihr noch stärker als zuvor. Genau dieser Kontrast war es, der ihr gerade eine Idee eingegeben hatte …
„Ehrwürdige Yuki Onna“, sagte sie. „Ich stamme von der Ebene Ysgard, wo wir die Bedeutung des Winters nur zu gut kennen. Wenn ich Euch überzeugen kann, dass ich die Macht von Frost und Winter ehre, werdet Ihr uns dann erlauben, das Lied der Eisnachtigall zu König Torvik zu bringen?“ Garush warf ihr einen alarmierten Blick zu, doch die Dunkelelfe bedeutete der Amazone durch eine sachte Geste, es sie versuchen zu lassen.
Die Augen der Yuki Onna, kalt und klar wie gefrorene Seen, fixierten Dilae. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Dann neigte die Schneefrau leicht den Kopf. „Worte sind Wind, Tochter der Dunkelelfen“, erwiderte sie, ernst, aber nicht mehr ganz so abweisend wie zuvor. „Zeig mir die Wahrheit deines Herzens.“
Dilae spürte, wie sich alle Blicke auf sie richteten. Sie schloss für einen Moment die Augen, atmete tief durch. Die Kälte des Waldes, die Präsenz der Yuki Onna, die angespannte Erwartung ihrer Gefährten - alles schien in ihr zusammenzufließen. Dann begann sie zu singen, eine alte dunkelelfische Melodie, ein Lied von Frost und Schnee, von der Schönheit, aber auch der Härte des Winters. Ihre Stimme, klar und rein wie ein Gebirgsbach, schien mit dem Kristallwald zu verschmelzen. Die Eiszapfen an den Bäumen vibrierten leicht, als würden sie auf die Melodie antworten. Während sie sang, begannen Dilaes Füße sich wie von selbst zu bewegen. Ihr Körper folgte dem Gesang in einen Tanz zu Ehren der Dunklen Maid Eilistraee, aber auch zu Ehren des Winters. Und dann hörte sie es, tief in ihrem Inneren: die Klänge des Kristallwaldes. Nicht die Töne der durchsichtigen Äste und der filigranen Zweige, die sie seit Betreten dieses Ortes vernahmen. Nein, es war etwas, das tiefer ging: die Musik des Daseins. Denn das war ihre Gabe. In dem Fragment der Prophezeiung, das Bria gefunden hatte, stand geschrieben: Das Kind, das zur Musik des Daseins tanzt. Sie, die Illusion und Wirklichkeit verwebt. Alle Orte der Ebenen hatten eine ihnen eigene, ganz besondere Melodie, die Dilae durch ihre Gabe wahrnehmen konnte. Und während sie sich auf ihren eigenen Gesang und Tanz konzentrierte, konnte sie auch das Lied des Kristallwaldes wahrnehmen.
Die Melodie begann leise und zart, wie das sanfte Fallen von Schneeflocken. Hohe, klare Töne erinnerten an das Glitzern von Eiskristallen im Sonnenlicht, ein sanfter, tiefer Unterton an die stille Kraft der gefrorenen Bäume. Dilae zog ihre Handschuhe aus und warf sie beiseite ohne ihren Tanz zu unterbrechen, öffnete die Knöpfe ihres Mantels und streifte ihn ab, um mehr Bewegungsfreiheit zu gewinnen. Ihre Bewegungen waren fließend wie Wasser und filigran wie Eiskristalle, ihre Arme beschrieben anmutige Bögen in der Luft, die dem Rhythmus der Melodie folgten. Als sie aus ihren Stiefeln schlüpfte, um barfuß weiter zu tanzen, hörte sie hinter sich einen besorgten Einwurf von Yelmalis, doch die Worte drangen gar nicht wirklich an ihr Ohr. Zu sehr war sie bereits eins mit der Melodie des Kristallwaldes. Sie legte ihren Gürtel ab und schlüpfte aus ihrer Hose, dann ihrer Tunika, all ihre Bewegungen perfekt eingebunden in den Tanz. Als sie nur noch ihre Unterwäsche trug, spürte sie zwar die Kühle der Luft auf ihrer Haut, doch sie wusste, dass die Macht des Eises ihr in diesem Moment nichts anhaben konnte. Ihre Füße hinterließen kaum Spuren im Schnee, es war ein Tanz der Ehrerbietung an den Winter und an die Yuki Onna. Das Lied des Kristallwaldes wurde nun intensiver, glockenspielartige Klänge waren wie das Klirren von Eiszapfen im Wind, während lange, schwebende Noten die weite, verschneite Landschaft beschrieben. Zuletzt streifte Dilae auch ihre Unterwäsche ab, trug nur noch ein Amulett in Form einer Schneeflocke um den Hals – ein Schmuckstück, das seiner Trägerin Resistenz gegen Kälte gewährte, doch sie wusste, sie hätte es nicht gebraucht, nicht so lange sie die Musik des Daseins hörte. Vollkommen nackt tanzte sie nun auf der Lichtung zwischen den Bäumen aus Kristall, so wie Eilistraees Anhängerinnen es seit jeher taten. Ihr Haar schimmerte weiß wie Schnee, doch ihre schwarze Haut zeichnete sich vor dem sie umgebenden Weiß so scharf und deutlich ab wie Tusche auf heller Seide. In jeder Bewegung, jeder Drehung lag eine tiefe Anerkennung der Schönheit und Macht des Winters. Die Melodie des Waldes wechselte zwischen ruhigen, winterlichen Passagen und lebhafteren Momenten, die das Funkeln und Schimmern des Eises zum Ausdruck brachten. In diesem Moment hatte Dilae das Gefühl, eins zu werden mit dem Wald um sie herum. Sie nahm weder ihre Gefährten noch die Yuki Onna wahr, es gab nur sie selbst und ihren Tanz. Und als sie sich dann in einer letzten Pirouette drehte, begannen die Schneeflocken um sie herum ebenfalls zu tanzen. Sie wirbelten um die sie herum, als wären sie von ihrer Darbietung angezogen, und formten komplizierte Muster in der Luft.
Dilae beendete ihren Tanz mit einer tiefen Verbeugung vor der Schneefrau. Atemlos, mit glänzenden Augen, blickte sie zu dem Geistwesen auf und für einen langen Moment herrschte absolute Stille im Wald. Selbst der Wind schien den Atem anzuhalten. Sacht und lautlos schwebten die Schneeflocken herab und landeten auf Dilaes bloßer Haut. Die Yuki Onna sah sie an und in ihren Augen flackerte etwas - vielleicht Anerkennung, vielleicht sogar so etwas wie Freude. Es war schwer zu sagen, bei einem so fremdartigen Wesen. Dann, kaum hörbar zunächst, begann die Eisnachtigall zu zwitschern. Ihr Lied war von bewegender Schönheit, kristallklar und doch warm, wie Sonnenlicht, das sich in Eiskristallen bricht. Es schien den gesamten Wald mit Leben zu erfüllen.
Die Yuki Onna neigte den Kopf, eine Geste des Respekts, das spürte Dilae. „Dein Herz spricht wahr, Tochter der Dunkelelfen“, sagte sie, ihre Stimme nun wärmer, als würde Eis in der Sonne tauen. „Dein Tanz ehrt den Winter und alles, wofür er steht.“ Sie wandte sich der Eisnachtigall zu und streckte eine Hand aus. Der kleine Vogel, nicht größer als eine Handfläche und schimmernd wie ein lebendiger Eiskristall, hüpfte bereitwillig auf ihren Finger. „Die Nachtigall wird euch begleiten“, erklärte die Yuki Onna. „Sagt König Torvik, dass unser alter Zwist beendet ist.“
Mit zitternden Händen, vor Aufregung, aber auch, weil sie allmählich die Kälte spürte, ließ Dilae die Eisnachtigall auf ihren Finger flattern. Der glitzernde Vogel fühlte sich überraschend warm an. „Wir danken Euch, ehrwürdige Yuki Onna“, sagte die Dunkelelfe mit einer Verbeugung.
Die Schneefrau nickte ein letztes Mal, ein kaum wahrnehmbares Lächeln umspielte ihre Lippen. Dann, so plötzlich wie sie erschienen war, löste sie sich in einen Wirbel aus Schneeflocken auf und verschwand. Der Kristallwald um sie herum schien aufzuatmen, die Anspannung wich einer friedlichen Stille. Dilae stand noch immer unbekleidet im Schnee, und blickte wie verzaubert auf die Eisnachtigall. Als sie dann ihren Blick umherwandern ließ, sah sie es: Ihr Tanz hatte die Lichtung verändert. Wunderschöne Eisblumen wuchsen im Schnee, die sich spiralförmig von dem blauen Eisblock in der Mitte ausbreiteten. Zwischen ihnen waren hohle Kugeln aus Eis erschienen, die von innen heraus leuchteten und ein sanftes, blaues Licht verströmten. Ketten aus miteinander verbundenen Schneekristallen hingen an den Ästen und bildeten Girlanden zwischen den Bäumen. Die ganze Lichtung wirkte plötzlich festlich geschmückt. Dilae lächelte. Die Macht ihres Tanzes, aus der Melodie eines Ortes Illusionen zu erzeugen, war jener Teil ihrer Gabe, den sie am liebsten mochte. Sie würden nicht für immer bleiben, doch hatte es für einen Tanz zu Ehren des Winters genügt. Nun erst spürte die Dunkelelfe die Kälte und begann, am ganzen Leib zu zittern. Und im selben Moment kamen auch schon Yelmalis und Garush auf sie zu, die eilig ihre Kleidung aus dem Schnee aufgesammelt hatten.
„Zieh dich schnell wieder an“, knurrte Garush, ihr rauer Tonfall mit Sorge unterlegt. „Du holst dir noch den Tod!“
Dilae nickte schlotternd, ließ die Eisnachtigall vorsichtig auf Tariks Hand hüpfen und nahm von der Amazone erst ihre Unterwäsche, dann ihre Tunika entgegen, um diese rasch überzustreifen.
Nachdem sie ihr auch ihre Hose gereicht hatte und nichts mehr in den Händen hielt, verschränkte die Halborkin die Arme und musterte Dilae kopfschüttelnd. „Unglaublich, wer kommt denn auf so eine Idee? Nackt im Schnee zu tanzen?“
„Nenn es eine Eingebung“, erwiderte die Dunkelelfe zähne-klappernd. „Und es hat funktioniert, oder nicht?“
Tarik nickte lächelnd. „Allerdings. Das war unglaublich, Dilae. Ich habe noch nie etwas so Bewegendes gesehen.“
„Natürlich war es beeindruckend“, räumte Garush ein, während Yelmalis der Dunkelelfe Stiefel und Mantel reichte. „Aber ich hatte wirklich Sorgen, dass du uns erfrierst.“
„Ich glaube, die Magie meines Tanzes schützt mich vor solchen Gefahren“, meinte Dilae nachdenklich.
Sekhemkare hielt ein kleines Fläschchen mit einer orange-roten Flüssigkeit hoch. „Magie ist gut“, bemerkte er. „Ein Feuertrank ist vielleicht noch besser. Möchtest du einen?“
Dilae lachte. „Ich glaube, in diesem Fall sage ich nicht nein. Der Zauber der Musik des Daseins schützt leider nicht vor dem Frieren danach.“
Mit einem Grinsen reichte ihr der Yuan-Ti die Phiole, die sie in einem Zug leerte. Sofort spürte sie erleichtert, wie sich eine angenehme Wärme in ihrem Inneren ausbreitete. Dann ließ Tarik die Eisnachtigall wieder auf ihre Hand zurück hüpfen.
Yelmalis musterte den Vogel fasziniert. „Kaum zu glauben, dass die Yuki Onna sie uns überlassen hat. Dein Tanz, Dilae, war wahrhaft magisch.“
Die Dunkelelfe lächelte. „Ich folgte einfach meinem Herzen. Die Musik des Waldes, die Präsenz der Yuki Onna - alles floss zusammen.“
„Ich bin froh, dass es funktioniert hat“, schnaubte Garush. „Ich war schon bereit für einen Kampf.“
Sekhemkare zischte amüsiert. „Das bist du immer, Garush. Aber manchmal braucht es eben ... subtilere Methoden.“
„Lasst uns zu König Torvik zurückkehren“, meinte Tarik schmunzelnd, ehe der Yuan-Ti und die Amazone eine Diskussion beginnen konnten. „Sein Volk wartet auf das Lied des Erwachens.“
Die anderen nickten und so machte sich die Gruppe auf den Rückweg durch den Kristallwald. Die Bäume schienen nun lichter zu stehen, Äste bogen sich gar zur Seite und schufen einen klaren Pfad. Das Licht, das sich in den Eiskristallen brach, wirkte wärmer und freundlicher. Dilae trug die Nachtigall vorsichtig auf ihrer Hand, und der kleine Vogel zwitscherte ab und zu leise, ein Klang wie ein winziges Glöckchen. Als die Gruppe aus dem Kristallwald trat, erstreckte sich wieder die weiße Weite der Eisebene vor ihnen, endlos und majestätisch. Hier wartete ihr Schlitten, die sechs Eiswölfe noch immer angeschirrt und geduldig in der Kälte ausharrend. Als die Tiere die Gruppe erblickten, hoben sie ihre Köpfe und begrüßten sie mit freudigem Heulen. Das Echo ihres Rufes hallte weit über die Schneefläche, ein willkommener Klang in der sonst so stillen Landschaft.
Garush trat vor und tätschelte den Kopf des Leitwolfes. „Brave Tiere“, lobte sie. „Haben ohne zu murren in dieser Eiswüste ausgeharrt.“
Sie stiegen in den Schlitten, die Amazone nahm wieder auf dem Bock Platz, Sekhemkare und Dilae mit der Eisnachtigall auf der vorderen Bank. Yelmalis half F-45 hinein und setzte sich dann neben Tarik auf die hintere Bank. Sekhemkare wickelte sich sofort in ein paar Decken, sichtlich erleichtert, sich nach der Wanderung durch den Kristallwald wieder aufwärmen zu können. Garush nahm die Zügel in die Hand und auf ein leises Kommando hin setzte sich der Schlitten in Bewegung.
Die Rückfahrt zu Torviks Höhle verlief ruhiger als der Hinweg. Fast war es, als hätte der Erfolg ihrer Mission die Ebene besänftigt. Der Wind, der zuvor so bissig gewesen war, schien nun sanfter zu wehen. Die Schneeflocken, die vom Himmel fielen, tanzten friedlich um den Schlitten herum, anstatt ihnen ins Gesicht zu peitschen. Dilae beobachtete, wie die Landschaft an ihnen vorbeizog. Eisberge ragten in der Ferne auf, ihre Spitzen von Wolken umhüllt. Hier und da durchbrachen die inzwischen vertrauten kristallenen Formationen die weiße Oberfläche, glitzernd im fahlen Licht. Die Stille war fast greifbar, nur unterbrochen vom sanften Gleiten der Kufen über den Schnee und dem rhythmischen Atmen der Wölfe. Nach mehreren Stunden Fahrt tauchte in der Ferne endlich der massive Eisberg auf, in dem sich Torviks Höhle befand. Als sie näherkamen, konnten sie bereits das sanfte, bläuliche Licht der Eislaternen erkennen, das den Eingang markierte.
Kaum hatten sie den Schlitten zum Stehen gebracht, eilte auch schon König Torvik aus der Höhle. Seine massige Gestalt bewegte sich überraschend schnell über den Schnee. Seine Aufregung war geradezu greifbar. „Ihr seid zurückgekehrt“, sagte er, seine tiefe Stimme vor Anspannung zitternd. „Habt ihr ...?“
Dilae trat lächelnd vor. Vorsichtig hob sie die Hand und zeigte Torvik die Eisnachtigall, deren Gefieder wie tausend winzige Diamanten glitzerte. Der kleine Vogel drehte seinen Kopf, um den Eisbärenkönig mit klaren, blauen Augen anzusehen.
Torvik starrte die Eisnachtigall an, eine Mischung aus grenzenloser Erleichterung und einem Rest von Ungläubigkeit in seinem Blick. „Ihr habt es tatsächlich geschafft“, brummte er. „Ich kann es kaum glauben.“
Dilae nickte. „Die Yuki Onna lässt Euch ausrichten, dass der alte Zwist beendet ist.“
Bei diesen Worten war es, als würde eine gewaltige Last von Torvik genommen. Sein massiger Körper schien sich mit einem Mal zu entspannen. „Das ... bedeutet mir mehr, als ihr ahnt“, sagte er, seine Stimme rau, geradezu überwältigt. Er streckte zögernd eine seiner großen Pranken aus, als wolle er die Nachtigall berühren, hielt dann aber inne, als fürchte er, das zarte Wesen zu verletzen. Stattdessen neigte er seinen mächtigen Kopf zum Dank in Richtung der Erwählten. „Kommt“, sagte er. „Lasst uns in die Höhle gehen. Es ist Zeit, mein Volk zu wecken.“
Mit diesen Worten wandte er sich um und die Gruppe folgte ihm in die Tiefen des Berges. Er führte sie zu der Kammer mit den schlafenden Eisbären. Dort setzte Dilae die Nachtigall auf einen kleinen Eisfelsen. Für einen Moment war es vollkommen still, dann begann der Vogel zu singen. Der erste Ton erklang, rein und klar, dann folgte eine Melodie von bewegender Schönheit. Es war ein Lied jenseits aller Beschreibung, wie fallender Schnee und brechendes Eis, wie der Wind in einer Winternacht und das Knirschen von Schritten auf Neuschnee. Es war kalt und warm zugleich, traurig und hoffnungsvoll. Nach und nach schien das Lied die Höhle mit Licht zu füllen. Es strömte durch das Eis und umhüllte die schlafenden Eisbären wie eine warme Decke. Zuerst geschah nichts … Doch dann, ganz langsam, begann sich einer der Bären zu regen. Ein Augenlid zuckte, eine Pfote bewegte sich … Langsam, einer nach dem anderen, hoben die schlafenden Eisbären ihre Köpfe. Sie blinzelten verwirrt und staunend, fuhren sich verschlafen mit ihren Pfoten über das Gesicht.
Torvik stand da, und seine Augen glänzten feucht. „Ihr habt uns gerettet“, sagte er mit rauer Stimme. Doch ehe er sich seinen erwachenden Artgenossen zuwandte, nickte er der Gruppe entschlossen zu. „Ihr habt Euer Versprechen gehalten. Nun ist es an mir, das meine zu erfüllen.“
„Danke, Majestät“, erwiderte Tarik, nur flüsternd, so als wolle er die gerade erst erwachenden Eisbären nicht stören.
König Torvik führte sie nun noch tiefer in das Höhlensystem, durch mehrere gewundene Eisgänge, bis sie eine kleine Grotte erreichten. Sie war ein Wunderwerk aus Eis und Licht, allenthalben ragten Kristallformationen aus dem Boden und reflektierten das sanfte Leuchten, das von der Mitte des Raumes ausging. Dort, auf einem kleinen Schneehügel, wuchs eine einzelne Blume. Dilae hielt den Atmen an. Es musste die Gletscherrose sein, von der Tarik geträumt hatte. Sie war von atemberaubender Schönheit, ihre Blütenblätter wie aus feinstem Eis geformt, durchscheinend und doch von einem zarten Blau durchzogen. Im Zentrum der Blüte pulsierte ein schwaches, bläuliches Licht wie der Rhythmus eines unsichtbaren Herzschlags.
„Die Gletscherrose“, erklärte Torvik. „Die seltenste Blume unserer Ebene. Sie wächst hier seit Jahrhunderten, gehütet und beschützt von meinem Volk.“
Yelmalis trat vorsichtig näher, seine Augen weit vor Staunen. „Sie ist wunderschön“, flüsterte er.
Torvik nickte. „Und sie ist Euer. Ihr habt bewiesen, dass Ihr würdig seid, sie zu erhalten.“
Sekhemkare sah den König nachdenklich an. „Aber ... ist sie nicht von unschätzbarem Wert für Euch?“
Der Eisbär lächelte. „Ihr Wert liegt in dem Guten, das sie bewirken kann.“ Dann trat er zu dem Schneehügel und löste vorsichtig die Gletscherrose aus dem Eis.
In dem Moment, als die Blume gepflückt wurde, erfüllte ein sanftes Leuchten die Grotte. Dilae fühlte sich ein wenig überwältigt von der Bedeutung des Augenblicks. Sie hatten nicht nur ein Volk gerettet, sondern auch den Schlüssel zu ihrer eigenen Suche gefunden. Nun waren sie bereit für den nächsten und vielleicht letzten Schritt ihrer Reise - was auch immer dieser bringen mochte.
Sie hatten sich von Torvik verabschiedet und dann relativ zügig die Höhlen verlassen, um den Moment des Erwachens zwischen dem Eisbärenkönig und den Seinen nicht zu stören. Als sie dann wieder bei ihrem Schlitten standen, musterten sie nochmals genauer die Gletscherrose, die Tarik behutsam in den Händen hielt. Die Blütenblätter der Blume schimmerten in verschiedenen zarten Blautönen und waren so dünn und zerbrechlich wie feinster Kristall. Stängel und Blätter bestanden aus klarem Eis, das im Licht funkelte. Dann plötzlich begann die Blume sanft zu pulsieren und das bläuliche Leuchten wurde stärker. Vor den erstaunten Augen der Gruppe lösten sich feine Eiskristalle von den Blütenblättern. Sie schwebten in der Luft, glitzernd und funkelnd wie Sterne am Nachthimmel, und formten eine schimmernde Spur, die sich immer weiter in die Ferne ausbreitete.
„Sie scheint uns den Weg zu zeigen“, flüsterte Yelmalis. Staunend musterte er die Gletscherrose und die Schmetterlinge, die ihn stets umgaben, schimmerten in den gleichen Blautönen wie die Blume aus Eis.
Dilae trat neben ihn. „Es ist wunderschön“, sagte sie leise. „Wie ein Pfad aus Sternenstaub.“
Garush, pragmatisch wie immer, überprüfte bereits die Ausrüstung des Schlittens. „Mag sein, aber wir sollten uns beeilen. Wer weiß, wie lange diese Spur hält.“
Sekhemkare nickte zustimmend, trotz der dicken Kleidung vor Kälte zitternd. „Je schneller wir dem Pfad folgen, desto eher kommen wir hoffentlich an einen wärmeren Ort.“
F-45, der neben Yelmalis stand, drehte seine Flügel hin und her. „Meine Arcanum-Sensoren zeigen an, dass die Kristalle eine schwache magische Signatur aufweisen. Es ist wahrscheinlich, dass sie uns zu unserem Ziel führen werden.“
Tarik schmunzelte. „Dann lasst uns aufbrechen.“
Sie stiegen in den Schlitten und die glitzernde Kristallspur führte die Gruppe zunächst über eine weite, schneebedeckte Ebene, die sich bis zum Horizont erstreckte, nur unterbrochen von gelegentlichen Erhebungen und Verwehungen. Der Wind pfiff ihnen um die Ohren, ein eisiger Begleiter, der Schneeflocken vor sich hertrieb und in wirbelnden Mustern tanzen ließ. Die Kufen des Schlittens knirschten im tiefen Schnee, ein stetiges Geräusch, das sich mit dem Atmen der Eiswölfe vermischte. Gelegentlich passierten sie jene gigantischen Eisformationen, die in dieser Gegend überall wie surreale Skulpturen aus dem Boden ragten. Manche ähnelten gefrorenen Wellen, andere wirkten wie bewegungslose Elementare und wieder andere erinnerten an erstarrte Flammen. Das Licht brach sich in diesen Eiskolossen und warf ein Kaleidoskop aus Blau- und Weißtönen über die Landschaft. Dilae beobachtete fasziniert, wie die Kristallspur vor ihnen her tanzte, ein Band aus glitzernden Sternen, das sie durch diese unwirkliche Landschaft führte. Etwa zwei Stunden später erreichten sie den Fuß einer kleinen Gebirgskette. Schneebedeckte Gipfel ragten wie die Zähne eines schlafenden Drachen in den Himmel. Die Kristallspur wand sich einen schmalen, verschneiten Pfad hinauf, der sich an den steilen Hängen entlangschlängelte. Die Fahrt wurde hier mühsam, die Eiswölfe kämpften sich keuchend den Berg hinauf, während die Gruppe im Schlitten sich festklammerte, um nicht herauszufallen. Doch Garush lenkte das Gefährt mit stoischer Ruhe, und einmal mehr war Dilae dankbar dafür, dass die Amazone so leicht nichts schrecken konnte.
Schließlich führte der Pfad sie in eine Höhle. Der Schlitten passte gerade so durch ein Eingang und sie hatten natürlich alle die Befürchtung, dass sie das Gefährt würden zurücklassen müssen. Zu ihrer Erleichterung aber öffnete sich der Spalt im Felsen drinnen zu einer weiträumigen Kaverne. Deren Wände waren über und über mit leuchtenden Kristallen bedeckt, die in allen Farben des Regenbogens schimmerten. Es war, als wären sie in einen riesigen Edelstein eingetreten, die Luft hier merklich wärmer als außerhalb des Berges. Vor allem für Sekhemkare war es eine willkommene Erleichterung nach der beißenden Kälte. Während sie eine kurze Rast einlegten, untersuchte Yelmalis interessiert die Kristalle, während F-45 Messungen der Umgebung vornahm. Garush hatte dagegen ein wachsames Auge darauf, dass sich die glitzernde Spur der Gletscherrose nicht auflöste. Sie entdeckten einen kleinen Bach, der munter durch die Höhle plätscherte, sein Wasser so klar, dass man jeden Kiesel auf dem Grund erkennen konnte. Sie nutzten die Gelegenheit, um ein paar Schlucke zu trinken und Dilae fand, dass es das reinste und erfrischendste Wasser war, das sie je gekostet hatte. Pures, elementares Wasser konnte sogar jenes der Oberen Ebenen in den Schatten stellen. Doch sie setzten die Fahrt bald fort, wollten auf keinen Fall riskieren, die Spur der Gletscherrose zu verlieren. Glücklicherweise blieb die Höhle weit genug für den Schlitten und auch der Ausgang war so breit, dass sie wieder hinaus fahren konnten. Direkt hinter der Höhle fanden sie sich in einem Labyrinth aus Eisnadeln wieder. Die spitzen Formationen ragten in alle Richtungen, manche so dünn wie Nadeln, andere dick wie Baumstämme. Sie reflektierten das Licht in einem verwirrenden Spiel, das die Augen täuschte und die Orientierung erschwerte. Schatten und Lichtreflexe tanzten über die Eisoberflächen und schufen Illusionen von Bewegung und Tiefe, wo keine war.
„Ohne die Kristallspur hätten wir uns hier sicher verirrt“, bemerkte Dilae, während sie dem glitzernden Pfad folgten, der sie sicher durch das Gewirr aus Eis führte.
Doch schließlich endete die Spur an einer massiven Eiswand. Sie erhob sich vor ihnen wie eine unüberwindbare Barriere, glatt und scheinbar undurchdringlich. Die Wand erstreckte sich in beide Richtungen soweit das Auge reichte und ragte hoch in den Himmel, verlor sich nach oben hin in den tief hängenden Wolken. Das Eis schimmerte in verschiedenen Blautönen und reflektierte das Licht in hypnotisierenden Mustern. Die Kristallspur führte direkt darauf zu und verschwand in einer haarfeinen Spalte, kaum breiter als ein Finger. Die Öffnung war so schmal, dass sie auf den ersten Blick kaum zu erkennen war, nur das sanfte Glitzern der Kristalle verriet ihren Verlauf.
„Da sollen wir durch?“, fragte Garush skeptisch. Die Amazone stieg vom Bock des Schlittens und legte ihre Hand prüfend auf die glatte Eisoberfläche.
Tarik wiegte den Kopf. „Wir sollten auf die Gletscherrose vertrauen“, sagte er, während er die Blume vorsichtig in seinen Händen drehte. Er trat näher an die Wand heran und untersuchte die Spalte genauer.
Zu Dilaes Überraschung weitete sich die Öffnung leicht, als Tarik mit seinen Fingern darüber strich. Es war, als würde das Eis auf seine Berührung reagieren, sich sanft zurückziehen wie ein lebendiges Wesen.
Yelmalis trat neben ihn und musterte die Wand neugierig. „Es scheint eine Art von elementarer Magie zu sein, die auf die Präsenz der Gletscherrose reagiert.“
So bewegte der Tiefling die Hand mit der Eisblume noch einige Male vor dem Spalt auf und ab, und tatsächlich weitete er sich bis ein Durchgang entstanden war, den sie durchschreiten konnten. Einer nach dem anderen betraten sie den Tunnel. Garush ging natürlich voran, ihre Hand stets am Griff ihrer Waffe für den Fall, dass Gefahr drohte. Tarik war direkt hinter ihr, die Gletscherrose vorsichtig vor sich haltend, dann folgte Yelmalis mit F-45. Dilae warf Sekhemkare einen fragenden Blick zu, doch der Yuan-Ti bedeutete ihr, vorzugehen und bildete dann das Schlusslicht. Es war eng und kalt, und für einen Moment umgab sie vollständige Dunkelheit. Die Wände des Spalts schienen sie zu umschließen, die Luft war dünn und eisig, und für einen kurzen, beklemmenden Augenblick fühlte es sich an, als würden sie von der Kälte verschluckt werden. Dann, plötzlich, weitete sich der Spalt. Ein Lichtstrahl drang zu ihnen durch, wurde heller und stärker. Mit einem letzten Schritt traten sie hinaus ins Licht - und in die atemberaubende Schönheit eines verborgenen Tals. Die Gruppe blieb wie angewurzelt stehen, überwältigt von dem Anblick, der sich ihnen bot. Sanfte Hügel, bedeckt mit schimmerndem Schnee, umgaben eine weite Ebene. In der Mitte des Tals lag ein spiegelglatter See, dessen zugefrorene Oberfläche wie poliertes Silber glänzte und Himmel und Hügel reflektierte wie ein gewaltiger natürlicher Spiegel. Am Ufer des Sees wuchsen Bäume aus purem Eis, ihre durchsichtigen Stämme und Äste erinnerten Dilae an den Kristallwald. Die Zweige waren mit Windspielen aus Eisscherben behangen, die im Sonnenlicht funkelten und ein faszinierendes Spiel aus Licht und Farben auf den Schnee warfen. Die Kristallspur, die sie hierher geführt hatte, setzte sich fort und führte sie um den See herum zu einem erhöhten Plateau. Dort, auf einer Anhöhe mit Blick über das gesamte Tal, stand ein Pavillon aus schimmerndem Kristall. Filigrane Bögen aus Eis formten die Wände, das Kuppeldach wurde von einem Halbkreis aus kunstvoll geformten Eissäulen getragen.
Als sie sich der Laube näherten, ihre Schritte knirschend im unberührten Schnee, traten zwei Gestalten aus dem kristallenen Gebäude. Eine war eine Lupinal mit hellgrauem Fell und saphirblauen Augen. Sie trug ein bodenlanges, türkis-grünes Kleid, das mit goldenen Fäden durchwirkt war. Neben ihr stand ein menschlicher Mann mit kinnlangem, blondem Haar. Er trug eine mit den Abbildern goldener Löwen verzierte Rüstung.
Die Lupinal winkte ihnen grüßend zu. „Willkommen, Reisende. Ich bin Elyria, die Hüterin.“
„Und ich bin Lorias, der Verkünder“, erklärte der Mann freundlich. „Wir haben Euch erwartet.“
Dilae warf den anderen einen kurzen Blick zu. Während Garush wie immer wachsam wirkte, hielt Sekhemkare sich offenbar bewusst im Hintergrund. Yelmalis hatte eine Hand auf die Außenhülle von F-45 gelegt und seine Schmetterlinge flatterten etwas lebhafter um ihn herum als gewöhnlich. Tarik hielt noch immer die Gletscherrose, und aus irgendeinem Grund hatte Dilae das Gefühl, dass dies in qualifizierte, als erster mit Elyria und Lorias zu sprechen.
„Sind das die beiden, von denen du geträumt hast?“ fragte sie leise. Als er langsam nickte, machte sie eine auffordernde Geste in Richtung des Mannes und der Lupinal.
Der Tiefling räusperte sich etwas überfordert, trat dann aber vor. „Ähm … ich bin Tarik. Das hier sind Garush, Dilae, Sekhemkare und Yelmalis mit seinem Vertrauten F-45. Ihr ... habt uns erwartet?“
Lorias lächelte, als er auf sie zutrat. „So ist es. Die Gletscherrose führt nur jene hierher, die dazu bestimmt sind. Ihr habt eine lange Reise hinter Euch - und eine noch längere vor Euch.“
Elyria trat ebenfalls näher, ihre Bewegungen fließend und anmutig. Sie deutete auf den Pavillon. „Kommt", sagte sie warm. „Wir können Euch noch nicht alles sagen, aber ein paar Antworten vermögen wir Euch zu geben.“
Erneut tauschte Dilae einen kurzen Blick mit den anderen aus. Sie alle wirkten wahlweise wachsam oder verwirrt. Doch da es sich bei dem Mann und der Lupinal offenbar um die beiden handelte, von denen Tarik geträumt hatte, schienen sie tatsächlich am Ziel ihrer Reise angelangt zu sein. Und so folgten sie ihnen zu dem glitzernden Pavillon, um sich anzuhören, was sie zu sagen hatten.










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