Die Revolutionsliga ist ein Krebsgeschwür im Herzen Sigils. Wenn sie nicht schnell und still eliminiert wird, könnte sie unser Verderben werden.“

Dekurio Guin Rhond, Bericht an Legat Tonat Shar




Dritter Leeretag von Savorus, 126 HR

Sarin übergab seiner Adjutantin Amariel etliche Blätter mit Notizen und ein paar kurze Anweisungen, ehe er sie in die Halle der Redner schickte. Es galt, im Vorfeld der nächsten Sitzung einige Gespräche mit Vertretern anderer Bünde zu führen, denn die alltägliche Politik Sigils legte der Prophezeiung wegen noch lange keine Pause ein. Dann warf der Bundmeister einen kurzen Blick auf die Uhr und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Er erwartete einen ganz bestimmten Soldaten zu einem Gespräch unter vier Augen ... Nahezu übertrieben pünktlich klopfte es denn auch an seiner Tür und einer der Offiziere, die draußen Wache hielten, meldete das Erscheinen von Kiyoshi. Sarin gab die Erlaubnis, den Soldaten einzulassen und der junge Mann schlug die behandschuhte Faust gegen den Brustpanzer, während er sein Haupt neigte. In dieser Position verharrte er dann. Sarin musterte den Soldaten nicht unbedingt strafend, aber doch mit einer gewissen Strenge. Er ließ ihn einige Momente warten, ehe er ihn ansprach.

„Rühren, Soldat. Tretet näher.“ Er winkte ihn mit der linken Hand zu sich.

Kiyoshi kam bis auf etwa drei Schritte heran und blickte Sarin mit regloser Miene an. Der Bundmeister entsann sich der Bemerkung seines Soldaten, dass dies in Kamigawa undenkbar gewesen wäre. Doch da er ihm einst ausdrücklich befohlen hatte, ihn anzusehen, wenn er mit ihm sprach, kam der junge Mann dieser Anordnung seitdem pflichtbewusst nach. Sarins Blick blieb unverändert, während er Kiyoshi prüfend musterte. „Ich habe Euch rufen lassen, um über das zu sprechen, was gestern geschah. Habt Ihr mir etwas dazu zu sagen?“

Kiyoshi schien noch etwas gerader zu stehen als bisher. „Ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui, ich möchte untertänigst um Verzeihung dafür bitten, gefangen genommen worden zu sein. Es wird nicht wieder vorkommen.“

Sarin konnte seinen Ärger nicht ganz verbergen, als das Gespräch auf dieses Thema kam. Zwischen seinen dunklen Brauen bildete sich eine leichte, senkrechte Falte. „Ich bin nicht gerade begeistert davon, was Mallin sich da geleistet hat. Zugegeben war ich überrascht, dass er so weit gegangen ist. Aber ich sollte ihn eigentlich besser kennen. Das meine ich jedoch nicht. Es gab nichts, was Ihr in dieser Lage, überrumpelt und unvorbereitet, einer Gruppe von hervorragend ausgebildeten Elitekriegern des Roten Todes hättet entgegensetzen können. Ich mache Euch keinen Vorwurf deswegen, Kiyoshi. Es geht mir um etwas anderes. Als Lady Morânia mich über den Vorfall informierte, berichtete sie mir auch, dass Ihr versucht habt, Euch selbst das Leben zu nehmen. Ist das so?“ Seine Stimme wurde härter bei dieser Frage.

„Selbstverständlich, ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui“, antwortete Kiyoshi im Brustton der Überzeugung. „Zum einen hätte eine Verhaftung durch die Gnadentöter, bei welcher ich mich nicht gewehrt hätte, Schande und Ehrlosigkeit über mich gebracht. Und zum zweiten war ich mir sicher, dass sie durch diese Drohung von uns ablassen würden, da sie uns ja sicher lebend brauchten.“

„Was nun, Soldat?“, erwiderte Sarin ungehalten. „War es ein ernst gemeinter Versuch, Euer Leben zu nehmen, aus Motiven der Ehre und deren Verlust? Oder war es nur ein Täuschungsversuch, um die Gnadentöter irrezuführen? Wolltet Ihr Euch ernsthaft umbringen oder nicht?“

Überraschenderweise zeichnete sich etwas wie Unbehagen und Sorge auf Kiyoshis Gesicht ab – eine eher ungewöhnliche Gefühlsregung für den jungen Soldaten. „Ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui“, sagte er, „ich wünschte, diese Frage wäre so leicht zu beantworten. Natürlich war dieses Vorgehen vordringlich dem Wissen geschuldet, dass man uns lebend wollte und der Tod schon eines einzelnen von uns eine Katastrophe wäre. Es war mir jedoch auch bewusst, dass, sollten sie durch dieses Manöver nicht beeindruckt sein, meine Ehre mich dazu zwingen würde, wirklich Seppuku zu begehen. Aber letzten Endes wäre es ja sonst auch nicht mehr gewesen als eine leere Drohung, die sicherlich keine Wirkung gezeigt hätte. Als die Amazone mich dann mit geradezu kamihafter Geschwindigkeit entwaffnete, hatte ich keine Möglichkeit mehr, Seppuku zu begehen und musste außerdem meine Gefährten schützen. So bin ich nun in einer misslichen Lage. Ich muss Seppuku begehen, denn meine Ehre verlangt, dass nach der Ankündigung auch die Tat folgt. Zeitgleich sehe ich aber, dass durch meinen Tod etwas Wichtiges zerbrechen würde. Ich würde eine heilbringende Prophezeiung zerstören. Und so bitte ich Euch, ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui, der Ihr der vertraute Streiter einer Kami seid, mich mit Eurer Weisheit zu leiten.“ Mit den letzten Worten kniete er vor Sarin nieder und hob seine Naginata, die er auf dem Rücken trug, vor sich, mit dem Griff voraus zum Bundmeister und der Klinge zu sich selbst gerichtet.

Eine gewisse Härte wich ob dieser Worte und Geste aus Sarins Blick. „Ich hatte Euch eigentlich hierher zitiert, um Euch eine Standpauke zu halten“, antwortete er seufzend. „Aber nun sehe ich, dass Ihr selbst nicht einmal genau wisst, woran Ihr mit Euch seid.“ Er erhob sich und trat auf den vor ihm knienden Kiyoshi zu. „Soldat, mir ist bewusst, dass es Kulturen gibt, in denen ein ritueller Selbstmord zur Wahrung der eigenen Ehre dient, manchmal sogar der Ehre der ganzen Familie oder Gemeinschaft. Es gibt derartig geprägte Reiche auf verschiedenen Ebenen und auch früher auf Ortho. Und ich gebe mir Mühe, Eure Kultur zu respektieren, soweit mir das möglich ist.“ Er musterte Kiyoshi ernst, griff dann mit der Linken nach der Naginata und nahm diese an sich. „Aber hier im Harmonium, sowohl unter meinem Kommando als auch in Eurer speziellen Situation, ist das keine Option. Ihr werdet niemals wieder versuchen, selbst Hand an Euch zu legen. Ist das klar?“ Bei den letzten Worten floss wieder eine gewisse Strenge durch Sarins Stimme.

Der junge Soldat nickte. „Wie Ihr befehlt, ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui. Ich werde also eine andere Möglichkeit finden müssen, meine Ehre wiederherzustellen.“ Er wirkte nicht glücklich mit Sarins Befehl, doch der Bundmeister war sich sicher, er würde ihn befolgen.

„Sehr gut“, erwiderte er. „Ich weiß, ich kann mich auf Euer Wort verlassen.“ Er drehte sich ein wenig zur Seite, um Kiyoshis Naginata auf seinem Schreibtisch abzulegen, quer über diverse Schriftstücke. Dann musterte er wieder den jungen Soldaten. „Und nun würde ich gerne wissen, was im Elysium passiert ist.“

Kiyoshi nickte, erhob sich und begann dann in der ihm eigenen Detailgenauigkeit, die Vorgänge im Elysium zu schildern. Sarin seufzte innerlich. Dass es dem Soldaten immer noch so schwer fiel, sich bei Berichten auf das Wesentliche zu beschränken, war ein wenig anstrengend. Wie so oft musste er Kiyoshi mehrmals unterbrechen und auffordern, sich kürzer zu fassen. Als er letztlich alles erfahren hatte, von der Reise bis zum Conclave Fidelis über die Begegnung mit den Wächtern des Ausgleichs bis hin zum Treffen mit dem Phönix und den Vorgängen im Labyrinth des Einklangs, schüttelte Sarin sacht den Kopf. So wundersam und auch bewegend die Ereignisse rund um die Entstehung von Abaiel waren, so unfassbar fand er die Information, dass Terrance früher ein Abgesandter der Mishakal gewesen war. Dies machte das Handeln des Bundmeisters der Athar noch unverständlicher, als es in seinen Augen ohnehin schon war. Doch dann erklärte der junge Soldat, noch eine weitere wichtige Information zu haben, und er wirkte ungewöhnlich zögernd, ja vorsichtig dabei. Als Sarin ihn aufforderte, zu berichten, erzählte er von Sgillins Kontakten zu Shemeshka und seinem Geständnis, Mitglied einer Gruppe namens die Klingenengel zu sein sowie von einem Amulett, das als Erkennungszeichen der Bande diente. Sarin traute seinen Ohren kaum, als Kiyoshi die Symbolik des Anhängers beschrieb.

„Bitte was?“, unterbrach er ihn abrupt und energisch. „Einen Moment, Soldat, nicht so schnell ... Seid Ihr Euch sicher? Seid Ihr Euch wirklich ganz sicher, dass dieser Mann ein Anarchist ist?“

Kiyoshi überlegte und antwortete dann selbstsicher und mit Überzeugung in der Stimme: „In der Tat. Der ehrenwerte Naghûl-san und die ehrenwerte Lady Morânia-sama erkannten das Amulett, welches Sgillin-san bei sich trug, als Bundabzeichen der Anarchisten. Des Weiteren erklärte er ja selbst, dass er einer Gruppierung beigetreten sei, welche die ehrenwerte Morânia-sama und der ehrenwerte Naghûl-san aufgrund des Anhängers als Anarchisten identifizierten. Ich fürchte, all diese Fakten lassen keinen anderen Schluss zu, ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui.“ Kiyoshi berichtete all dies mit relativ emotionsloser Stimme und auch sein Gesicht bewegte sich dabei kaum. Doch am Ende schlich sich etwas wie Bedauern in seine Miene.

Mehr und mehr Wut war in Sarin angewachsen, als sein Soldat ihm über diese Ungeheuerlichkeit berichtete. Bei Kiyoshis letzten Worten stand er ruckartig auf und schlug mit der linken Faust so heftig auf seinen Schreibtisch, dass zwei Tintenfässer, ein Glas und eine Karaffe nervös zu klirren begannen. Ein heftiger Fluch auf Iirondianisch kam über seine Lippen. „Ein Anarchist, ja?“ Seine Stimme war laut, füllte mühelos den ganzen Raum. „Hier! In unseren Reihen! In der Kaserne!“ Sein Zorn ließ seine dunklen Augen sprühen, war wie flüssige Lava, die ihn überrollte. „Ein Mann, mit dem wir alles geteilt haben! Dem wir alles anvertraut haben! Ein verfluchter Anarchist! Und das direkt vor meiner Nase!“

Fast im selben Moment flogen Glas und Karaffe vom Tisch und zersplitterten in tausend Scherben, als Sarin wutentbrannt dagegen schlug. In diesem Moment brach sich sein manchmal hitziges Temperament ungebremst Bahn. Erneut kam ein Fluch in seiner Muttersprache über seine Lippen. Kiyoshi zögerte, hob dann aber doch die Hand, als würde er noch etwas sagen wollen. Kurz schloss der Paladin die Augen und atmete tief durch. Die linke Hand ruhte noch immer zur Faust geballt auf seinem Schreibtisch. Als er die Augen wieder öffnete, funkelte er Kiyoshi an, fast als sei der junge Soldat der Anarchist. „Was?“, fragte er ungehalten.

Der junge Mann setzte vorsichtig an, schien seine Worte mit großem Bedacht zu wählen. „Nun, zu seiner Verteidigung muss gesagt werden, dass Sgillin-san sich nicht bewusst den Anarchisten angeschlossen hat. Er erzählte, dass er aus Angst vor Schwierigkeiten mit der Oni Shemeshka zu dieser Bande gegangen sei. Sie hätten behauptet, sie könnten ihn schützen. Dass es sich bei der Gruppe um Anarchisten handelt, weiß er, so glaube ich, selbst erst seit unserer Reise in das Elysium. Als der ehrenwerte Naghûl-san ihm in sehr … farbenfrohen Worten begreiflich machte, wem er sich da angeschlossen hatte, war Sgillin-san zumindest überrascht, wenn nicht gar erschrocken.“

Sarins Gesichtsausdruck wandelte sich von zornig zu ungläubig. Er schloss erneut kurz die Augen, rieb sich die Schläfen und schüttelte den Kopf. „Wollt Ihr damit sagen, dass dieser Lederschädel sich ohne es zu wissen der Revolutionsliga angeschlossen hat? Oder dies zumindest behauptet und überzeugend vorgibt ...“ Bei den letzten Worten verfinsterte sich sein Blick wieder.

Kiyoshi schien ernsthaft zu überlegen. „Ich würde vielleicht nicht auf die Kami schwören“, antwortete er dann mit ehrlicher Miene. „Doch was ich bisher von Sgillin-san mitbekommen habe, ist er in der Tat jemand, der aus Unvorsicht oder aus Unüberlegtheit in eine Mitgliedschaft bei der Revolutionsliga stolpern könnte. Wenn ich ihn beschreiben müsste, dann als einen der Männer, die versuchen, vor dem Regen zu fliehen und dabei in einen Brunnen fallen.“

Erneut schüttelte Sarin den Kopf. „Unglaublich ist das! Und ich muss nun irgendeinen Weg finden, mit dieser Sache umzugehen ... Das hat mir zu allem Überfluss noch gefehlt. Als ob ich nicht genug Probleme hätte, jetzt habe ich auch noch einen Anarchisten am Hals! Aber dafür wird er mir selbst Rede und Antwort stehen müssen.“ Sein kurzer, aber heftiger Wutausbruch hatte sich gelegt und er wurde wieder ruhiger. Prüfend sah er zu Kiyoshi. „Wie beurteilt Ihr diese Sache, Soldat? Ich möchte Eure Meinung dazu hören.“

Kiyoshi schien sich kurz zu sammeln. „Ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui“, antwortete er dann, „Ich habe bisher zu meinem Glück nicht allzu viele Erfahrungen mit der sogenannten Revolutionsliga gemacht. Zu Sgillin-san als Mitglied dieses Bundes kann ich nur sagen, dass er sich bisher stets geweigert hat, einem Bund beizutreten. Ich kann daher nicht beurteilen, ob und inwiefern er sich in den Bund integrieren wird, oder ob er seine Mitgliedschaft als das sieht, was sie ist: ein Unfall.“

„Ein Unfall. Großartig.“ Sarin schnaubte abfällig, ließ sich dann aber wieder in seinem Stuhl nieder und wandte sich Kiyoshi zu. „Gerade dass Sgillin sich immer geweigert hat, einem Bund beizutreten, machte ihn für die Anarchisten attraktiv. Die sehen sich selbst gar nicht als Bund, versteht Ihr? Sie wollen im Gegenteil die Bünde zerschlagen. Ironischerweise sieht die Dame sie offenbar dennoch als Bund an, weil sie offiziell zu den fünfzehn Bünden Sigils gehören. Sie nehmen auch am Tag der Schmerzen teil. Trotzdem stehen auf anarchistische Umtriebe in Sigil sehr harte Strafen, bis hin zum Tod. Ich weiß, wie paradox das klingt. Möglicherweise ist es besser, wenn Ihr gar nicht erst versucht, es zu verstehen. So ist Sigil nun einmal. Und unsere Pflicht ist es leider, Angehörige der Revolutionsliga aufzuspüren und festzusetzen, damit Herrschner und Gnadentöter ihnen die Gerechtigkeit Sigils zukommen lassen. Und genau das bringt uns jetzt in eine sehr schwierige Lage.“

Kiyoshi nickte ernst. „Nun, wenn es unsere Pflicht ist, dann müssen wir dieser nachkommen. Ist bereits die Mitgliedschaft in dem Bund sträflich oder erst konkrete Handlungen? Falls ersteres der Fall ist, wäre das tatsächlich ein Problem. Falls letzteres, werde ich meine Augen offen halten und jeden Verstoß durch Sgillin-san sorgfältig notieren und Buch darüber führen, um ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen. Zudem kann es mir vielleicht gelingen, weitere Informationen über die Umtriebe dieses angeblichen Bundes zu sammeln. Sobald genug Hinweise zusammengetragen wurden, kann dann eine großangelegte Verhaftung stattfinden, die möglicherweise auch Sgillin-san mit einschließen wird, so er sich anarchistisch verhalten hat. Zu diesem Zweck wäre es natürlich hilfreich zu wissen, ab wann eine Tat als anarchistisch gilt. Wäre dies eine Lösung, mit der Ihr leben könntet, ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui? Ihr müsst wissen, wir haben Sprichwörter in Kamigawa, die diese Situation beschreiben: Wenn der Falke im Sturz den Körper seiner Beute zerbricht, ist es durch das Zuschlagen im richtigen Zeitpunkt oder Kenne deinen Feind und kenne dich selbst, und in hundert Schlachten wirst du nie in Gefahr geraten.“

Trotz der heiklen Situation musste Sarin nun kurz schmunzeln. „Ihr seid ungewöhnlich gesprächig, Soldat. Liegt das an Eurer Drachenblut-Verwandlung oder taut Ihr einfach ein wenig mehr auf?“

Daraufhin wurde Kiyoshi etwas nachdenklich. Schließlich, nach einer Pause, antwortete er: „Verzeiht meine Unwissenheit, ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui, doch ich kann Euch diese Frage nicht beantworten. Sollte ich mich ungebührlich verhalten haben, bitte zögert nicht, mich dafür zu bestrafen.“

Amüsiert schüttelte Sarin den Kopf. „Habt Ihr nicht, Soldat. Keine Sorge, im Moment sehe ich wirklich keinen Grund, Euch für irgendetwas zu bestrafen. Ich bin nur etwas überrascht, da Ihr bisher immer sehr zögerlich wart, mir gegenüber etwas anderes als einen genauen Bericht in so viele Sätze zu verpacken oder eine so explizite Meinung abzugeben. Ich bewerte das durchaus positiv. Nicht, dass ich die Meinung meiner Soldaten immer hören möchte. Aber wenn ich danach frage, erwarte ich auch eine Antwort.“ Er lehnte sich zurück. „Um auf die Anarchisten zurückzukommen: Gewiss habt Ihr von Dekuria Amariel das Gesetzbuch der Stadt Sigil erhalten und auch gelesen. Aber darin steht zugegebenermaßen ziemlich viel, daher nenne ich noch einmal den hauptsächlich maßgeblichen Paragraphen hierzu: Als Anarchie gelten alle bewussten Handlungen, die direkt oder indirekt das Ziel haben oder zu dem Ziel tendieren, die regierenden Institutionen von Sigil, also die Bünde, zu destabilisieren oder zu schädigen. Jeder Bund steht für einen wichtigen Aspekt von Sigil, daher ist ein Angriff auf die Bünde oder auf einen der Bünde ein Angriff auf Sigil selbst. Darauf steht die Todesstrafe ohne Möglichkeit der Berufung oder Begnadigung.“ Er zitierte den Gesetzestext flüssig und ohne zu zögern – er hatte ihn oft genug verwendet. „Fällt Euch etwas auf, Soldat?“

Kiyoshi wiederholte den Text noch einmal lautlos für sich und hob dann den Kopf. Er wirkte verwirrt. „Dieser Text ist problematisch. Da die Dame-sama offensichtlich die Revolutionsliga als einen Bund betrachtet, ist die Revolutionsliga ein wichtiger Aspekt von Sigil. Da das Ziel des Bundes aber die Zerstörung der anderen Bünde ist, ist die Existenz des Bundes ein Angriff auf Sigil, da dadurch Bünde angegriffen werden. Also muss der Bund bekämpft werden. Dies wäre aber ein Angriff auf einen Bund und damit auf Sigil, also muss der Bund in Ruhe gelassen werden. Dies wiederum lässt aber zu, dass andere Bünde angegriffen werden. Ich muss gestehen, dass ich keinen Ausweg aus der Lage sehe und ich fürchte, es ist eine Aufgabe für Gelehrte der Schrift und weise Alte, eine Lösung für dieses Problem zu finden. Ich verstehe hier den Willen der Dame-sama nicht.“

Sarin seufzte. „Und ich muss gestehen, ich verstehe ihn ebenso wenig. Oft habe ich darüber nachgedacht, warum die Dame ein derartiges Paradoxon schafft. Doch den Willen Ihrer Gelassenheit ergründen zu wollen, ist nicht nur vergeblich, es ist auch frevlerisch. Daher nehme ich hin, was Sie bestimmt und natürlich beuge ich mich Ihrem Willen, was die Ausübung meiner Pflichten angeht. Und die Pflicht des Harmoniums ist ganz klar, anarchistische Umtriebe in jeder Form aufzudecken und die Verantwortlichen zu verhaften, damit sie vor Gericht gestellt werden. Unsere Schreckliche Majestät hat niemals Zweifel daran aufkommen lassen, dass dies eine Aufgabe ist, die wir zu Ihrer Zufriedenheit zu erledigen haben. Aber etwas anderes an der Formulierung des Textes ist interessant für uns, Soldat. Es steht geschrieben: als Anarchie gelten alle bewussten Handlungen, die das Ziel haben und so weiter. Das ist ein sehr interessanter Punkt, weil die Gesetze Sigils ansonsten selten Milde aufgrund von Unwissenheit gewähren.“

„Wenn Dummheit strafbar wäre“, antwortete Kiyoshi mit unbewegter Miene, „dann könnte man das Gefängnis nicht schnell genug erweitern, wie Zellen benötigt würden. Und das Harmonium und die Gnadentöter würden niemals genug Mitglieder haben, um ihrer Aufgabe nachzukommen, ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui. Aber es ist in der Tat erstaunlich. Würde das nicht bedeuten, dass Sgillin-san seine Mitgliedschaft in der Revolutionsliga gar nicht vorzuwerfen ist?“

„Ganz so weit möchte ich nicht gehen, Soldat“, erwiderte Sarin ernst. „Sgillin mag ein Materier sein, aber er ist nicht ganz so planlos, wie er gerne tut, da bin ich sicher. Außerdem verbringt er einen guten Teil seiner Zeit im Käfig. Das bedeutet, er hat sich verdammt nochmal auch darüber zu informieren, wie es hier in Sigil läuft. Wenn man an einem Ort lebt, hat man sich über dessen Gesetze in Kenntnis zu setzen, so einfach ist das. Ihr sagtet, er hätte sich dieser Bande angeschlossen, um sich vor Shemeshka zu schützen.“ Er schüttelte missbilligend den Kopf. „Selbst wenn wir ihm glauben, dass er unwissentlich Kontakt zu den Anarchisten aufnahm, so muss man sich doch fragen, warum er überhaupt in diese Verbrecherkreise geriet, nicht wahr? Und sich irgendeiner obskuren Bande anzuschließen, klingt ebenso nicht besonders rechtschaffen oder gesetzestreu. Besser, er wäre damit zu den Leuten gegangen, die genau dafür zuständig sind, nämlich zu uns! Stattdessen schließt er sich Personen an, die höchstwahrscheinlich selbst das Gesetz brechen. Soldat, ich habe Verständnis dafür, dass Ihr dem Mann nahesteht, nach allem, was Ihr zusammen durchgemacht habt. Und ich begrüße, dass Ihr offensichtlich eine gewisse menschliche Sichtweise in Eure Beurteilungen einfließen lasst. Aber lasst nicht allzu viel Nachsicht Euren Blickwinkel beeinflussen, sonst könnt Ihr am Ende Eure Arbeit nicht mehr machen. Ich weiß nur allzu gut, wovon ich rede, glaubt mir.“

Der junge Mann nickte. „Ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui, ich möchte Euch versichern, dass ich jederzeit dazu bereit wäre, Sgillin-san zu verhaften, wenn ich ihn bei der Ausübung eines Verbrechens ertappen würde oder davon überzeugt wäre, dass er die Gesetze Sigils gebrochen hat. Ebenso würde ich dies bei allen anderen Mitgliedern meiner Gruppe versuchen, auch wenn es vermutlich eine Niederlage bedeuten würde.“ Eine deutliche Entschlossenheit brannte bei diesen Worten in Kiyoshis reptilienhaften Augen. „Die Pflicht steht über persönlichen Gefühlen. Jederzeit.“

„Gut, Soldat“, entgegnete Sarin. „Ich bin froh zu hören, dass Ihr wisst, wo Eure Pflichten liegen.“

Natürlich wusste er nur allzu gut, dass dem nicht immer so war. Es gab Momente im Leben, in denen man so zerrissen war zwischen der Pflicht und dem eigenen Herzen, dass man beide Seiten unmöglich vereinen konnte. Nicht in jedem Fall siegte die Pflicht. Und obgleich er das gegenüber einem einfachen Soldaten niemals einräumen würde: Manchmal war das auch gut so. Sein Blick war bei diesen Gedanken kurz an Kiyoshi vorbei in die Ferne geschweift. Doch es dauerte nur einige Lidschläge, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem jungen Soldaten zu.

„Insgesamt bin ich sehr zufrieden mit Eurer Mission im Elysium, Kiyoshi. Ich denke, Ihr alle habt diese Situation gut gelöst. Und dabei auch noch gefunden, wen Ihr suchtet. Oder sollte ich in diesem Fall eher sagen, sie fanden Euch? Wie auch immer, ich gehe davon aus, dass Ihr noch ein paar Fragen habt. Bezüglich der Ereignisse nach Eurer Rückkehr. Gehe ich richtig in dieser Annahme?“

Kiyoshi schien kurz nachzudenken, dann nickte er. „Verzeiht meine Unwissenheit, aber was wird das ehrwürdige Harmonium gegen die Einmischung der Gnadentöter in unsere Zuständigkeit unternehmen? Das ist doch sicherlich strafbar.“

Sarin lächelte gequält. „Es schmerzt mich, dass gerade ich das sagen muss, Soldat. Aber in Sigil gibt es vieles, das strafbar ist, und mit dem manche Personen dennoch davonkommen. Was beispielsweise ein Bundmeister oder ein Goldener Lord tut, wird nicht auf dieselbe Weise behandelt wie das, was ein gewöhnlicher Bürger macht. Es mag gerade uns nicht gefallen, doch nach diesem Prinzip arbeitet ein Großteil des Multiversums - und Sigil eben auch. Natürlich gab es immer wieder Fälle, in denen auch sehr hochgestellte Personen für gewisse Vergehen zur Verantwortung gezogen wurden. Aber dann muss es schon ein beachtlicher Vorfall sein und es müssen viele Hebel in Bewegung gesetzt werden. Nehmt zum Beispiel Shemeshka. Sie ist eine der Königinnen des Verbrechens in Sigil und ich hätte sie schon lange unschädlich gemacht - wenn ich etwas in der Hand hätte. Aber man kommt, wenn man Glück hat, gerade mal an ihre Handlanger heran. Sie selber ist viel zu klug, zu geschickt und zu einflussreich, sich etwas nachweisen zu lassen, auch wenn im Grunde jeder weiß, was los ist. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Es war nicht das erste Mal, dass die Gnadentöter unsere Kompetenzen übernehmen. Ab und an versuchen sie das. Dann gibt es Unstimmigkeiten oder ein Gespräch zwischen den Bundmeistern. Aber sie sind dennoch ein verbündeter Bund und ein Bruch mit ihnen wäre politisch gesehen äußerst unklug, da das Harmonium ohnehin zahlreiche Gegner in Sigil hat.“

„Ich verstehe, ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui“, erwiderte der junge Soldat ernst. „Dass Sgillin-san aus Versehen in die Reichweite der verbrecherischen Oni Shemeshka gestolpert ist, ist natürlich umso bedauerlicher.“

Sarin beugte sich ein wenig in seinem Stuhl nach vorne. „Es ist sehr interessant, wo der ehrenwerte Sgillin-san aus Versehen so überall hin stolpert“, bemerkt er missgestimmt. „All das nimmt Ausmaße an und schlägt Wendungen ein, die mir überhaupt nicht gefallen. Wir brauchen schnellstens wieder ein Treffen. Das ist übrigens auch so ein Punkt, der mich ärgert: Dass ich mich ständig mit Terrance, Erin, Ambar und Rhys besprechen muss - zumindest in dieser Frage. Es wäre mir deutlich lieber, ich könnte mehr Dinge allein entscheiden. Ich erkenne an, dass es in dieser besonderen und sensiblen Situation klug ist, sich mit unseren Verbündeten abzusprechen - aber die Dame gebe, dass unser Vertrauen hier in jeden gerechtfertigt ist.“

Sarin musterte seinen Soldaten einige Augenblicke, dann erhob er sich und ging um den großen Schreibtisch herum, so dass das Möbelstück nicht länger zwischen ihm und Kiyoshi stand. Er nahm die Naginata, die noch immer quer über verschiedenen Pergamenten und Briefen lag, und reichte sie dem jungen Mann mit dem Schaft voraus zurück. Kiyoshi kniete abermals nieder und nahm die Waffe mit beiden Händen entgegen, bevor er sich wieder erhob und die Naginata neben sich abstellte. Sarin meinte, eine gewisse Erleichterung auf seinem Gesicht zu erkennen.

„Soldat“, sprach er ihn an. „Ihr habt, wie ich bereits erwähnte, die Mission im Elysium sehr gut bestritten. Euer Bericht lässt mich nicht daran zweifeln, dass Ihr die richtigen Entscheidungen getroffen und stets nach bestem Gewissen und in Einklang mit den Grundsätzen unseres Bundes gehandelt habt. Ihr habt Eure Sache gut gemacht.“ Er wandte sich zu seinem Tisch, öffnete eine Schatulle und nahm einen kleinen, glänzenden Gegenstand heraus.

„Domo Arigato“, erwiderte Kiyoshi. „Ich meine, vielen Dank, ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui. Es ist mir eine Ehre, dem ehrwürdigen Harmonium und Euch auf diese Art und Weise zu dienen.“

Sarin nickte zufrieden, trat auf den Soldaten zu und führte die linke Hand, die den funkelnden Gegenstand hielt, zur Schulter des jungen Mannes. Mit einem leisen Pling schmiegte sich der schmale Bronzestreifen sogleich an die Rüstung. Er saß nun genau neben dem identisch aussehenden ersten Bronzeabzeichen, das Kiyoshi als Soldaten ersten Ranges auswies.

„Ich verleihe Euch hiermit den zweiten Rang eines Soldaten“, erklärte Sarin. „Dient dem Harmonium weiterhin aufrichtig und mit reinem Herzen.“

Kiyoshi schlug seine panzerbehandschuhte rechte Faust auf den Brustpanzer, direkt über dem Herzen, was einen metallenen Klang erzeugte. Dabei senkte er das Haupt und blickte zu Boden. „Ich danke Euch aus vollstem Herzen für diese Ehre und das entgegengebrachte Vertrauen, ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui. Ich werde Euch nicht enttäuschen. Weder meine Entschlossenheit noch meine Überzeugung werden darin wanken, Euch zu dienen.“

„Sehr gut, Soldat“, erwiderte Sarin. „Macht weiter so, dann werdet Ihr es in unserem Bund zweifellos zu etwas bringen. Ich erwarte von Euch, dass Ihr in spätestens einem Jahr Triarius seid. Das ist Euch hoffentlich klar?“

Kiyoshi nickte feierlich. „Ich werde mich bemühen, dieses edle Ziel zu erreichen, ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui.“

„Das wollte ich hören“, entgegnete der Paladin mit einem leichten Schmunzeln.

Er entließ den jungen Mann daraufhin mit einer knappen Geste, woraufhin dieser erneut salutierte und dann sein Büro verließ. Als sich die schwere Tür hinter ihm geschlossen hatte, nahm Sarin wieder in seinem Stuhl Platz und gestattete sich ein tiefes Seufzen. Die Konfrontation mit Mallin am Vorabend und nun Kiyoshis Bericht über Sgillins Umtriebe waren ein wenig viel für eine Zeitspanne von nicht einmal zwölf Stunden gewesen. Missgestimmt blickte der Paladin auf die Scherben der Wasserkaraffe, die sich nun hübsch glitzernd, aber unangenehm scharfkantig auf dem Boden seines Büros verteilten. Er hoffte bei sich, sie mochten kein Symbol für die nahe Zukunft sein – doch ein ungutes Gefühl sagte ihm, dass sie im Gegenteil geradezu prophetisch waren …

 

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gespielt am 20. September 2012 


 

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