Die Aufregung um die nun offenbar aufgegebene Konstruktion der Xaos-Speiche verebbt zusehends. Einige der Xaositekten haben begonnen, die Struktur zu bemalen, während eine andere Gruppe versucht, eine kleine Windmühle auf der unvollendeten Speiche zu errichten. Über einhundertfünfzig randalierende Xaositekten waren vom Harmonium festgenommen worden und werden voraussichtlich wegen mehr als vierunddreißig Verstößen gegen das Sigiler Strafgesetzbuch angeklagt. Es scheint, dass das Xaositekten Projekt endgültig beendet ist, und wie üblich ist nichts Dauerhaftes daraus geworden. Es werden bereits Wetten darüber angenommen, was stattdessen die nächste „Überraschung!“ sein wird. Bundmeister Ambar und die Gläubigen der Quelle nehmen die ganze Geschichte offenbar mit Humor.“

Meldung in SIGIS

 


 

Dritter Leeretag von Savorus, 126 HR

Morânia saß mit Naghûl in der Zwinkernden Rose, einem kleinen Café in den gildenseitigen Ausläufern des Marktbezirks. Es trug seinen Namen der Eigentümerin Liri Dornenschön wegen. Sie war eine erweckte Rose, die sich mit viel Witz und Charme ihren ganz eigenen Platz in der Stadt der Türen erobert hatte. Es handelte sich bei Liri um ein sehr großes, arboreanisches Exemplar mit nur einer einzelnen roten Blüte. Wie alle erweckten Pflanzen konnte sie sich bewegen. Doch seit ihr Café erfolgreich genug lief, dass sie sich Angestellte leisten konnte, bevorzugte sie es oft, in einem Topf mit nährstoffreicher Erde zu sitzen und von dort aus ein Schwätzchen mit den Gästen zu halten, wenn sie sich an der Theke Getränke oder Kuchen holten. Liri war Mitglied der Sinnsaten wie auch der Sekte der Rosenbringer und kommentierte diese Zugehörigkeit oft mit einem selbstironischen Augenzwinkern. Zudem war sie eine gute Quelle für alle möglichen Gerüchte, die im Markt- und Gildenhallenbezirk herumschwirrten. Naghûl und Morânia hatten dieses Wissen der Rosendame schon mehrfach genutzt, doch an diesem Tag hatten sie sie ihrem angeregten Gespräch mit einem Grippli-Barden überlassen und an einem der kleinen Tische Platz genommen.

 


 

Es war warm und freundlich, weder drückend heiß noch schwül. Der Himmel innerhalb des Rings war tatsächlich zartblau und nur ein paar kleine Wolken trieben vorüber, weiß und plusterig wie Schwanenfedern. Der Wind zeigte sich ausnahmsweise verspielt und nicht wie ein Raubtier. - Ein seltener Tag in der Stadt der Türen, und jeder versuchte an solchen Tagen, das beste aus ihnen zu machen. So nutzten auch Naghûl und Morânia dieses für Sigiler Verhältnisse milde Wetter, um unter freiem Himmel eine Tasse Celestischen Mokka zu trinken, während sie auf Lereia, Sgillin und Jana warteten. Der Grund dafür war allerdings weniger anregend als der himmlische Kaffee und weniger süß als die Blaubeer-Törtchen in der Kuchenauslage. Sie wollten die Amazone Garush treffen – oder vielmehr, die Halborkin wollte sie treffen. Schon früh am Vormittag nach dem Eklat mit den Gnadentötern hatte Morânia einen Brief von Garush bekommen, in dem sie um ein weiteres Treffen gebeten hatte. Sie hatte geschrieben, sie handle im Auftrag ihres Bundmeisters und hätte die Erlaubnis, mehr zu erzählen, auch über die anderen Erwählten. An Morânia hatte sie sich wegen der Rolle der Kryptisten als Vermittler in Sigil gewandt, mit der Bitte, ein Treffen zu arrangieren. Das Schreiben hatte recht dringlich geklungen, daher hatte Morânia erst mit Naghûl gesprochen und dann umgehend Jana, Lereia, Sgillin und Kiyoshi kontaktiert. Letzterer hatte leider gerade Dienst und war daher nicht erreichbar gewesen, doch die anderen drei stimmten einem Treffen zu. Garush hatte in dem Schreiben angekündigt, die Gruppe am selben Tag vier Stunden nach Zenit im Gildenhallenbezirk treffen zu wollen. So hatten die Gefährten beschlossen, den von der Gnadentöterin genannten Termin wahrzunehmen und Kiyoshi nach seinem Dienstschluss darüber zu berichten. Nach seiner Verstimmung am Abend zuvor, war Naghûl trotz des anstehenden Treffens mit einer Gnadentöterin nun wieder recht guter Laune. Dies lag unter anderem daran, dass gerade Savorus war, der Monat der Sinnsaten. Es war, vielleicht mit Ausnahme von Kapriziosus, der ereignisreichste aller Monate im Käfig und dank des Pate stehenden Bundes eigentlich eine durchgehende Feier. Während ihres eigenen Monats wollten die Sinnsaten die Bewohner Sigils ihre Sorgen noch mehr als sonst vergessen lassen. Die Festhalle sprudelte in diesen vier Wochen geradezu über vor Veranstaltungen und Sinnenfreuden: echsisches Ballett, exotischste Theatervorführungen, Gemälde- oder Skulpturenausstellungen, Konzerte, Bytopianische Kochkurse und noch weit ausgefallenere Angebote. Die Sinnsaten vereinnahmten zudem ganze Straßenzüge rund um die Festhalle, in denen öffentliche, meist kostenlose Darbietungen Unmengen von Besuchern anzogen. Die Art, wie die Philosophie der Sinnsaten während ihres Monats Sigil beeinflusste, schien noch umfassender zu sein als bei anderen Bünden. Denn nicht nur die Einwohner wurden beeinflusst, sondern die ganze Stadt. Alles wurde während Savorus intensiver. Die Farben der Gebäude oder Gewänder wirkten strahlender, Gerüche jeder Art waren stärker und auch die Emotionen schlugen schneller ins Extreme. Alles in allem schien Sigil während Savorus mehr Wesenszüge von Arborea als den Außenländern zu haben, und das gefiel Naghûl natürlich jedes Jahr aufs Neue.

Als Jana, Lereia und Sgillin sie dann wie vereinbart am Café trafen, waren trotz der Ereignisse am Vortag auch diese drei in guter Stimmung, was vielleicht durchaus dem Einfluss von Savorus geschuldet war. Jana kaufte sich bei Liri noch eine Tüte mit kandierten Libellenflügeln, dann machten sie sich auf den Weg zum Treffpunkt im nahegelegenen Gildenhallenbezirk. Sie schlenderten die Dämmertor-Straße entlang und sahen sich dort die Auslagen einiger Geschäfte an, ehe sie in die Badehaus-Straße einbogen, die durch mehrere dort befindliche Thermen deutlich den Übergang zum Gildenhallenbezirk und die Nähe zum Großen Gymnasium anzeigte.

„Ich traue Mallin nicht“, bemerkte Jana, während sie sich einen kandierten Libellenflügel in den Mund schob. „Hab ich das schonmal gesagt?“

„Inwiefern nicht?“, wollte Morânia wissen. „Also, die Gnadentöter an sich sind auch nicht mein liebster Bund. Aber was meinst du konkret?“

Auf Sgillins Lippen schlich sich ein breites Grinsen. „Wenn jemand nicht acht Beine und messerscharfe Klauen hat, ist Jana generell skeptisch eingestellt.“

Die Hexenmeisterin schnitt ihm eine kurze Grimasse, wandte sich dann aber an Morânia. „Ich bin mir sicher, der will uns auf die eine oder andere Art schälen.“

Die Bal'aasi hob ein wenig die Flügel an, was sie oft in Situationen tat, in denen andere die Schultern hoben. „Ehrlich gesagt, ich bin mir nicht ganz sicher, was er will. Aber er ist immerhin Paladin.“

„Schlimm genug“, neckte ihr Mann Naghûl sie feixend.

„Ruhe da drüben“, schoss Morânia mit einem Grinsen zurück.

Sie sah wieder zu Jana, nur um zu bemerken, dass diese offenbar schon wieder das Interesse an dem Gesprächsthema verloren hatte. Stattdessen war sie bei einem nahen Brunnen stehen geblieben und starrte hinein. „Wo kommt das Wasser eigentlich her?“, fragte sie nachdenklich.

Lereia warf den anderen einen zweifelnden Blick zu. Janas zunehmend sprunghaftes Verhalten war ihnen allen aufgefallen und sorgte innerhalb der Gruppe für Besorgnis wie auch Irritation. Doch Morânia beschloss, es im Moment nicht direkt anzusprechen, sondern so normal wie möglich darauf zu reagieren. Immerhin hatten sie den mit Garush vereinbarten Treffpunkt fast erreicht, also mussten sie sich nicht übermäßig beeilen. So trat die Bal‘aasi neben Jana und warf ebenso einen kurzen Blick in den Brunnen.

„Sigil besitzt so eine Art Grundwasser“, erklärte sie. „So ziemlich das einzige, was nicht importiert werden muss.“

Die Hexe runzelte die Stirn. „Aber ich dachte, hier drunter wäre Unter-Sigil? Steht das teilweise unter Wasser?“

„Ja, teilweise“, erwiderte die Bal'aasi. „Aber dort kommt das Wasser – zum Glück – nicht her. Es befindet sich eine dickere Schicht zwischen hier und Unter-Sigil, von dort stammt das Wasser der meisten Brunnen. Andere Brunnen Sigils wiederum reichen sehr tief. Tiefer noch als das Untere Reich.“

„Hm.“ Jana starrte unvermindert in den Brunnenschacht. „Ich dachte, da wäre der Ring zu Ende … irgendwie.“

„Wie dick der Ring zwischen Unter-Sigil und seinem Außenrand noch ist, weiß keiner genau“, meinte Morânia.

„Genau.“ Naghûl nickte. „Vielleicht gibt es ja noch ein Tiefen-Sigil, das wiederum unter Unter-Sigil liegt.“ Er wirkte durchaus begeistert bei der Vorstellung und Morânia musste einmal mehr über seine sinnsatische Euphorie schmunzeln.

Jana musterte ihn nachdenklich, warf dann erneut einen Blick in den Brunnen und lehnte sich dabei bedenklich weit über den Rand. „Der hier scheint auf jeden Fall ziemlich tief zu sein.“

„Setz dich in den Eimer“, schlug Sgillin grinsend vor „Ich lass dich runter.“

Lereia schüttelte nur leicht den Kopf, während Naghûl die Vorstellung durchaus zu gefallen schien. Ein lautes „Der Segen der Dame“ hinter ihnen ließ sie alle zusammenzucken. Sie fuhren herum, um zu sehen, wer sie so unerwartet angesprochen hatte und erblickten Garush. Die Amazone musterte mit skeptischem Blick ihr Treiben am Brunnen.

„Himmel!“, stieß Sgillin hervor und griff sich ans Herz. „Schleich dich halt nicht so an.“

Die Halborkin runzelte die Stirn. „Ich schleiche mich nur sehr selten an, Mann.“

Obgleich sie ihn nicht direkt anfuhr, musste ihr Tonfall doch eindeutig als schroff bezeichnet werden. Passend zu einer halborkischen Amazone von Acheron und definitiv passend zu den Gnadentötern. Sgillin hob denn auch nur die Augenbrauen und erwiderte nichts mehr, während die anderen Garush höflich grüßten. Sie musterte den Halbelfen, den sie bisher als einzigen in der Gruppe noch nicht gesehen hatte, taxierend, dann beschloss sie offenbar, sich an Morânia zu wenden.

„Ich freue mich, dass Ihr gekommen seid. Aber wo ist der Harmoniumsoldat?“

In ihrer Direktheit stand sie ihrem Bundmeister offenbar nicht nach, dachte Morânia bei sich. Blieb nur zu hoffen, dass sie in dem nun anstehenden Gespräch umgänglicher sein würde.

„Kiyoshi hat leider im Moment Dienst“, antwortete sie der Amazone.

Diese nickte knapp. „Verstehe. Das ist bedauerlich, aber nicht zu ändern. Dann werden vorerst wir sechs miteinander reden.“

„Wo wollen wir uns dazu denn hinbegeben?“, fragte Lereia. „Wir sollten uns ungestört und in Ruhe unterhalten können, denke ich.“

„Ich schlage vor, wir gehen in das Haus“, antwortete Garush.

Das Haus. Obgleich eine an sich vollkommen unspezifische Formulierung, so wussten doch alle Erwählten, was die Amazone wohl meinen mochte. Und dass auch sie es kannte, machte das mulmige Gefühl, das sie alle bei diesem Ort hatten, nicht besser.

„Doch nicht das Haus, oder?“, erwiderte Lereia seufzend.

„Welches sonst?“, entgegnete Jana. „Es ist das einzige Haus, das ich kenne, zu dem alle nur das Haus sagen. Ich habe nie richtig verstanden, was es damit auf sich hat.“

Morânia musste vor sich zugeben, dass sie das gleichermaßen noch nicht begriff. Doch angesichts des Gesprächsthemas machte Garushs Vorschlag durchaus Sinn, wie sie fand. Ein kurzer Blick zu den anderen zeigte ihr, dass sie zustimmten, Lereia und Sgillin jedoch offenbar widerstrebender als Jana und Naghûl. Als sie zu Garushs Vorschlag nickten, ging die Amazone zielstrebig voran, durch ein paar Straßen und kleinere Gassen, bis sie einmal mehr vor jenem geheimnisvollen Haus standen, in dem zumindest für Lereia, Naghûl und Sgillin alles begonnen hatte. An der Tür zog Garush einen Schlüssel aus der Tasche, um aufzusperren, und Morânia bemerkte sofort, dass er fast genauso aussah wie der, den Naghûl besaß. Der einzige Unterschied war, dass die fünf Edelsteine an Garushs Schlüssel blau waren, nicht grün. Zudem bestand er aus einem silbern schimmernden Metall, im Gegensatz zu dem Schlüssel ihrer Gruppe, der von bronzener Farbe war.

„Ihr habt also auch einen Schlüssel“, stellte die Bal'aasi fest.

„Sicher. Sonst wären wir ja nicht hinein gekommen“, erwiderte Garush.

Sie wunderte sich offenbar nicht groß darüber, dass auch die andere Gruppe einen Schlüssel besaß. Nachdem sie die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatten, umfing sie wieder das dämmrige Düster des leeren Hauses, in dem es außer grauem Steinboden und grauen Wänden nichts zu sehen gab.

Lereia seufzte. „Ich finde dieses Haus nach wie vor nicht gerade vertrauenerweckend.“

Diese Empfindung konnte Morânia gut nachvollziehen. Auch ihr selber verursachte der Ort ein ungutes Gefühl, und dabei war sie nicht einmal dabei gewesen, als Lereia, Sgillin und Naghûl hier beim ersten Mal verschiedene unheimliche Erscheinungen wahrgenommen hatten: einen katzengroßen Skorpion mit einem Auge auf dem Rücken, Gräber, die aus dem Nichts erschienen und wieder verschwanden, einen Vortex aus weißer Energie und eine flüsternde Stimme … Garush machte keine Anstalten, in den hinteren Teil des Hauses zu gehen, sondern blieb im ersten Raum stehen.

„Ihr wolltet mit uns reden“, stellte Morânia fest, während die Amazone den Schlüssel wieder sorgsam verstaute. „Worüber?“

„Das liegt doch auf der Hand“, erwiderte Garush. „Natürlich über Euch. Und auch über uns.“

Sgillin nickte. „Na, dann leg mal los.“

Die Amazone musterte ihn abermals mit einem prüfenden, man hätte auch sagen können stechenden Blick ihrer gelben Augen. „Ich schlage vor, dass wir abwechselnd etwas erzählen“, meinte sie dann.

„Ach, tatsächlich?“ Der Halbelf hob die Brauen.

Jana ließ die Papiertüte mit den kandierten Libellenflügeln sinken. „Wir müssten uns erst absprechen, bevor wir etwas erzählen können.“

Zweifelnd runzelte Garush die Stirn. „Habt Ihr das denn nicht?“

„Nein“, erwiderte Lereia. „Wir hatten noch keine Gelegenheit, uns dazu mit unseren Bundmeistern zu besprechen.“

Morânia seufzte innerlich. Garushs Anliegen hatte dringlich geklungen und so hatten sie sich alle beeilt, zu dem Treffen zu erscheinen. Doch niemand von ihnen hatte sich vorher mit seinem jeweiligen Bundmeister beraten.

„Aber Sarin war bereit, mit Mallin zu reden“, wandte Garush ein. „Sie haben wohl ein paar grundlegende Informationen ausgetauscht. Ich ging daher davon aus, dass das bei Euch geklärt ist.“

Naghûl verschränkte die Arme. „So lange ich von Erin nichts anderes gesagt bekomme, werde ich Euch gar nichts erzählen.“

Mit einem Anflug von Ungeduld fletschte die Halborkin ihre Hauer. „So werden wir nicht weit kommen, fürchte ich.“

„Man kommt auch nicht weit, wenn man eine tollwütige Schlächterin auf uns loslässt, um uns zu verhaften“, erklärte Naghûl grimmig. „Den Funken jeglichen Vertrauens habt Ihr verspielt, nicht wir.“

Die Augen der Amazone verengten sich. „Ich habe schon erklärt, dass das nicht meine Idee war. Und ich habe mich entschuldigt. Mehr kann ich nicht tun. Und keine Tochter von Varuskias entschuldigt sich zweimal für dieselbe Sache.“

Morânia spürte, wie die Situation bereits zu Beginn des Gespräches außer Kontrolle zu geraten drohte. Dieses Risiko hatte zwar von Anfang an bestanden, doch hatte sie gehofft, zumindest ein paar Dinge von Garush erfahren zu können.

„Ihr müsst Euch nicht noch einmal entschuldigen“, erklärte sie daher beschwichtigend. „Wir wollen nur unseren Standpunkt erklären.“

„Ich glaube Euch, dass das nicht Eure Idee war, sondern dass Ihr nur Anweisungen befolgt habt“, erklärte Naghûl. „Aber was sagt mir, dass das im Moment nicht gerade wieder nur eine Anweisung ist, um mehr über uns zu erfahren?“

„Das hier war nicht Mallins Idee“, erwiderte Garush. „Es war meine. Ich war der Ansicht, dass wir als Erwählte das Recht haben, mehr voneinander zu erfahren. Und ich habe ihm gesagt, dass ich mit Euch sprechen will.“

Aus dem Augenwinkel sah Morânia, wie ihr Mann energisch den Kopf schüttelte. „Ich werde Euch trotzdem nichts erzählen. Zum einen seid Ihr eine Gnadentöterin und zum anderen war unser letztes Treffen mehr als destruktiv. Ihr könnt gerne etwas erzählen, von mir habt Ihr aber nichts zu erwarten.“

Die Bal'aasi seufzte innerlich. Natürlich hatte sie keineswegs im Sinn, Garush ohne Rücksprache mit den Bundmeistern alles Mögliche zu erzählen. Doch auf diese undiplomatische Weise würden sie ihrerseits gar nichts erfahren, und das wäre eine verschenkte Chance gewesen. So sah sie über die Schulter zu Naghûl und warf ihm einen bedeutsamen Blick zu. „Wir sollten hier nichts überstürzen“, meinte sie. „Das ist die beste Chance, etwas über die anderen zu erfahren, die wir bisher hatten.“

„Meine Liebe, nein“, entgegnete Naghûl entschieden. „Ich werde ihr nichts sagen, kein Stück. Und ich bitte auch meine Gefährten, das zu respektieren und nichts über mich zu erzählen. Wenn jemand etwas über sich preisgeben will, bitte.“

Zu Morânias Erleichterung nickte die Amazone knapp. „Ich verstehe Euren Standpunkt. Vielleicht beginnen wir damit, über die Dinge zu sprechen, die wir ohnehin bereits übereinander wissen. Wie wäre es mit dem Haus? Ihr kanntet es, Ihr habt ebenso einen Schlüssel. Daher nehme ich an, dass es hier auch für Euch begann?“

Sgillin nickte. „Ja. Das stimmt.“

„Ich weiß nicht, ob es für Euch alle hier begann“, fuhr die Amazone fort, „Oder nur für einige von Euch. Wahrscheinlich ist das auch nicht wichtig. Auf jeden Fall begann es hier auch für Yelmalis und mich. Er hatte ein Kuvert bekommen, in dem sich ein alter Schlüssel befand. Kein Absender, kein beilegendes Schreiben. Nur der Schlüssel. Er ist Anwalt der Bruderschaft der Ordnung und arbeitete gerade an einem etwas delikaten Fall. Er vermutete, dieses geheimnisvolle Kuvert könnte etwas damit zu tun haben, befürchtete aber eine Falle, in die man ihn im Zuge seiner Nachforschungen führen würde.“

„Sehr spannend“, bemerkte Jana, nun eindeutig interessiert. „Was war das für ein Fall?“

Garush hob die Schultern. „Ich weiß nicht so genau. Irgendeiner der Goldenen Lords ist darin verwickelt, glaube ich. Aber ich kenne keine Einzelheiten. Jedenfalls wollte Yelmalis nicht ohne Schutz losgehen. Richterin Jamis, die die Oberaufsicht über den Fall hatte, fragte beim Harmonium und den Gnadentötern nach. Mein Bund stellte etwas schneller jemanden ab, um Yelmalis zu unterstützen. Mich.“

„Also reiner Zufall?“, hakte Lereia ein.

Die Amazone wiegte nachdenklich den Kopf. „Das dachte ich zuerst. Inzwischen bin ich jedoch sicher, dass es weit mehr war. Wir gingen also los. Yelmalis hatte bereits Nachforschungen angestellt und herausgefunden, in welchem Viertel diese Art von Schlüsseln in Ornamentik und Machart früher verbreitet war. Es dauerte dennoch eine Weile, ehe wir die richtige Tür zu diesem Schlüssel fanden. Als wir das Haus betraten, waren wir überrascht, es leer zu finden. Und schon bald ahnte Yelmalis, dass das Ganze doch nichts mit seinem Fall zu tun hatte. Wir sahen ein merkwürdiges Tier, einen Skorpion mit einem Auge auf dem Rücken. Er führte uns sozusagen in den hinteren Teil des Hauses.“

„Hm, ja.“ Sgillin nickte. „Das kommt mir bekannt vor.“

Naghûl warf ihm einen wenig begeisterten Blick zu, doch der Halbelf zuckte nur mit den Schultern. Er hielt es offenbar für keine große Sache zuzugeben, dass sie an diesem Ort ähnliche Erfahrungen gemacht hatten wie Garush und Yelmalis. Auch die anderen schienen gelassen, woraufhin Naghûls Blick sich noch ein wenig mehr verfinsterte.

Garush hingegen nickte ernst auf Sgillins Worte hin. „Das hatte ich schon befürchtet. Dort hinten hatten wir eine merkwürdige Erscheinung. Wir sahen sieben Gräber. Grab der Zeit, Grab des Lebens, Grab der Träume … Ich weiß es nicht mehr so genau. Yelmalis ist der Gelehrte unter uns. Er hat das gleich danach aufgeschrieben. Eine Stimme flüsterte uns etwas zu ... Wer ist der Träumer und wer ist der Denker? Wer ist der Sucher und wer ist der Wächter? Solche Dinge ... Als es vorbei war und wir noch darüber nachdachten, was wir da eben erlebt halten, bemerkte ich, dass etwas Merkwürdiges mit mir geschah: Ich hörte die Leute draußen auf der Straße sprechen. Ganz normale Gespräche vernahm ich durch dicke Steinmauern hindurch. Eine Mutter, die ihr trödelndes Kind schimpfte ... zwei Personen, die aus dem Großen Gymnasium kamen ...“

Naghûl schnaubte leise. „Ganz großartig ...“

Es ging ihm offenbar gegen den Strich, dass die Gnadentöterin, der er nicht traute, eine derartige Fähigkeit besaß. Gut und schön, aber Morânia fand, er hätte es nicht ganz so plakativ nach außen tragen müssen. Sie warf ihm einen tadelnden Blick zu, doch Garush schien sich nicht an der Bemerkung zu stören, sondern fuhr fort.

„Dann fiel mir auf, dass ich die verrücktesten Gerüche wahrnahm. Zum Beispiel roch ich den Geruch des Stahls meiner Rüstung viel intensiver als sonst. Aber ich nahm auch einen leichten Modergeruch von ein paar kleinen Flechten am Stein wahr. Es war, als seien all meine Sinne unglaublich geschärft.“

„Ist das immer noch so?“, wollte Sgillin wissen.

Garush schüttelte den Kopf. „Nein. Es kommt scheinbar willkürlich. Ich kann es nicht kontrollieren.“

„Und die Fähigkeit, dich so schnell zu bewegen?“, hakte der Halbelf nach.

„Die hatte ich schon kurz vor dem Besuch hier im Haus entdeckt“, erklärte die Amazone bereitwillig. „Und zwar sehr plötzlich und überraschend bei meinen Kampfübungen im Hof des Gefängnisses. Ich war verwirrt gewesen, doch da ich die Sache absolut nicht einordnen konnte, hatte ich erst einmal mit niemandem darüber gesprochen. Aber als wir dann hier waren, passierte es wieder: Yelmalis war ein Stück weiter gegangen, um den Raum zu untersuchen. Als ich zu ihm hinübergehen wollte, bemerkte ich erneut, dass ich mich sehr schnell bewegte. Und er erschrak sichtlich, als ich so plötzlich neben ihm stand.“

„Und welche Fähigkeit zeigte sich bei Yelmalis?“, erkundigte Morânia sich.

Die Amazone war offenbar bereit, noch mehr preiszugeben, denn sie nickte und fuhr fort. „Yelmalis erklärte mir, dass er genau den Moment, als wir das Haus betreten hatten, schon erlebt hatte – weil er in der Zeit zurück gesprungen war. Er war etwa zehn Minuten in die Vergangenheit gereist und hatte dann einen Teil unserer Unterhaltung erneut durchlebt. Wovon ich natürlich nichts mitbekommen hatte.“

„Puh ...“ Lereia atmete hörbar aus und Sgillin zog pfeifend Luft ein, während Jana große Augen machte.

Naghûls Blick wechselte von finster zu beunruhigt. „Gefährlich ...“, stellte er fest.

Dem musste Morânia zustimmen. Zeitreisen waren eine verzwickte und risikoreiche Sache und Chronomantie an den meisten Orten des Multiversums aus gutem Grund verboten. Auch Garush schien dies so zu sehen, denn sie nickte.

„Ja, allerdings. Und unsere Verwirrung könnt Ihr Euch vorstellen.“

„Und kann Yelmalis das kontrollieren?“, fragte Jana. „Oder passiert es auch zufällig?“

„Damals ist es auch bei ihm willkürlich gewesen“, erklärte die Amazone. „Inzwischen hat er aber eine gewisse Kontrolle darüber.“

Morânia nickte nachdenklich. „Und wie habt Ihr erfahren, dass es sich um eine Prophezeiung handelt?“

„Yelmalis erzählte mir, dass das nicht der erste Vorfall gewesen war“, fuhr Garush fort. „Er hatte etwas Derartiges schon wenige Tage früher, im Büro seines Bundmeisters erlebt. Die Prophezeiung erwähnte er allerdings noch nicht. Er bat mich aber, ihn zu Hashkar zu begleiten, um auch über meine Erfahrungen zu berichten. Ich hatte keine Einwände. Da Bundmeister Hashkar nach meinem Bericht natürlich vermutete, dass auch ich zu den Erwählten gehöre, nahm er Kontakt mit Mallin auf. Mein Bundmeister hatte tatsächlich ebenso Kenntnis von der Sache. Er hatte bisher nur nie etwas unternommen, weil er nicht wusste, dass sonst jemand Informationen darüber besaß ... oder ein Erwählter sein könnte.“

Mit diesen Worten beendete die Amazone ihre Erzählung vorerst und sie schwiegen alle eine Weile, um die Erkenntnisse des soeben Gehörten in sich einsinken zu lassen. Lereia drehte eine Strähne ihres weißen Haares um ihren Zeigefinger, wie oft, wenn sie nachdachte.

„Es wäre wohl das Beste, wenn sich die Bundmeister zusammensetzen“, meinte sie. „Sie sollten darüber entscheiden, was ausgetauscht und besprochen werden soll. Sie haben mit Sicherheit den besten Überblick über diese Dinge und darüber, wie wichtig und groß die ganze Sache eigentlich ist. Es ist bestimmt kein Zufall, dass jeder etwas darüber weiß.“

Sgillin nickte. „Ja, das denke ich auch.“

„Ich stimme Euch zu“, erklärte Garush. „Aber da wir die Erwählten sind, finde ich es richtig und wichtig, dass wir auch miteinander reden. Meiner Überzeugung nach ist es gewollt, dass wir zusammenarbeiten. Auch wenn ... nicht alle bei uns so denken.“

„Das sehe ich auch so“, stimmte Sgillin zu. „Die Zwiste der Bünde untereinander müssen bei dieser Sache in den Hintergrund treten. Wenn das alles vorbei ist, können sie damit weitermachen.“

Aus dem Augenwinkel sah Morânia, wie Naghûl leicht die Brauen hob, und Lereia ließ ein leises Seufzen hören. „Ob das so einfach ist ...“

Daran hatte Morânia ebenso ihre Zweifel, auch wenn sie geneigt war, Garush und Sgillin insofern zuzustimmen, dass die Sache mit der Prophezeiung über bundphilosophische Grenzen hinausging.

Die Gnadentöterin sah in die Runde. „Ich fasse das mal zusammen: Wir wissen nun voneinander, dass wir das Haus kennen. Ich kenne Euch sechs, Ihr kennt zwei von uns. Nach meinem Empfinden wäre es also folgerichtig und gerecht, wenn Ihr erfahrt, wer die anderen drei in unserer Gruppe sind.“

Skeptisch musterte Naghûl sie bei diesen Worten. „Aber?“

„Nichts aber“, entgegnete die Amazone. „Ich werde es Euch sagen. Außer Yelmalis und mir gibt es da noch Tarik, einen Tiefling vom Zeichen des Einen. Wenn ich schätzen sollte, würde ich sagen, dass sein menschlicher Teil Tharpuresischen Ursprungs ist oder aus einem der Reiche der vedischen Götter. Er ist Psioniker. Einer von diesen Sehern, Ihr wisst schon.“

Sgillin hob die Schultern. „Nö, weiß ich nicht.“

„Er kann Dinge erkennen, indem er Gegenstände berührt“, erklärte Garush. „Wem sie gehört haben, was mit ihnen vor Kurzem oder auch Längerem passiert ist und so. Er nimmt irgendwie geistige Spuren oder Überreste ihrer Besitzer wahr. Ich kenne mich nicht so gut mit diesen psionischen Fähigkeiten aus, ich finde sie etwas suspekt. Aber das sind seine Fähigkeiten als Psioniker, nicht seine Gabe.“

„Und was ist seine Gabe?“, fragte Jana sofort.

Garush schüttelte den Kopf. „So lange ich nicht mehr über die Euren weiß, möchte ich das vorerst noch nicht enthüllen. Was ich Euch sagen kann ist, wie wir mit Tarik in Kontakt kamen: Yelmalis wollte im Zuge seiner Nachforschungen an seinem Fall einen Psioniker mit Seher-Fähigkeit hinzuziehen und Tarik meldete sich auf einen Aushang von ihm hin. Der vierte bei uns im Bunde ist Sekhemkare. Er ist ein Yuan Ti Halbblut und Mitglied des Prädestinats.“

„Die Schlange bei den Nehmern.“ Naghûl hob vielsagend die Brauen. „Passt ja.“

„Na, na ...“, meinte Morânia mahnend, grinste aber etwas dabei.

„Nur ein kleines Wortspiel“, erwiderte ihr Mann spitzbübisch.

„Ich kenne die Bünde nicht so gut wie ihr alle“, meinte Lereia vorsichtig. „Aber das Prädestinat ... ist nicht unbedingt sympathisch, oder?“

„Ihr Bundmeister ist nicht mein Fall“, erklärte Naghûl unumwunden. „Der Bund selber ist soweit schon ganz in Ordnung.“

Morânia nickte. „Es hängt auch davon ab, welchen Standpunkt man vertritt. Es gibt solche und solche Nehmer, sehr verschiedene Leute sind da Mitglied.“

Garush lachte kurz auf. „Wenn das mal kein Kryptisten-Spruch war.“

Die Bal'aasi schmunzelte, doch sie konnte nicht abstreiten, dass etwas dran war an den Worten der Amazone. Daher beschloss sie, dem nichts entgegen zu setzen, sondern das Gespräch wieder auf das eigentliche Thema zurück zu lenken. „Und wer ist die letzte Person in Euren Reihen?“

„Die fünfte ist eine Dunkelelfe von der Freien Liga“, erklärte Garush. „Ihr Name ist Dilae Tor'ana, eine Priesterin der Eilistraee.“

Der Name kam Morânia vage vertraut vor. Etwas kitzelte ihre Erinnerung, so als hätten Naghûl und Sgillin eine Elfe dieses Namens einmal in einem Gespräch erwähnt. Scheinbar eine gemeinsame Bekannte von ihnen, die Morânia aber bislang nicht getroffen hatte. Und tatsächlich nickte der Halbelf sogleich, freudig überrascht.

„Dilae? Da schau an.“

Garush wandte ihm ihren Blick zu. „Ihr kennt sie?“

„Jap.“ Der Halbelf nickte. „Die ist nicht verkehrt. Was kann sie denn Schönes?“

„Sgillin“, meinte Lereia mahnend. „Garush sagte doch bereits, dass sie nichts über die Gaben der anderen preisgeben möchte.“

„Richtig“, erklärte die Amazone. „Nicht, ehe ich mehr über Euch weiß.“

„Ich bin keinem Bundmeister Rechenschaft schuldig“, stellte Sgillin fest. „Also kann ich einen Handel mit ihr machen.“

Entsetzt weitete Lereia die Augen. „Du möchtest alles von uns preisgeben?“

„Nicht von uns“, erklärte der Halbelf. „Aber von mir. Dass ihr erst eure Bundmeister fragen müsst, respektiere ich natürlich.“

Die junge Frau atmete erleichtert auf. „Ach so ... Danke.“

Sgillin war offenbar ein wenig brüskiert, dass sie ihm etwas Derartiges zugetraut hatte und schüttelte leicht den Kopf. „Also bitte ...“

„Entschuldige.“ Lereia lächelte ihrem Gefährten etwas ertappt zu und drückte kurz seine Hand.

Es war Morânia nicht entgangen, dass Garush diesen kleinen Wortwechsel durchaus interessiert verfolgt hatte. Nun sah sie zu Sgillin. „Also gut, ich bin gespannt.“

„Ebenso wie du kann ich die Gabe nicht kontrollieren“, erklärte der Halbelf. „Sie kommt, wann sie will und hat mich schon in brenzlige Situationen gebracht. Ich kann den Körper mit anderen Wesen tauschen. Mein Geist übernimmt dann die vollständige Kontrolle über jemand anderen und umgekehrt. Ich war unter anderem schon der Skorpion mit dem Auge auf dem Rücken und ein Minotaurus.“

Überrascht hob die Amazone die Brauen. „Bei den Klingen der Dame … Nun, das klingt zumindest abwechslungsreich. Also gut, ich werde Euch etwas über Tariks Gabe erzählen.“

„Moment“, wandte Sgillin ein. „Ich möchte aber etwas über Dilaes Gabe wissen.“

„Da Ihr sie kennt, verstehe ich das“, erwiderte die Gnadentöterin. „Aber nach Yelmalis bin ich mir bei Tarik am sichersten, dass er einverstanden wäre, wenn ich es Euch erzähle. Bei Sekhemkare und Dilae bin ich mir nicht ganz so sicher.“

„Na gut“, lenkte der Waldläufer ein. „Ich bin ganz Ohr.“ Er zwinkerte. „Alter Elfenwitz.“

Naghûl grinste. „Ich dachte bei Elfen hieße das spitz.“

„Ja, sehr originell“, erwiderte Garush trocken.

Sgillins empörter Blick ob ihrer Missachtung seines Witzes amüsierte Morânia mehr als die zweifelhaften Wortspiele ihres Mannes und seines langjährigen Freundes. Sie konnte Jana und Lereia ansehen, dass es den beiden ähnlich ging.

„Schon gut“, meinte Sgillin seufzend. „Zurück zu Tarik, ja?“

„Tarik hat auf irgendeine Weise Zugang zur Traumwelt“, erklärte Garush.

Lereia hob erstaunt die Brauen und Naghûl runzelte die Stirn. „Wie eine Nachthexe?“

Die Amazone hob die Schultern. „Ich bin keine Gelehrte, ich weiß darüber nicht allzu viel. Ein bisschen so ... und doch auch anders. Es gibt eine Welt der Träume. Und wenn wir träumen - so hat Tarik es erklärt - dann gehen diese Träume dorthin. Es ist wie eine Art Transitive Ebene, aber auch wieder nicht ganz. Eine recht verwirrende Sache … Einmal hat er uns kurz mitgenommen. Ich fand es sehr befremdlich.“

Diese Auskunft hatte eindeutig Sgillins Interesse geweckt. „Das klingt wirklich spannend. Kann er sich die Träume aussuchen, in die er reisen will?“

„Auf begrenzte Weise hat er scheinbar Zugang zu den Träumen anderer“, bestätigte Garush. „Er kann aber auch in schon vergangene Träume reisen, die sich auf der Traumebene befinden. Es ist eine sehr bizarre Welt voller Symbole und Metaphern. Schwer zu verstehen, was dort etwas bedeutet und was nur Zufall oder Willkür des träumenden Geistes ist.“

„Kann Tarik das kontrollieren?“, wollte Sgillin wissen.

Die Amazone wiegte den Kopf. „So einigermaßen. Mehr als ich, weniger als Yelmalis.“

Der Halbelf nickte nachdenklich, dann schien er sich einen Ruck zu geben. „Ich habe da noch eine andere Frage, die mich umtreibt. Die hat nichts mit den Gaben zu tun, aber ich muss sie stellen: Habt ihr gegen uns gearbeitet?“

„Gegen Euch?“ Garush runzelte die Stirn. „Inwiefern?“

„Hinsichtlich der Prophezeiung.“

„Das dachte ich mir schon, dass Ihr die Prophezeiung meint“, erwiderte die Amazone sachlich. „Aber da ich nicht wirklich weiß, was Ihr bisher getan habt, fällt mir eine ehrliche Antwort schwer.“

„Das finde ich nun etwas seltsam“, meinte Naghûl. „Zum einem habt Ihr uns beschattet und ausgespäht, zum anderen könnt Ihr aber diese Frage nicht beantworten. Das wirkt nicht ganz glaubwürdig.“

Sofort wurden Garushs Augen schmal. „Nennt Ihr mich eine Lügnerin?“

Ihre Stimme hatte deutlich an Härte gewonnen und Morânia biss sich auf die Lippen. Derartige Bemerkungen waren wahrscheinlich bestens geeignet, das bislang recht erfolgreiche Gespräch zu erschweren oder gar zu beenden. Sie warf ihrem Mann einen ärgerlichen Blick zu, wandte sich dann aber an Garush.

„Niemand hier will Eure Ehre anzweifeln, Tochter von Varuskias.“

Naghûl verschränkte die Arme. „Ich nenne Euch keine Lügnerin. Aber eine, die einer Frage aus dem Weg geht.“

„Eine Amazone geht gar nichts aus dem Weg!“, knurrte die Gnadentöterin. „Wir haben Euch kurze Zeit beschattet, ja. Aber ich kenne nicht Eure eigentlichen Ziele und Beweggründe. Daher weiß ich nicht, ob wir gegen etwas arbeiten, das Euch betrifft.“

„Ich glaube, ihr beide redet aneinander vorbei“, wagte sich Jana nun in die verbale Schusslinie. Sie sah zu Naghûl. „Garush hat nicht gezielt und bewusst gegen uns gearbeitet, reicht das nicht?“

Lereia kam der Hexenmeisterin zu Hilfe. „Genau. Und auch, wenn wir jetzt noch nicht jedem alles verraten, sollten wir doch versuchen, miteinander auszukommen. Wir haben alle dasselbe Schicksal und sitzen somit auch im selben Boot.“

„Ja.“ Jana nickte bekräftigend. „Das trifft es, wir sitzen im selben Boot.“

„Ich denke, ihre Kooperation zeigt, dass sie nicht gegen uns arbeitet“, meinte Sgillin und wandte sich dann an Garush. „Es geht darum, dass uns gesagt wurde, dass es anscheinend andere Bünde oder Auserwählte gibt, die gegen uns arbeiten. Daher meine Frage.“

Naghûl hob abwehrend die Hände. „Ist schon gut. Ich bin schon still.“ Er setzte dabei jedoch ein Lächeln auf, das eindeutig Zweifel daran aufkommen ließ, dass er Garush glaubte. Morânia atmete tief durch. Sie kannte diese provokante Art ihres Mannes, wenn er jemanden reizen wollte. Zum Glück blieb die Amazone ruhig, wahrscheinlich vor allem aufgrund der Beschwichtigungen der anderen.

„Danke“, sagte sie kühl. „Ich möchte festhalten, dass ich dieses Treffen angestoßen habe. Und dass ich bereit war, mich hier allein mit Euch allen zu treffen und einiges zu erzählen.“

„Dass Ihr ein Treffen einberufen habt, sagt gar nichts aus“, erwiderte Naghûl, seinen soeben angekündigten Vorsatz gleich wieder brechend. „Die Motivation könnte aufrichtig sein, aber auch listenreich. Mir gibt das jedenfalls nicht den geringsten Grund, Euch nur einen Funken mehr zu trauen.“

„Ihr unterstellt mir also Unehrlichkeit und Hinterlist?“ Garush musterte ihn ruhig mit ihren gelben Augen – so ruhig wie ein Raubtier, das auf der Lauer lag.

„Naghûl ...“, sagte Morânia genervt. Sie spürte, wie zunehmend Ärger in ihr hochstieg. Das Gespräch war bislang gut verlaufen, und sie wollte nicht, dass ihr Mann durch seine offene Angriffslust alles gefährdete, was sie erreicht hatten. Doch er hörte nicht auf sie.

„Ich kenne weder Euch persönlich noch sagt mir Euer Stamm etwas“, hielt er der Amazone entgegen. „Man kann viel erzählen, und was bisher gesagt wurde, überzeugt mich nicht. Wenn das an Eurer Ehre kratzt, dann seht zu, meine Meinung über Euch zurecht zu biegen anstatt Euch aufzuregen.“

Garush fletschte die Hauer. „Reden könnt Ihr gut in Eurem Bund. Aber Ihr wollt mir doch gar keine Chance geben. Ihr misstraut mir, weil ich eine Gnadentöterin bin. Und ich kann mit Eurem Bund auch nicht viel anfangen, um ehrlich zu sein.“

Sgillin hatte den Wortwechsel mit wachsender Ungläubigkeit verfolgt und schüttelte nun verärgert den Kopf. „Jetzt kommt mal wieder runter. Wir haben endlich mal eine Gelegenheit, neue Dinge zu erfahren, die nicht in ein episches, kryptisches Gewand gekleidet sind. Und ihr streitet hier nur.“

Die Amazone warf dem Halbelfen einen warnenden Blick zu. „In meinem Volk ist es kein Witz, wenn man jemandes Ehre anzweifelt. Tut mir leid, ich reagiere darauf nicht so gut.“

Naghûl winkte demonstrativ ab. „Wir reden gut, Ihr prügelt gut. Was ist nun besser? Doch darum geht es nicht. Es geht darum, dass ich Euch und Eurem Bund nicht traue. Es geht darum, dass Ihr einer einfachen Frage ausgewichen seid und es geht darum, dass das Einberufen eines solchen Treffens gar nicht über Eure wahre Motivation aussagt. Ihr könntet eine Amazone sein, schön und gut. Ich weiß es nicht und es wurde mir nicht bewiesen. Solange zweifle ich mit gutem Recht.“

Garushs Augen verdunkelten sich, als Naghûl erneut an der Aufrichtigkeit ihrer Worte zweifelte. Für einen kurzen Moment verfluchte Morânia ihn. Aufgrund von Garushs Kleidung, den Talismanen, die daran befestigt waren, und ihren Tätowierungen zweifelte sie nicht daran, dass die Halborkin tatsächlich zu den Tonoe gehörte. Aber wenn sie eine Amazone war, dann war das Anzweifeln ihrer Herkunft und Ehrlichkeit der beste Weg in eine Sackgasse, aus der sie nicht so bald wieder herauskommen würden. Naghûl war lange genug durch die Ebenen gereist, um das zu wissen. Doch im Moment ließ er seiner sinnsatischen Abneigung gegen die Gnadentöter freien Lauf und dies stand leider in diametralem Gegensatz zu ihren eigenen Zielen und ihrer Philosophie als Kryptistin. Doch ehe sie sich an ihren Mann wenden konnte, schaltete sich nun – glücklicherweise vielleicht – Jana ein.

„Also … Es spielt letztlich überhaupt keine Rolle, ob wir Garush trauen oder nicht“, sagte sie. „Ich für meinen Teil tue das. Aber wie gesagt … es ist egal.“ Sie hob beide Hände und atmete tief durch. Tatsächlich wandte Garush den Blick für den Moment von Naghûl ab und musterte nun die Hexenmeisterin. „Entscheidend ist“, fuhr diese fort, „wer außer Garush noch von dem erfährt, was wir preisgeben, und ob wir diesem ... Kreis von Leuten ebenfalls vertrauen können. Und das halte ich ganz entschieden für … ähm ... ausgeschlossen. Denn, ich meine, du bist doch im Auftrag deines Bundmeisters hier, oder nicht? Dann wirst du ihm doch auch Bericht erstatten müssen.“

Garush nickte knapp. „Nicht in seinem Auftrag, aber mit seinem Einverständnis. Und ja, sicher.“

Jana sah zu den anderen. „Das heißt, ihr Bundmeister erfährt auch, was wir sagen. Wir müssten also auch ihrem Bundmeister vertrauen.“

„Und wo liegt das Problem?“ Sgillin hob die Schultern. „Ich denke, der ist auch ein Paladin und ein guter Kumpel von Sarin?“

„Nun ja, das ist der Grund, warum wir mit unseren Bundmeistern Rücksprache halten wollen“, meinte Lereia. „Wenn ich weiß, dass Ambar keine Bedenken hat, erzähle ich auch von mir mehr.“

Garush schien sich wieder ein wenig beruhigt zu haben und nickte. „Wie gesagt, ich hatte gehofft, Ihr hättet Euch dahingehend schon mit Euren Bundmeistern abgesprochen. Zugegeben war das aber ein sehr kurzfristiges Treffen. Das ist so meine Art. Ich war mir nicht einmal sicher, ob Ihr überhaupt kommen würdet. Ich kann verstehen, wenn Ihr ohne Rücksprache nicht mehr preisgeben wollt.“

„Ja, es war etwas kurzfristig“, stimmte Morânia zu. „Vielleicht sollten wir das Treffen noch einmal vertagen?“

Ehe Garush etwas erwidern konnte, gab Jana ein leises Ächzen von sich. Sie taumelte etwas und musste sich an der Wand abstützen. Besorgt trat Sgillin neben sie.

„He, alles klar?“

„Es … passiert wieder …“, murmelte die Hexenmeisterin.

Dann sank sie zu Boden und blieb an die Wand gelehnt sitzen, mit starrem Blick und milchig weißen Augen. Verdammt. Eine Vision bahnte sich offenbar an, und dies in Gegenwart der Gnadentöterin natürlich zur absoluten Unzeit.

„Garush soll gehen“, sagte Naghûl auch sofort. „Jetzt gleich!“

Die Amazone sah irritiert zu Jana und zögerte kurz, nickte dann aber knapp und ging in Richtung Ausgang.

„Danke“, sagte Lereia hastig, während auch sie an Janas Seite eilte. „Wir melden uns, wenn wir mehr wissen.“

Garush war schon fast an der Tür … da wurde es dunkel. Morânia hatte keine Ahnung, ob dies nur sie selbst betraf, ob ausgewählte Mitglieder der kleinen Gruppe oder alle Anwesenden. Doch die Finsternis, die sie plötzlich umfing, hielt nicht lange an. Rasch formte sich ein Bild vor den Augen der Bal'aasi: Eine schöne Frau mit langem, blondem Haar und in einem weißen Kleid. Doch sie war leblos, ruhte auf einer Bahre, die von mehreren Personen in dunklen Roben durch eine Menge getragen wurde. In den Händen hielt sie ein schlankes Schwert, das man ihr wohl zur letzten Ruhe mitgeben wollte. Mehrere Gerüstete mussten die Personen zurückhalten, die sich von allen Seiten an die Bahre drängten, um den Saum des Gewandes der schönen Frau zu berühren, die Spitzen ihres goldblonden Haares oder zumindest den roten Samt, auf den sie gebettet war. Der Schmerz und die Trauer der Umstehenden war herzergreifend. Und dann vernahm Morânia eine Stimme, die von irgendwoher flüsterte: „Etwas endet ...“ Sie konnte jedoch nicht ausmachen, wer da gesprochen hatte, die Stimme schien aus keiner bestimmten Richtung zu kommen und überall zu sein. Das Bild der Frau auf der Bahre … Sie fühlte eine Erinnerung daran, konnte sie aber nicht fassen, so wie im Wasser ein bunter Fisch knapp außer Reichweite des Tauchers schwimmt. Dann verblasste die Szene wieder und riss den Schemen der Erinnerung mit sich fort.

 


Stattdessen formte sich ein neues Bild … Ein Mann, im strömenden Regen, vor einem Gewitterhimmel, aus dem ein Blitz herabfuhr. Tiefschwarzes Eichenlaub wirbelte um ihn herum, und er hielt einen blutigen Dolch in der rechten Hand. Zwar trug er eine Kapuze, doch vermochte Morânia sein Gesicht zu erkennen … Sie sah ihn an, und in seinen Augen stand nichts als Wahnsinn. Ein Blick, so voller Irrsinn und Besessenheit, dass er sich bis tief in ihr Herz bohrte. Er löste unsagbaren Schrecken in ihr aus, so sehr, dass sie das Gefühl hatte, ihr würden vor Angst die Eingeweide zerfließen. Und dann erklang wieder die körperlose Stimme. Doch diesmal flüsterte sie andere Worte … „Etwas beginnt ...“ Dann verblasste gnädigerweise auch dieses Bild vor ihren Augen und sie wurde erneut von Dunkelheit eingehüllt. 

 


Als diese sich auflöste, erblickte sie vor sich wieder das geheimnisvolle Haus, ihren Mann Naghûl, die an die Wand gelehnt sitzende Jana, Sgillin und Lereia an ihrer Seite, eine verwirrt dreinblickende Garush …

Morânia rieb sich die Schläfen und schüttelte leicht den Kopf, um die letzten Fetzen der Bilder loszuwerden. So also fühlte es sich an, wenn Jana eine Vision teilte. Naghûl hatte ihr davon erzählt, aber sie hatte es noch nicht selbst miterlebt.

Die Augen der Hexenmeisterin waren nun wieder klar und sie blickte noch leicht orientierungslos in die Runde. „Ihr … habt das gesehen, oder?“

„Ja ...“, antwortete Sgillin leise.

„Es hat geklappt“, murmelte Jana. „Ich wollte es euch zeigen … und ihr habt es gesehen.“

Garush griff sich an die Stirn und starrte die Hexe fast anklagend an. „Was war das denn? Was habt Ihr gemacht?“

„Nichts“, erwiderte Naghûl, der sich wieder einigermaßen gefasst hatte, kurz angebunden. „Wir haben nichts getan.“

„Ja, klar“, entgegnete die Amazone trocken. „Ich sehe ja ständig irgendwelche Bilder.“

„Lass es.“ Jana winkte schwach in Naghûls Richtung ab. „Es wäre albern, noch etwas anderes zu behaupten.“

„Was haben wir gesehen, Verlorene?“, verlangte die Gnadentöterin zu wissen. „Was war das? Eure Gabe, nicht wahr?“

Naghûl schnaubte und seine Augen funkelten wütend. Es war offensichtlich, dass ihm ganz und gar nicht gefiel, dass Garush diese unfreiwillige Demonstration von Janas Gabe mitbekommen hatte.

Die Hexenmeisterin jedoch stand langsam auf. „Ja, meine Gabe“, bestätigte sie, während sie sich noch an der Wand festhielt. „Ich ... sehe Dinge. Es war nicht geplant, dass du es mitbekommst, aber … es ist eben passiert.“

Noch ehe Garush antworten konnte, begann Naghûl, einen Zauber zu weben.

„Was hast du vor?“, fragte Morânia alarmiert.

Auch die anderen sahen ihren Mann erstaunt bis verwirrt an, doch er antwortete nicht, um den Spruch nicht zu unterbrechen, machte unbeirrt weiter. Morânia erkannte den Zauber. Auch wenn sie der arkanen Magie nicht mächtig war, sie hatte ihn Naghûl oft genug anwenden sehen … Das konnte nicht gut enden.

„Bitte lass das!“, sagte sie eindringlich.

Auch Jana schien begriffen zu haben. „Was soll das werden, Naghûl?“, fragte sie missbilligend.

Doch es war zu spät. Der Tiefling beendete den Zauber und eine große, grüne Hand sauste auf Garush zu. Sie hätte sie eigentlich packen und festhalten sollen … Hätte. Doch sie schien von der Amazone zurück zu prallen und löste sich dann auf. Die Gnadentöterin funkelte Naghûl an, und für einen Moment befürchtete Morânia, es würde zu einem Kampf kommen. Doch dann verzog die Halborkin nur abfällig den Mundwinkel.

„Ich sehe, es war nicht geplant, dass ich das mitbekomme“, sagte sie kühl. „Ich lasse Euch wohl besser allein.“

„Gleich könnt Ihr gehen“, meinte Naghûl. „Aber erst trinkt Ihr etwas.“

Garush hob mit einem Anflug von Spott die Brauen. „Ach wirklich?“

„Ja, wirklich“, erwiderte der Tiefling unbeeindruckt, während er etwas aus einer seiner Gürteltaschen zog.

Morânia traute ihren Augen kaum, als sie erkannte, worum es sich handelte: eine kleine Flasche Styx-Tee. Das konnte doch unmöglich sein Ernst sein …

„Gar nichts trinke ich“, erwiderte die Amazone schroff und wandte sich zum Gehen.

Naghûl trat zwischen sie und die Tür. „Doch“, sagte er unnachgiebig. „Tut es freiwillig, sonst muss ich alles daran setzen, dass Ihr das trinkt. Styx-Tee. Ihr werdet keinen Schaden davontragen, nur das vergessen, was eben geschah. Die letzten paar Minuten.“

Garush schnaubte abfällig. „Keine Chance.“

„Dann muss ich Euch zwingen“, erklärte Naghûl. „Auch wenn es mir zuwider ist.“

Die Amazone blieb äußerlich sehr ruhig, doch der geübte Blick einer Kriegerin verriet Morânia, dass sich all ihre Muskeln anspannten, dass sie sich innerlich auf einen Kampf einstellte. Verdammt, so weit durfte es auf keinen Fall kommen …

„Ach, so ist das“, stellte Garush trocken fest. „Es war eine Falle, hm? Ihr wolltet etwas von mir erfahren und habt selbst etwas preisgegeben, damit ich noch mehr erzähle. Und nun wollt Ihr es elegant rückgängig machen.“

„Nein!“, versicherte Morânia eindringlich. „So war es nicht geplant.“

Lereia nickte beschwörend. „Das ist wahr. Janas Vision geschah ungewollt.“

„Meine Güte, sie hat es eben erfahren.“ Die Hexenmeisterin blickte zu Naghûl. „Lassen wir es gut sein. Ich bin entschieden dagegen, ihr weh zu tun. Und das schließt das Zwingen mit ein.“

Doch Naghûl beachtete ihre Worte gar nicht, seine ganze Aufmerksamkeit blieb fest auf die Gnadentöterin fixiert. „Trinkt oder ich zwinge Euch“, wiederholte er. „Jede Minute, die vergeht, macht den Tee ineffektiver. Hört mit der Zeitschinderei auf.“

„Ihr habt das von Anfang an so geplant“, knurrte die Amazone mit finsterem Blick zu Morânia. „Redet doch nicht.“

„Nein, das hatten wir nicht“, versicherte die Bal'aasi erneut und warf einen Seitenblick zu ihrem Mann. „Was macht es für einen Unterschied? Sie weiß das von Sgillin ja auch schon.“

„Schlimm genug“, erwiderte Naghûl kompromisslos.

Sgillin verdrehte die Augen und setzte schon an, etwas zu sagen, winkte dann aber ab und schwieg, so als sei es ohnehin sinnlos.

„Das war also der Preis meines Vertrauens.“ Garush klang wütend, aber auch bitter, enttäuscht. „Der Herzog hatte Recht, ich hätte nie herkommen sollen. Er sagte, Ihr würdet mich hereinlegen. Vor allem Ihr.“ Sie blickte zu Naghûl.

Morânia schloss kurz die Augen. Ja, das konnte sie sich lebhaft vorstellen, dass jemand wie Rowan Dunkelwald eine Gnadentöterin und einen Sinnsaten nur allzu gerne gegeneinander ausspielte. Es war ein Erfolg, den man ihm keinesfalls gönnen sollte. Doch weder Naghûl noch Garush machten den Eindruck, als wollten sie dem Herzog diesen Triumph versagen.

„Ich kann nicht zulassen, dass du ihr wehtust“, erklärte Jana nun fest, während sie einen Schritt vortrat.

„Und ich kann nicht zulassen, dass sie derartige Informationen erhält“, entgegnete der Tiefling finster.

„Sie hat sie aber längst erfahren“, hielt die Hexe dagegen.

Naghûl sah in die Runde, doch als er feststellte, dass alle anderen – wörtlich wie auch metaphorisch – hinter Jana standen, warf er die Phiole mit Styx-Tee wütend auf den Boden. Gefertigt aus magisch verstärktem Glas zerschellte sie nicht, klirrte aber vernehmlich in der Stille, die sich über den Raum gelegt hatte. „Schön, macht doch, was ihr wollt“, schnauzte er und trat die kleine Flasche weg. „Naive Tore!“

„He, jetzt bleib mal ruhig“, rief Sgillin Naghûl zu, als er sich auf den Weg zur Tür machte, doch der reagierte nicht und marschierte einfach weiter.

„Naghûl, bleib hier“, bat Lereia. „Es ist doch Janas Entscheidung, da waren wir uns doch einig. Jeder erzählt über sich, was er will. Und Jana hat es hingenommen.“

„Haltet euer Wort mir gegenüber“, blaffte Naghûl noch über die Schulter, dann ging er hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.

Seufzend senkte Lereia den Kopf und auch Morânia ließ betrübt ihre gefiederten Schwingen hängen. Jana hingegen blickte peinlich berührt zu Garush.

„Vielleicht nutzt du die Gelegenheit und gehst auch? Und bitte ... also, ich habe das Bedürfnis, mich für ihn zu entschuldigen. Ich habe nicht beabsichtigt, dass du es mitbekommst, das hab ich, glaube ich, schon ... also, es ist halt passiert.“

„Ich hätte nicht glauben dürfen, dass ein Sinnsat irgendwie mit mir zusammenarbeiten würde“, entgegnete die Gnadentöterin ernüchtert. „Nun, es mag einen Versuch wert gewesen sein oder auch nicht … Ich wünsche Euch weiterhin Erfolg.“

„Ja, wir dir auch“, versicherte Jana. „Und vielleicht denkst du nicht allzu schlecht von uns, wenn wir uns wieder über den Weg laufen.“

Sgillin hob die Schultern. „Wir werden noch zusammenarbeiten müssen, da wird uns gar nichts anderes übrig bleiben.“

„Ich weiß nicht, wie es weitergehen wird“, entgegnete Garush. „Das liegt nun bei Mallin.“

Morânia nickte verstehend, doch Sgillin seufzte tief. „Diese Stadt und ihre Bünde ... das wird uns noch alle über die Klinge springen lassen.“

Garush kommentierte dies nicht weiter, ihre Gesichtszüge wirkten härter als während des gesamten Treffens bisher. „Der Segen der Dame, Schwestern“, sagte sie nur noch knapp. „Und dir auch, Bruder.“

„Der Segen der Dame“, erwiderte Morânia geknickt. „Ich hoffe, wir sehen uns wieder, und dann unter besseren Voraussetzungen.“

„Ja“, stimmte Jana zu. „Wir sitzen im selben Boot.“

Sgillin nickte. „Pass auf dich auf.“

Garush musterte nochmals jeden kurz und wandte sich dann zum Gehen. Eine lastende Stille blieb im Raum zurück.

 

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gespielt am 29. September 2012

Der Grund, warum Jana ihre Vision ungewollt auch mit Garush teilte: Weil ihr Spieler eine 1 gewürfelt hatte.

Da Kiyoshis Spieler an diesem Abend nicht da war, musste Kiyoshi leider die Spätschicht übernehmen.

 

 

 

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