Und er stürzt sich in das Feuer;

Wonnig schwelgt sein Geist darin;

Schön ist seines Todes Feier,

Freudig, fessellos sein Sinn.

Ohne Klage, ohne Kummer

Sinkt er in den kurzen Schlummer,

Schwindet er in Asche hin.“ 1)

 


 

Dritter Gildentag von Savorus, 126 HR

Morânia erwachte mit den ersten Strahlen des Morgenlichts. Der bernsteinfarbene Himmel wirkte in der goldenen Dämmerung wie frisch gewaschen. Leise erhob sich die Bal'aasi, wandte sich der aufgehenden Sonne zu und sprach ein Gebet zu Lathander. Nirgendwo war der Morgenfürst, Gott der Dämmerung, der Hoffnung und der Erneuerung ihr näher als hier im Elysium, seiner Heimat und der ihren. Sie spürte stets aufs Neue, wie Zuversicht und Zufriedenheit sie hier durchströmten. Da neben ihrem Gott auch ihr Bund, die Kryptisten, im Elysium zu Hause waren, kam sie regelmäßig aus Sigil hierher, und die Wärme und Hoffnung, die sie auf der himmlischen Ebene stets verspürte, nahm sie jedes Mal wieder mit in die Stadt der Türen. Nachdem sie geendet hatte, wandte sie sich wieder dem kleinen Lager zu, das sie aufgeschlagen hatten. Auch die anderen wachten nun nach und nach auf, als erster Naghûl, der generell sehr wenig Schlaf brauchte, als letzte Lereia, die als Wertigerin sehr viel schlief, wie Morânia bemerkt hatte. Sie nahmen sich etwas Mandelbrot und getrocknete Früchte zum Frühstück und Kiyoshi brühte noch einmal Tee auf. Während sie beisammen saßen, noch wenig sprachen und langsam wach wurden, erblühte plötzlich auf dem Kamm der höher gelegenen Hügelkette ein rotes Glühen, das sacht zu flackern schien. Es war, als würde dort ein Feuer brennen.

Lereia sah zu den Flammen. „Oh … Der Phönix?“

Naghûl nickte. „Ja, ich würde das als Phönixnest deuten. Schön, nicht wahr?“

Lereia schlug noch einmal in ihrem Notizbuch nach. „Den Phönix, der sein Nest in den Orebhügeln hat, müssen wir um ein Juwel der Harmonie bitten.“

Nachdem die Flammen ihnen dankenswerterweise das Ziel ihrer nächsten Etappe anzeigten, brachen sie das Lager ab und packten alles zusammen. Der Kelch des Friedens, den sie sorgsam neben einem der Zelte platziert hatten, war noch immer mit dem geweihten Wasser gefüllt. Ihn nun ohne etwas zu verschütten, hinauf in die Orebhügel zu tragen, das würde allerdings eine spannende Herausforderung werden. Abaia, der hinter den Zelten geruht hatte, rappelte sich nun hoch und wirkte irgendwie verschlafen, so seltsam es auch scheinen mochte, dass ein Bebilith dazu in der Lage war. Dann begannen sie den Aufstieg, und zum Glück waren die Orebhügel weder allzu hoch noch stiegen sie besonders steil an. An den meisten Stellen war es möglich, ohne Zuhilfenahme der Hände nach oben zu steigen. So kamen alle relativ zügig die felsigen Hügel hoch, am wenigsten Probleme hatte Abaia mit seinen acht langen, spinnenartigen Beinen. An holprigeren Stellen flog Morânia immer wieder ein kurzes Stück, um nicht zu riskieren, etwas von dem geweihten Wasser zu verschütten. Ihre Schwingen trugen sie nicht so hoch und so weit, wie ein reiner Engel problemlos hätte fliegen können, doch konnte sie kurze Strecken überwinden oder sich ein paar Meter in die Höhe schwingen. Näher und näher kamen sie so den Flammen auf den Hügelspitzen, die sie nun auch eindeutig als solche erkennen konnten. Schließlich erhoben sich vor ihnen mehrere Felsen, gegeneinander gelehnt und aufgetürmt zu einem etwa drei Meter hohen Gebilde. Auf der Spitze thronte ein großes Nest, in dem ohne Weiteres mehrere erwachsene Personen Platz gefunden hätten. Es schimmerte rötlich und golden, und darin saß – von Flammen umgeben – der Phönix. Er ähnelte vom Aussehen her einem Adler, war jedoch fast so groß wie ein Pferd, und hatte viele lange und buschige Schwanzfedern, eher wie ein Hahn oder ein Pfau. Sein Gefieder war an Körper und Flügelansätzen tiefrot, hellte sich aber in Richtung der Schwung- und Schwanzfedern zu einem kräftigen Orange und schließlich hellem Goldgelb auf. Der Phönix der Orebhügel war über die Grenzen von Mishakals Reich hinaus bekannt, und er war so schön und majestätisch, wie Morânia ihn sich vorgestellt hatte. Sie erinnerte sich, dass der Phönix auch nach wie vor Terrances Wappentier war – vielleicht eine emotionale Verbindung zu einer Lebensphase, die er zwar hinter sich gelassen hatte, aber nie vollkommen würde abstreifen können. Vielleicht auch zugleich ein passendes Bild für den Tod seines Glaubens und dessen Wiederauferstehung in der Verehrung des Großen Unbekannten. Sie waren hinter dem nächsten Hügel stehen geblieben, um sich noch nicht direkt in das Blickfeld des Phönix zu begeben – wenngleich Morânia sicher war, dass er ihre Anwesenheit dennoch spürte. Sie fühlte, wie ihr Herz vor Freude und Aufregung ein wenig schneller schlug. So manches hatte sie auf ihren Reisen durch die Ebenen erlebt, aber einem Phönix stand man nicht alle Tage gegenüber. Für sie und Naghûl war es ebenso wie für alle anderen die erste Begegnung mit einem jener mythischen Vögel. 

 


Mit entsprechender, sinnsatischer Begeisterung musterte ihr Mann das beeindruckende Geschöpf.„Wunderschön“, murmelte er schwärmend.

Lereia war, wie alle anderen, in respektvoller Entfernung zu dem Nest stehen geblieben. „Hat jemand Erfahrung mit diesen Wesen?“, fragte sie leise.

„Noch nicht“, erwiderte Naghûl mit einem Strahlen in den Augen.

„Sie gelten als wild und temperamentvoll“, gab Morânia wieder, was sie über die legendären Vögel wusste. „Aber es sind Geschöpfe des Guten.“

„Sind das noch Tiere?“, fragte Sgillin zögernd. „Oder schon höhere Wesen?“

„Eher höhere Wesen“, erklärte die Bal’aasi. „So wie Drachen nicht einfach Reptilien sind, ist ein Phönix kein einfacher Vogel.“

„Ich rede nicht mit ihm“, meinte Jana entschieden. Wie zuvor schon die beiden Löwen schien auch der Phönix bei ihr eher Unbehagen als Hochgefühle auszulösen.

Morânia schüttelte sacht den Kopf, doch Naghûl schien das gerade recht zu kommen. Sie vermutete, dass er durchaus darauf aus war, mit dem mythischen Geschöpf zu sprechen. Doch ehe er sich dem Nest weiter näherte, sah er noch einmal zu dem Bebilith. „So Abaia, mein Guter. Bleib einfach hinter uns. Wir wissen nicht, wie gut der Phönix uns gesonnen ist und gehen langsam und vorsichtig auf ihn zu.“

Zahm bewegte das Scheusal die vorderen Klauen auf und ab. „ Abaia folgt euch.

Dann näherten sie sich dem wundervollen Vogel, langsam, respektvoll und in angespannter Erwartung. Als sie hinter dem Hügel auftauchten, hinter dem sie bislang noch abgewartet hatten, hob der Phönix den Kopf. Das große, brennende Nest, auf dem er saß, bestand aus Ästen, duftenden Gewürzen und Edelsteinen. Er hatte gerade mit dem Schnabel ein Bündel roter Blüten in das Nest gewebt, hielt nun aber inne und wandte sich ihnen zu. Naghûl, Lereia und Morânia verneigten sich tief, und auch Sgillin senkte das Haupt. Kiyoshi klatschte dreimal leise in die Hände und verneigte sich mit gefalteten Händen vor dem wundervollen Geschöpf, das er, so vermutete Morânia, gewiss als Kami einordnete. Allein Jana blieb starr stehen, wirkte nervös und angespannt. Naghûl trat noch einen weiteren, kleinen Schritt vor und sprach den Phönix an.

„Wir grüßen Euch, Mächtiger, der aus der Asche aufsteigt, Erhabener über die Flammen.“

Als der Tiefling ihn grüßte, spreizte der mythische Vogel die Schwingen. Die Federn strahlten und leuchteten in allen Orange- und Rottönen, Krallen und Schnabel waren wie reines Gold. Seine Augen musterten die Besucher wach und glühend.

Wir grüßen Euch.“ Sie hörten seine Stimme telepathisch in ihren Gedanken, ganz so wie es auch bei Abaia war. Doch sofort hielt er inne. „Ein böses Ding hat sich unserem Nest genähert ... Doch nicht so böse, wie es auf den ersten Blick erscheint. Wir spüren den Funken eines Deva in ihm. Erklärt es.

Prompt kauerte der Bebilith sich scheu zusammen. Naghûl fasste sich ein Herz.

„Ja, Abaia trägt den Funken eines Deva in sich. Der Funke lehrt den Dämon das Gute und er hat dadurch den Willen erlangt, sich zu ändern, Erhabener.“

Der Phönix legte den Kopf schief und musterte den Bebilithen eine Weile. „ Das ist bewegend “, erklang dann wieder seine Stimme in den Gedanken der Besucher. „ Wir verstehen gut, wie aus Altem Neues wird. Es ist das verbindende Element vieler Welten, die wir gesehen haben: Schöpfung geschieht durch einen Akt der Zerstörung .“

Naghûl nickte. „Doch ist die Schöpfung in diesem Falle noch nicht beendet. Wir und Abaia wollen den Funken des Deva wieder dem Engel zurückgeben. Dazu benötigen wir aber die Regalia des Einklangs. Nur so kann Abaia seinen neuen Weg gehen und der Deva gerettet werden.“

Die Regalia des Einklangs.“ Der mächtige Vogel spreizte erneut die Flügel, wobei glühende Funken von den Spitzen seiner Federn weg stoben. „Was erbittet ihr?

„Der Edelstein der Harmonie soll sich in Eurem Besitz befinden.“ Naghûl verneigte sich. „Wir erbitten jenen, um unser nobles Ziel verfolgen zu können.“

Wir besitzen ein solches Juwel. Doch ohne diesen Stein ist das Gewebe unseres Nestes zerstört und wir können nicht aus unserer eigenen Asche auferstehen.“ Die Stimme in ihren Gedanken klang ernst und bedauernd.

Naghûl dachte eine Weile nach. „Gäbe es eine Alternative für Euch, um das Gewebe des Nestes wieder herzustellen?“

Der Phönix fixierte die Gruppe mit seinen glühenden Augen. „ Wenn Ihr uns etwas von gleicher Reinheit zum Austausch gebt, dann könnte dies genügen.

Obgleich Jana angekündigt hatte, nicht reden zu wollen und den wundervollen Vogel bislang nur starr gemustert hatte, meldete sie sich nun doch zu Wort. „Was meint Ihr? Einen anderen Edelstein?“

„Ein guter Gedanke.“ Naghûl nickte und holte aus seinem Beutel einen Kristallstern. „Wäre jener rein genug?“

Der gewaltige Phönix breitete nun die Schwingen aus, erhob sich von seinem Nest und flog zu ihnen herab. Morânia spürte die Hitze, die von ihm ausging, es war, als würde man neben einem glühenden Ofen stehen. Alle wichen einen Schritt zurück, außer Naghûl, der standhaft dem mächtigen Vogel den blauen Kristallstern entgegen hielt. Der Phönix beugte sich vor, um das Juwel zu mustern. „ Er ist sehr, sehr rein. Sehr kostbar. Doch nicht feurig genug.

Jana schien kurz mit sich zu ringen, gab sich dann aber einen Ruck. „Ich habe auch Edelsteine bei mir. Darunter einen Rubin …“

Auch Lereia hatte etwas aus ihrer Gürteltasche hervor geholt. „Ich hätte einen Lichtedelstein.“ Sie zeigte den roten Kristall, den man verwenden konnte, um einen magischen Lichteffekt dauerhaft auf einen anderen Gegenstand zu binden. Da schien Naghûl eine Idee zu kommen, und er bat Jana und Lereia um die beiden Juwelen. Sie gaben sie ihm, und er führte den Lichtedelstein über den Rubin und übte dann einen leichten Druck aus. Beide Steine leuchteten auf, und der Lichtedelstein übertrug sein Leuchten auf den Rubin, wobei er selber zu feinem Staub zerfiel.

Den strahlenden Rubin hielt Naghûl dann hoch, um ihn dem Phönix zu zeigen. „Ist dies nach Eurem Willen?“

In der Tat.“ Der mythische Vogel nickte würdevoll. „Dies Juwel können wir in unser Nest weben und den Edelstein der Harmonie damit ersetzen.

„Wenn Ihr gewillt seid, dies zu tun, so stünden wir in Eurer Schuld.“

Naghûl hielt den Rubin so weit er konnte nach oben und der Phönix beugte sich vor, um den Stein mit dem Schnabel zu ergreifen. Eine merkliche Hitzewelle ging dabei von ihm aus. Alle wandten sich ein wenig ab, als der Phönix sich dem Stein näherte, es war ihnen fast, als würden sie die Flammen seines Gefieders kurz über ihre Haut lecken spüren. Der majestätische Vogel nahm den Stein, flog wieder hinauf zu dem brennenden Nest und webte das Juwel sorgfältig zwischen die Zweige. Dann nahm er einen anderen Edelstein aus den Ästen seiner Heimstatt. In der linken Klaue hielt er nun ein etwa faustgroßes, rotes Juwel mit hunderten von Facetten, in denen sich das Licht brach und einen regenbogenfarbenen Schimmer erzeugte.

„Wunderschön“, flüsterte Lereia ergriffen, als der Phönix Naghûl den Edelstein reichte.

Der Tiefling nahm ihn mit beiden Händen entgegen, sehr vorsichtig, offenbar in der Annahme, dass er glühend heiß sein würde. Doch Morânia stellte erleichtert fest, dass ihr Mann sogleich lächelte und die Finger schützend um das Juwel schloss. Offensichtlich war es höchstens angenehm warm. Dann verneigte er sich in Richtung des wundervollen Vogels.

„Wir danken Euch, Erhabener.“

Der Phönix nickte hoheitsvoll. „ Wir haben noch einen Rat, den wir euch mit auf den Weg geben möchten.

„Wir wären um jeden Rat dankbar“, sagte Morânia, ebenfalls mit einer Verneigung.

Wir sagten, dass etwas Neues entstehen kann und soll.“ Der Phönix reckte den Kopf. „Nur durch die Zerstörung beider - des Devas und des Bebilithen - kann dieses Neue entstehen. Jedoch nicht durch mutwillige Zerstörung. Die beiden müssen in den Prüfungen des Labyrinths verzehrt werden. Denn diese Prüfungen brennen so heiß wie Feuer und in den Flammen der Wahrheit wird alles gereinigt.

Lereia sah den Phönix nun erstaunt, fast entsetzt an und Morânia vernahm Naghûl neben sich hörbar schlucken.

Die Bal’aasi nickte zögernd. „Ich glaube zu verstehen.“

Nur das geeignete Gefäß kann den Funken halten“, erklärte der Phönix. „Der Edelstein ist ein solches Gefäß, wenn er vorbereitet wurde. Erinnert Euch stets an die Regel der Drei: Durch Wahrheit, Zerstörung und Frieden gelangt ihr ans Ziel.

Kiyoshi nickte ernst und sprach nun zum ersten Mal. „Wir werden es uns merken, ehrwürdiger Kami des Feuers und der Erneuerung.“

„Können wir den beiden bei der Prüfung helfen?“, wollte Sgillin vorsichtig wissen.

Ja.“ Der Phönix spreizte die Schwingen. „Und doch werden alle ihrer eigenen Prüfung begegnen: der Deva, der Bebilith und ihr.“

Lereia straffte sich. „Wir werden diese Prüfungen auf uns nehmen, um die Erneuerung der beiden zu ermöglichen.“

Der Phönix nickte zufrieden. „ Dann geht nun und erschafft Neues durch Zerstörung .“

„Wir danken für Euren Rat und Eure Hilfe.“

Morânia verneigte sich tief, und die anderen folgten ihrem Beispiel, diesmal auch Jana. Der Phönix musterte die Gruppe, vor allem Abaia, ein letztes Mal ernst, dann flog er wieder zu seinem Nest und baute weiter daran.

Naghûl wandte sich dem Bebilithen zu und lächelte. „Siehst du, Abaia: Alle hier wollen und werden dir helfen. Das ist gut, verstehst du?“

Abaia versteht“, erwiderte der Bebilith.

Der Tiefling nickte. „Nun wird es Zeit, dass wir Ybdiel holen und ihm ebenso helfen.“

Nein“, erfolgte die unmittelbare Antwort.

Sofort hob Sgillin alarmiert die Brauen. „Wie, nein?“

Naghûl bat den Halbelfen mit einer beschwichtigenden Geste, sich noch zurückzuhalten. „Erkläre es uns bitte, Abaia“, wandte er sich dann an das Scheusal.

Abaia allein ist schneller“, erklärte der Bebilith. „Abaia holt Deva. Trifft euch mit Deva an Labyrinth.

„Cebulon sagte, du würdest uns zu ihm führen“, wandte Lereia ein.

Auch Morânia fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, das noch instabile Scheusal nun alleine losziehen zu lassen, Deva-Funke hin oder her. „Bist du sicher, dass du alleine klarkommst?“, fragte sie skeptisch.

Kiyoshi sah zu den anderen und schüttelte warnend den Kopf.

Auch Lereia wirkte nicht begeistert. „Ich habe dabei kein gutes Gefühl“, warf sie ein.

Naghûl und Jana wirkten unschlüssig, und Sgillin zog unwillig die Brauen zusammen. „Macht ihr euch keine Sorgen, dass Abaia Ybdiel in Scheiben schneidet, wenn er schlechte Laune bekommt?“

Doch ehe sie die Frage weiter ausdiskutieren konnten, rieb Abaia die Vorderbeine gegeneinander, dann gab es einen Lichtblitz, wie damals, als er mit dem Deva verschwunden war. Einen Lidschlag später war der Bebilith fort. Sgillin fluchte leise und Lereia ließ seufzend die Schultern hängen.

„Ich verstehe.“ Naghûl nickte ernst. „Wir haben wohl keine Wahl, als es zu versuchen. Oh, und verzeiht, dass ich das Gespräch mit dem Phönix so an mich gerissen habe. Das war etwas egoistisch, aber so eine Erfahrung macht man wahrlich nicht jeden Tag.“

Morânia lächelte. „Das war in Ordnung, was mich angeht.“

Auch die anderen wirkten nicht erbost, und Sgillin hob die Schultern. „Wieso? War doch erfolgreich, das ist die Hauptsache. Aber wo finden wir nun dieses Labyrinth?“

Morânia wollte ihm antworten, doch plötzlich hatte sie keine Kontrolle mehr über ihre Zunge. Sie spürte, wie Licht und Wärme sie durchflossen, ein süßes, angenehmes Gefühl der Geborgenheit und gleichzeitig grenzenloser Freiheit … die Botin. Nun, beim dritten Mal, war das Gefühl schon vage vertraut und sie ließ sich voll und ganz darauf ein.

„Ich bin die Botin“, hörte sie sich selber sagen, so wie auch die beiden anderen Male zuvor. „Fragt und Euch wird geantwortet.“

„Oh.“ Naghûl sah in die Runde, von einem zum anderen, mit fragendem Blick. Morânia konnte all das wahrnehmen, die Worte hören, die Blicke und Gesten sehen, wenngleich wie durch einen dünnen Schleier oder eine angelaufene Scheibe.

„Also gut.“ Nach einem kurzen Blickwechsel mit den anderen, wandte Lereia sich Morânia zu. „Wenn wir eine der Aufgaben in dem Labyrinth nicht bestehen, wird uns dies das Leben kosten?“

„Nein“, hörte Morânia die Botin durch ihre Lippen antworten.

Lereia sah kurz zu Naghûl, doch dieser bedeutete ihr, fortzufahren.

Sie nickte. „Wir hörten von Zerstörung. Wird sich jemand für die Aufgaben opfern müssen?“

„Ja“, gab die Botin zur Antwort.

Lereia biss sich kurz auf die Lippen, konzentrierte sich dann aber rasch auf die nächste Frage. „Werden Bebilith und Deva nach bestandenen Aufgaben weiterleben?“

„Ja“, bestätigte die Botin, dann sank Morânias Kopf nach vorne.

Die Bal‘aasi spürte, wie das Licht und die Wärme, die sie inzwischen zweifelsfrei mit der Botin verband, sie wieder verließen, wie sie wieder die Kontrolle über ihren Körper erlangte.

Naghûl griff sogleich nach ihrer Hand. „Alles gut?“

Diesmal verspürte sie nur noch einen ganz leichten Schwindel, harmlos genug, um problemlos stehen bleiben zu können. „Ja ...“ Sie strich sich das Haar zurück. „Allmählich gewöhne ich mich daran.“

Lereia seufzte. „Das heißt, wenn wir bestehen wollen, wird sich mindestens einer opfern müssen. Aber Abaia und Ybdiel werden dann weiterleben.“

Es werden alle wieder leben“, meinte Naghûl überzeugt.

Morânia nickte zu seinen Worten. „Ich bin gespannt, wie das aussehen wird. Aber das Elysium verkörpert das Gute. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand hierfür sterben muss.“

Sgillin wirkte ernster als sonst, war aber dennoch der erste, der sich zum Weitergehen wandte. „Also, dann lasst es uns herausfinden.“

Gerade, als sie wieder aufbrechen wollten, sahen sie von der Spitze der Hügel her ein helles Auflodern. Als sie hinauf schauten, erblickten sie den Phönix auf seinem Nest sitzen … und es ging in Flammen auf. Das Feuer griff schnell um sich, leuchtete gelb, orange und rot, aber auch weiße, blaue und grüne Flammen tanzten dort über den Gipfeln. Das Feuer sprang über auf die Federn des Phönix, doch es umtanzte sie nicht nur. Es verzehrte sie. Der wundervolle Vogel legte den Kopf in den Nacken und stieß einen langen, klagenden Schrei aus, als er langsam, aber sicher vom Feuer seines brennenden Nestes verschlungen wurde.

Ergriffen sah Lereia hinauf. „Oh ... Er wird wieder erstehen, oder?“

„Ja.“ Naghûl nickte, und ein fast seliges Lächeln trat auf seine Lippen. „Aus seiner Asche ...“

 

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gespielt am 3. August 2012

1) Gedicht von August von Arnswaldt

 

 

 

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