„Selbst ein Bebilith kann sich ändern."
Cebulon, Vorsteher von Conclave Fidelis
Dritter Gildentag von Savorus, 126 HR
Morânia betrat das Labyrinth durch die von Nya geöffnete Pforte, die anderen dicht hinter ihr. Der Weg führte sie in einen zu beiden Seiten von hohen, grünen Hecken begrenzten Gang. Die Blätter und Rosenblüten hier glühten in einem glitzernden Funkeln, strahlten geradezu Licht ab, und am Rande des Gehölzes wuchsen große, wunderschöne Blumen im Gras, die selbst Morânia nie zuvor gesehen hatte, obgleich sie das Elysium Heimat nannte. Sie erfüllten das Labyrinth mit einem intensiven, aber angenehmen Duft. Bei jedem Schritt, den sie den lebendigen, grünen Gang entlang taten, begannen der Kelch, das Wasser darin und der Edelstein mehr zu leuchten.
„Es ist wunderschön hier …“, flüsterte Morânia andächtig.
Naghûl seufzte ein wenig. „Wenn es nur kein Labyrinth wäre …“
Die Bal'aasi schmunzelte. Sie wusste, dass ihr Mann weder Rätsel noch Labyrinthe oder Irrgänge mochte. Seine sinnsatische Neugier und Begeisterungsfähigkeit schloss diese beiden Elemente nicht mit ein.
„Ich mag Labyrinthe“, erwiderte Lereia leichthin, offenbar beschwingt ob der wundervollen Umgebung.
Sie folgten dem Gang bis zu dessen Ende, an der Spitze Morânia, Naghûl und Lereia, mittig Sgillin und Jan mit Abaia, der sehr behutsam den schlafenden Fuchs-Ybdiel in dem gläsernen Kasten trug. Ganz hinten ging Kiyoshi, der sich trotz der idyllischen Umgebung stets wachsam umblickte, ganz der Soldat, der eine Nachhut bildete. Am Ende teilte sich der Gang und ohne lang zu überlegen wählte Morânia die linke Abzweigung. Wieder folgten sei eine Weile dem Pfad zwischen den hohen Hecken, über weiches Gras, hin und wieder umflattert von gelben und blauen Schmetterlingen. Dann bog der Weg nach rechts ab und führte sie gleichsam in einen kleinen Raum, natürlich zum Himmel hin offen, wie auch der Rest des Labyrinths, doch ansonsten von den Hecken umgeben wie ein Zimmer von festen Wänden. Hier wuchsen keine Rosen am Gehölz, sondern Hunderte von violetten Hibiskusblüten. In der Mitte der freien Fläche stand ein Brunnen, aus dem ein steinerner Delfin aufstieg. Das Wasser, das aus seinem Maul strömte, fiel sachte plätschernd in das marmorne Becken, das von Löwenpfoten und gefiederten Schwingen getragen wurde. Während die anderen noch verharrten und sich umsahen, ging Sgillin zielstrebig zu dem Brunnen, schöpfte mit der Hand ein wenig Wasser daraus und trank es. Jana hob schon warnend die Hand, doch Morânia bedeutete ihr mit einer Geste, sich zu entspannen. Sie war sich sicher, dass ihnen hier kein Schaden entstehen würde. Sgillin lächelte denn auch erfreut, als er von dem Wasser gekostet hatte.
„Oh, das ist ja was Feines“, stellte er fest. „Erfrischend. Und vor allem … heilend.“ Er sah auf seine Hand. „Hier war gerade noch ein Kratzer. Ich werde mir mal meine Feldflasche auffüllen. Solltet ihr auch tun, Freunde.“
Lereia überlegte nicht lange, sondern ging auf diese Auskunft hin auch zum Brunnen hinüber und füllte eine leere Flasche. Morânia erkannte sie wieder: Es hatte sich ein Heiltrank darin befunden, den Lereia vor einigen Tagen an dem Gasthaus verbraucht hatte, um dem verwundeten Elfen zu helfen. Auch die Bal'aasi selber trat zu dem Brunnen und schöpfte mit den Händen ein wenig Wasser, um es zu trinken. Sofort fühlte sie sich belebt und erfrischt. Naghûl kam herüber, um es ihr gleich zu tun, doch Kiyoshi und Jana blieben in einigen Schritten Entfernung stehen, machten keine Anstalten, von dem Wasser zu trinken.
„Nur keine Angst“, wandte sich Sgillin an Kiyoshi. „Wie Morânia schon sagte: Auf dieser Ebene gibt es nichts Böses.“
Der junge Soldat nickte ernst, näherte sich dem Brunnen aber dennoch nicht weiter. Bei Jana hatte Sgillin wohl beschlossen, es gar nicht erst zu versuchen. Abaia, der der Gruppe zahm, fast schüchtern folgte, stand ebenfalls ein Stück abseits, mit dem verwandelten Deva in den Klauen, den er so behutsam trug wie einen wertvollen Schatz. Sie sahen sich aufmerksam um, doch da in diesem Raum des Labyrinths außer dem heilenden Brunnen nichts weiter zu entdecken war, verließen sie ihn durch die Öffnung in der Heckenwand gegenüber. Wieder führte der Weg sie an eine Gabelung – diesmal ging Morânia nach rechts – und wieder ein Stück geradeaus, knickte dann einmal nach links und einmal nach rechts ab. Dann blieb Lereia plötzlich stehen.
„Hört ihr das?“, fragte sie lächelnd.
Die anderen hielten inne, mussten aber verneinen. Sie besaßen nicht die scharfen Ohren der Wertigerin, selbst Sgillins gutes Gehör stand hier hinter dem seiner Gefährtin zurück. So nickte Morânia der jungen Frau zu, voranzugehen, um den nur für sie vernehmbaren Klängen zu folgen. Lereia führte sie an der nächsten Gabelung nach links, dann wieder einen Gang entlang und schließlich standen sie erneut in einem von Hecken gebildeten Raum. Auch hier wuchsen wieder andere Blumen, diesmal jedoch unzählige weiße Jasminblüten. In der Mitte der freien Grasfläche stand eine bronzene Statue: eine Frau in einem schön verzierten Kleid, die Mandoline spielte und völlig in ihre Musik versunken zu sein schien. Und nun hörten es auch die anderen: Die Klänge, denen Lereia gefolgt war, gingen eindeutig von dieser Statue aus. Langsam versammelten sie sich um die Figur und lauschten der leisen Musik. Es war eine einfache, beruhigende Melodie, die Frieden und Zuversicht in ihre Herzen brachte. Zwar fühlte Morânia sich im Moment ohnehin ruhig und entspannt, doch sie war sicher, dass das Lied auch aufgewühltere Gemüter wie die von Jana oder Abaia zu beruhigen vermochte. Dann erklang plötzlich eine sanfte Stimme hinter ihnen.
„So sehen wir uns wieder.“
Überrascht drehte sie sich um. Sie waren so gefangen gewesen von dem Lied der Statue, dass sie nicht bemerkt hatten, wie Nya wieder hinter ihnen aus einer der Hecken getreten war. Grüßend lächelte die Nymphe ihnen zu.
„Ist das nun die erste Prüfung?“, fragte Jana geradeheraus.
„Nein, noch nicht“, erwiderte die schöne Frau. „Aber ich gebe euch den ersten Rat für euren Weg zu Einklang und Frieden: Der Funke gehört dem Deva. Gebt ihn ihm zurück, ehe er stirbt.“
„Das ist kein Rat“, erwiderte Jana sofort und gestikulierte aufgebracht mit den Händen. „Das ist … eine Aufforderung!“
Doch Nya sagte sonst nichts weiter, sondern verschmolz erneut mit der Hecke. So rasch war sie wieder verschwunden, dass es wirken mochte, als sei sie nur eine geisterhafte Erscheinung gewesen. Während die anderen noch teils überrascht, teils nachdenklich auf die Stelle der Hecke blickten, die sie wieder verschluckt hatte, wirkte Jana aufgebracht und deutete anklagend auf das Gehölz, in das sich die Nymphe zurückgezogen hatte.
„Sie will uns vom Weg abbringen!“, rief sie. „Klang das für euch etwa nicht so, als wolle sie uns dazu bringen, Abaia zu verdammen?“
„Jana, könntest du mal mit diesem Gesülze aufhören?“, erwiderte Naghûl, ungewohnt heftig. „Sie ist keine Göttin! Der Per draußen ist kein Gott. Die Löwen waren keine Götter. Und sie sagte deutlich, sie hätte mehrere Ratschläge für uns. Das war erst einer. Also hör mal mit diesem Misstrauensgefasel auf!“
Die Hexenmeisterin verschränkte missmutig die Arme. „Ich sage nur, dass ich ihr nicht traue. Das ist ja wohl mein gutes Recht, oder nicht?“
„Sag doch gleich, dass du niemandem traust“, entgegnete Naghûl genervt. „Dann sind wir voll im Bilde.“
„Das stimmt nicht“, entgegnete Jana, nun wieder ruhiger. „Bis auf Sgillin traue ich euch.“
„Was?!“ Dem Halbelfen entgleisten kurzzeitig die Gesichtszüge. „Warum gerade ich?“
Wortlos deutete die Hexe auf die Stelle, wo er unter seinem Hemd das Amulett der Anarchisten trug. Morânia seufzte, missgestimmt darüber, dass die einende, beruhigende Wirkung des magischen Liedes durch diesen Disput verflogen war. Sie setzte schon an, etwas zu sagen, da schaltete sich Kiyoshi ein, der bislang seit Betreten des Labyrinths kein Wort gesprochen hatte.
„Darf ich Euch bitten, Euren Streit bis nach der Prüfung zu vertagen?“, meinte er ruhig, aber ernst. „Nur Einigkeit wird uns hier weiterbringen.“
„Das stimmt“, pflichtete Morânia ihm bei. „Wir sollen hier das Gute im Herzen tragen, keinen Zwist. Sonst gehen wir fehl.“
„Ich habe keinen Zwist“, entgegnete Naghûl, der allmählich seine Beherrschung wiederfand. „Ich kann es nur nicht mehr hören, dieses ständige Misstrauen gegenüber guten Wesen.“
Lereia nickte zustimmend zu seinen Worten, und auch Morânia warf Jana einen mahnenden Blick zu. Die Hexenmeisterin wirkte nun auch tatsächlich etwas betreten.
„Entschuldigung“, erwiderte sie seufzend. „Das mit dem Vertrauen … fällt mir nicht immer leicht. Gehen wir einfach weiter und sehen, was passiert.“
Lereia lächelte nun begütigend. „Vielleicht geht der Funke ja am Ende auch wieder auf den Deva über“, meinte sie zuversichtlich. „Wir wissen nicht, was uns hier erwartet. Wir werden es begreifen, wenn es so weit ist.“
Auch Morânia schenkte Jana ein versöhnliches Lächeln. „Genau. Erst einmal müssen wir die Prüfungen finden.“
Nachdem sie den kleinen Disput zu ihrer aller Erleichterung so rasch und unaufgeregt hatten auflösen können, verließen sie den Raum mit der Statue wieder und folgten einem anderen Gang. Nach mehreren Abzweigungen und Gabelungen gelangten sie schließlich an eine, in deren Mitte die große Staue eine geflügelten Löwen stand. Eine Hälfte war schwarz wie Onyx, die gefiederte Schwinge jedoch weiß wie Alabaster. Auf der anderen Seite verhielt es sich genau umgekehrt. Das steinerne Abbild, das so sehr an Lumen und Skía erinnerte, blickte ihnen direkt entgegen, als sie von dem Heckengang aus auf es zuliefen. Doch weder war Musik zu hören, wie bei der Frauenstatue, noch wies irgendetwas anderes darauf hin, dass hier etwas Besonderes zu finden war. Sie blieben stehen und musterten den steinernen Löwen forschend, während Jana sich aus der Gruppe löste und ihn einmal vorsichtig umrundete.
„Glaubt ihr, die Statue hat eine Bedeutung?“, fragte sie die anderen.
„Keine Ahnung“, erwiderte Sgillin grinsend. „Aber ich traue ihr nicht.“
Morânia musste unwillkürlich lachen und Jana streckte dem Halbelfen die Zunge heraus, grinste aber ebenso dabei. Der kurze Moment der Erheiterung tat ihnen allen gut. Denn so wunderschön das Labyrinth auch war, durch die große - und noch immer nicht ganz klare - Aufgabe, die vor ihnen lag, waren sie alle ein wenig angespannt. Naghûl, ganz der Sinnsat, trat nun trotz seiner Abneigung gegen Labyrinthe und Rätsel näher an die Statue heran und fuhr sacht mit der Hand über den glatten Stein, um seine Struktur, seine Temperatur und Beschaffenheit zu erspüren. In diesem Moment schien die Staue für eine Sekunde zum Leben zu erwachen. Sie neigte leicht den Kopf und nickte in Richtung des von der Gruppe aus nach rechts führenden Ganges. Dann erstarrte sie wieder, als wäre nichts geschehen. Sie blickten einander an, verstehend und nicht zu sehr verwundert ob dieses Hinweises von einer steinernen Staue. Sie hatten genug Wundersames und Ungewöhnliches in den Ebenen erlebt, um sich darüber keine Gedanken zu machen. So folgten sie dem rechten Gang, der sie nach einer Weile erneut in einen von Gehölz gebildeten Raum führte. In diesem wuchsen im Überfluss blaue Glyzinien, die sich wie ein Wasserfall aus Blüten über die Hecken ergossen. In der Mitte stand ein Pavillon, errichtet aus hellem Stein und überdacht von einer runden Kuppel, deren Farbe die des Himmels und der Blumen spiegelte. Sie traten näher und musterten das kleine Bauwerk genauer, umrundeten es einmal, um es von allen Seiten betrachten zu können. Dabei stellten sie fest, dass es an zwei Seiten einen, an zwei anderen je zwei bogenförmige Zugänge besaß.
„Es sind sechs Torbögen“, überlegte Lereia. „Wir sind sechs Personen. Vielleicht sollen wir eintreten? Durch jeden Bogen einer?“
Morânia nickte zustimmend. „Einen Versuch wäre es wert.“ Ihr Blick fiel auf ein rundes, im Zentrum des Pavillons ins Gras eingebettete Mosaik. Es zeigte ein Auge, dessen Pupille eine Sonne bildete. „Und Abaia vielleicht in die Mitte hier?“
Sie blickte zu dem Bebilithen, der sich denn auch langsam, fast zögerlich auf den Pavillon zubewegte. Glücklicherweise war er inzwischen deutlich geschrumpft, denn trotzdem konnte er sich nur gerade so durch einen der breiteren Torbögen zwängen. Vorsichtig stellte er den Glaskasten mit dem fuchsgestaltigen Deva in der Mitte des Mosaiks ab und wartete dann. Die Gefährten blickten einander an, atmeten noch einmal tief durch und verteilten sich rund um den Pavillon. Naghûl und Morânia traten auf der einen Seite mit den Doppelbögen ein, Lereia und Sgillin auf der anderen. Kiyoshi und Jana nutzten die etwas breiteren Durchgänge auf den beiden anderen Seiten. Und tatsächlich, sie schienen das Richtige zu tun. Nachdem sie alle gemeinsam und gleichzeitig durch die Bögen getreten waren, verschwamm die Umgebung vor ihren Augen und sie fanden sich in einem kleinen, idyllischen Dorf wieder. Rasch ließ Morânia ihren Blick über die Bewohner und die Häuser schweifen und nickte bei sich. Der Architektur und der Kleidung der Leute nach zu schließen, mochten sie sich in Tir na Og in den Außenländern befinden. Rasch bemerkte sie, dass sie in einer Beobachterrolle waren und weder sprechen noch sich bewegen konnten. Dann begann sich eine Szene vor ihren Augen abzuspielen: Im Türrahmen eines der kleinen Häuser blitzte ein silbernes Licht auf - ein Portal öffnete sich, durch das der Deva Ybdiel trat. Er blickte sich suchend um, war offenbar unsichtbar, denn die Bewohner schienen ihn nicht zu sehen. Bald näherte er sich einer kleinen Holzbühne, die nur aus einigen einfachen Brettern zusammengezimmert war. Dort stand ein junger menschlicher Mann, der eine Laute spielte und dazu sang. Ybdiel blieb an der Bühne stehen und lauschte eine Weile lächelnd der Musik. Dann ging er hinauf, stellte sich neben den Barden, legte ihm eine Hand auf die Schulter und schloss die Augen. Es gab ein kurzes Aufblitzen, auch dieses wohl unsichtbar für alle außer Ybdiel und die heimlichen Beobachter, ein Licht, das vom Deva zum Menschen überging. Der Engel sah nochmals schmerzlich auf den Barden, dann ging er wieder zum Portal, aktivierte es und verschwand. Im Anschluss an diese Szene beschleunigte sich der Ablauf der Zeit. Die Gefährten konnten sehen, wie es sehr schnell Abend wurde und dämmerte ... die Nacht brach herein. Die meisten Einwohner gingen zu Bett, nur der Barde blieb wach und spielte versonnen auf seiner Laute. Er bemerkte nicht, dass etwas sich dem Dorf genähert hatte: eine schöne Frau. Sie blieb bei der Bühne stehen, lauschte der Musik, lächelte den Barden an und begann ein Gespräch. Schon bald schlenderten die beiden Arm in Arm davon. Als sie weggingen, waren die ledrigen Schwingen und Hörner der Frau zu erkennen, die der Barde nicht zu sehen schien. Dann stand wieder Ybdiel vor der Gruppe und blickte sie an, auch jetzt in der humanoiden Gestalt, in der sie ihn zuerst in der Abyss angetroffen hatten. Morânia spürte, dass sie sich wieder bewegen konnte.
„Ybdiel?“, sprach Lereia den Deva an, wohl noch unsicher, ob er sie hören konnte, oder ob dies noch Teil der Vision war. „Was hast du bei dem Barden getan?“
Er wandte ihr seinen Blick zu, ihre Worte offenbar vernehmend. „Ich habe ihm meinen Funken gegeben“, gab er zur Antwort.
„Hat die Sukkubus dich direkt verfolgt?“, fragte Naghûl. „Oder war das ein Zufall?“
„Bis jetzt dachte ich, es war Zufall“, gab der Engel zur Antwort. „Aber ich bin mir nicht mehr sicher … Möglicherweise wollte ich das auch nur glauben.“
Morânia musterte ihn ernst. „Und sie hat den Barden in die Abyss verschleppt und dort wurde er ebenso zufällig von Abaia gefressen?“ Es schmerzte sie, diese direkten Worte finden zu müssen, ihren Zweifel an einem himmlischen Wesen, einem Deva so offen kundzutun. Doch ein solcher Zufall war mehr als unwahrscheinlich und Ybdiel mochte Recht haben: Er hatte sich diese Tatsache wahrscheinlich schöngeredet.
Entsprechend hin- und hergerissen blickte er sie auch an. „Ich musste den Funken aufgeben“, meinte er. „Hatte ich eine Wahl?“ Es schien tatsächlich als eine ehrliche Frage gemeint.
„Verzeiht meine Unwissenheit, ehrwürdiger Kami-sama“, erwiderte Kiyoshi ernst. „Aber hättet Ihr Euren Funken nicht bei einem anderen Kami Eurer Art lassen können?“
„Leider nein.“ Ybdiel schüttelte den Kopf. „Jeder Engel kann nur einen Funken tragen. Ich habe getan, was ich musste … warum fühlt es sich falsch an?“ Der Blick seiner saphirblauen Augen war verwirrt, hilfesuchend.
„Weil Ihr keine Kontrolle mehr darüber habt oder Angst, was nun passieren könnte?“, vermutete Lereia.
Der Deva schien eine Weile darüber nachzudenken, dann schüttelte er abermals den Kopf. „Nein … es ist etwas anderes …“
„Vielleicht, weil Ihr das Geschenk Eurer Göttin weg gegeben habt?“, mutmaßte nun Naghûl.
„Nein, ich musste ihn weggeben“, erklärte Ybdiel. „Ich bin sicher. Meine Göttin sagte mir sogar selbst, dass ich es tun solle.“
„Vielleicht habt Ihr den Falschen als Träger gewählt?“, fragte Lereia vorsichtig.
„Er hatte ein gutes Herz.“ Hier klang die Stimme des Engels fest, überzeugt, unbeirrt, ehe er - wieder zweifelnd - fortfuhr. „Wie und wo habe ich gefehlt, dass es sich so falsch anfühlt?“
Morânia hatte eine Ahnung, warum den Deva ein schlechtes Gewissen plagte, warum er mit seiner Entscheidung haderte. Doch vermutete sie, dass Ybdiel selbst zu dieser Erkenntnis gelangen musste. Sie überlegte kurz, suchte nach den richtigen Worten, um ihn sacht auf die richtige Spur zu lenken. Schließlich formulierte sie es als Frage.
„Wusste der Barde Bescheid?“
Ybdiel schüttelte den Kopf und nun glomm der Funken der Erkenntnis in seinen strahlend blauen Augen auf, vermischt mit Schrecken und Bestürzung.
„Vielleicht hättet Ihr ihn einweihen müssen“, meinte Lereia sanft.
„Ja …“ Der Deva sah sie betroffen an. „Ja, ich hätte es ihm sagen müssen. Und ich hätte ihn schützen müssen. Den Barden und den Funken. Ich hätte beide besser schützen müssen … oder?“
Kiyoshi nickte ernst. „Ja.“
Ybdiels Flügel sanken herab und er senkte den Kopf. „Ich habe gefehlt“, sagte er niedergeschlagen. „Ich hätte den Menschen einweihen müssen. Und ich hätte etwas so Wertvolles wie meinen Funken besser schützen müssen. Ich sehe etwas Wichtiges ein … Auch mächtige Wesen des Guten sind nicht immer unfehlbar.“
Es schnitt Morânia geradezu ins Herz, als sie seinen Schmerz über seinen Fehler erkannte. Ja, die Anforderungen an das Gute waren oft hoch und an jene Wesen, die die Reinheit der Himmel verkörperten, noch um ein Vielfaches höher. Und selbst jene waren nicht dagegen gefeit, fehlzugehen. Doch die Erkenntnis darum war ein fester Anker, der einen Engel zuverlässig davon abhalten konnte zu fallen, und dies wiederum gab ihr Hoffnung.
„Du erkennst die Wahrheit“, stellte Jana fest, auch sie mit einer Mischung aus Betroffenheit und Zuspruch.
Der Deva nickte langsam. „Ja, die Wahrheit …“ Seine Stimme wurde fester. „Das ist die Wahrheit: Ich habe gefehlt.“
Sgillin lächelte ihm aufmunternd zu. „Niemand ist unfehlbar. Schlechtes passiert einfach manchmal.“
Ybdiel nickte ihm dankbar zu, offenbar erleichtert über das Verständnis der Gruppe und die aufbauenden Worte. Dann verschwamm die Welt wieder vor ihren Augen, das Dorf verblasste und sie fanden sich im Labyrinth des Einklangs wieder, alle gemeinsam in der Mitte des Pavillons. Ybdiel war wieder – oder nach wie vor – in der Gestalt eines Schneefuchses und schlummerte tief in der gläsernen Truhe.
Sacht fuhr Morânia mit den Fingerspitzen über die goldenen Leisten des magischen Behältnisses. „Ich denke, das war Ybdiels Prüfung. Er musste die Wahrheit erkennen.“
Sgillin nickte. „Wie war das nochmal? Wahrheit, Zerstörung und Frieden? Das war wohl die Prüfung der Wahrheit.“
Wie als Antwort auf ihre Überlegungen trat nun wieder die Nymphe Nya aus einer der Heckenwände hervor, von den blauen Glyzinien umgeben wie von einem Regen aus Blüten.
„Ihr habt die erste Prüfung bestanden“, erklärte sie. „Und ich habe einen weiteren Rat für euch: Abaia will gut sein. Aber ohne den Funken wird seine Scheusalsnatur wieder die Oberhand gewinnen. Lasst Abaia den Funken.“
Ohne eine Erwiderung abzuwarten, verschmolz sie wieder mit dem Blätterwerk. Naghûl warf Jana einen vielsagenden Blick zu.
„Siehst du, sie will uns nicht gegen Abaia aufbringen. Sie nennt einfach nur verschiedene Möglichkeiten.“
Die Hexenmeisterin hob nur abwehrend die Hände, wirkte aber nun mit diesem zweiten Rat der Nymphe besänftigter und deutlich entspannter als beim Betreten des Labyrinths. Sie verließen den Raum mit dem Pavillon und folgten erneut den lebendigen, grünen Gängen, bogen mal rechts und dann wieder links ab, bis sie erneut an eine Gabelung mit einer Staue kamen. Diesmal jedoch handelte es sich um eine große Hand, deren steinerne Finger hier aus dem Gras ragten und von blühenden Heckenrosen umrankt wurden. Und auch diese Skulptur erwachte bei näherer Betrachtung kurz zum Leben, um ihnen einen Hinweis auf den weiteren Weg zu geben. Der Zeigefinger streckte sich und deutete in Richtung der Abzweigung, die sie wohl nehmen sollten. Tatsächlich führte dieser Gang sie abermals in einen Raum, dessen Wände diesmal üppig von Goldregen bewachsen waren. Ein weiterer Pavillon befand sich in der Mitte, auch dieser mit sechs Torbögen, jedoch mit einem goldenen Kuppeldach. Im Zentrum war ein Mosaik eingelassen, das eine weiße Taube zeigte. Einige wenige Blicke und ein allgemeines Nicken genügten den Gefährten, um sich einig zu sein: Auch dieser Pavillon sollte wohl auf dieselbe Weise betreten werden wie der vorherige. Wieder ließen sie Abaia mit Ybdiel in die Mitte und traten durch die sechs Eingänge. Und tatsächlich verblasste das Labyrinth erneut vor ihren Augen – nur dass sie sich diesmal nicht in einer so angenehmen Umgebung wie dem idyllischen Dort in Tir na Og wiederfanden. Stattdessen standen sie auf einer weiten Ebene voller dunkler Asche, unterbrochen nur von Spalten, in denen glühendes Magma waberte. Eine Horde Manes wurde hier zusammengetrieben, mehrere Vrocks waren offenbar deren Wächter. Die hässlichen, geierartigen Dämonen scheuchten die jämmerlichsten und niedersten der Tanar’Ri unbarmherzig mit Peitschen voran und traten nach ihnen, wenn sie nicht schnell genug vorwärts schlurften. Einer der Vrocks, der sich wohl langweilte, holte schließlich mit seinen langen Klauen aus und schlitzte einen Mane in der Mitte auf. Ein anderer schloss sich an, dann noch einer, und sie lachten krächzend, als sie die Manes einfach so, zum Vergnügen, abschlachteten. Morânia spürte, wie sie erschauderte. Die Abyss war immer geeignet, dass sich ihre Nackenhaare aufstellten und versetzte sie gleichzeitig in eine gereizte Stimmung, ausgelöst dadurch, dass die höllische Ebene ihr Sukkubus-Erbe kitzelte. Ein Seitenblick auf ihre Gefährten verriet ihr, dass das Schauspiel diese nicht weniger anwiderte. Wie sie erwartet hatte, war diesmal nicht Ybdiel, sondern Abaia bei ihnen. Auch der Bebilith hatte seine ganze Aufmerksamkeit auf die Vrocks und Manes gerichtet, doch zu Morânias Beunruhigung schien er den grauenhaften Vorgängen weniger abgeneigt. Gierig rieb er seine Vorderbeine gegeneinander.
„Ja ...“, erklang seine telepathische Stimme in ihren Köpfen. „Töten ... Blut vergießen …“
„Abaia, nein!“, erwiderte Naghûl sogleich energisch. „Das wolltest du nicht mehr!“
„Doch“, entgegnete der Bebilith. „Manes dumm ... Manes töten …“
Jana schüttelte heftig den Kopf. „Nein, nicht! Erinnere dich an das, was du werden willst!“, beschwor sie Abaia eindringlich.
Doch einer der Vrocks wandte sich nun direkt an den Bebilithen und klapperte mit seinen Klauen. „Töte sie!“, forderte er Abaia zischend auf. „Zerfleische sie!“
Morânia spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte, als der Bebilith sich tatsächlich in Bewegung setzte, in Richtung der Manes. Das durfte nicht sein! Der Funke durfte nicht versagen, nun so kurz vor dem Ziel.
„Abaia, nein, sie sind wehrlos“, appellierte sie an ihn. „Wenn du sie tötest, wirst du deinen Frieden niemals finden!“
Abaia blieb stehen, zögerte jedoch. „Aber ... Abaia das immer getan ... befriedigend …“
„Es nicht zu tun, war auch befriedigend“, erwiderte Sgillin ernst. „Erinnere dich an unsere Reise, an unsere Zeit im Elysium.“
„Es sind nur dumme Manes!“, mischte sich nun der Vrock wieder ein. „Hör nicht auf diese Schwächlinge!“
„Der Frieden überwiegt die Lust zu töten“, entgegnete Lereia sanft. „Sei stark, Abaia, und gib diesem Drang nicht nach.“
Der Bebilith schien hin- und hergerissen. „Aber … warum nicht?“
„Es ist falsch“, erklärte Jana, fast unter Tränen der Verzweiflung. „Es ist böse. Du willst nicht mehr böse sein! Wende dich davon ab und bekämpfe diesen Drang in dir. Mach dich frei von diesem Zwang!“
Lereia nickte bekräftigend. „Höre in dich hinein, auf deinen inneren Frieden.“
„Nein“, krächzte der Vrock wütend. „Du bist ein Bebilith. Du willst töten!“
„Du bist mehr als ein Bebilith“, entgegnete Morânia. „Du bist Abaia, ein eigenes Wesen. Du hast die Möglichkeit, selber zu entscheiden. Frei zu entscheiden, was du sein willst.“
Abaia wirkte nach wie vor unentschlossen, sah immer wieder zu den Manes, wurde aber offenbar durch die eindringlichen Worte der Gefährten davon abgehalten, sich blindlings auf sie zu stürzen. Der Vrock trat nun näher zur Gruppe und zischte den Bebilithen wütend an.
„Los jetzt, du Schwächling! Zerfleische sie, du dummes Ding!“
Kiyoshis ganze Körperhaltung war bis aufs Äußerste angespannt, das war Morânia schon von Beginn an aufgefallen, und seine bisher verhärtete Miene zeigte nun einen leisen Anflug von Zorn – quasi ein Gefühlsausbruch für den stets so beherrschten Soldaten.
„Willst du jemandem gehorchen, der dich beleidigt?“, fragte er Abaia ernst. „Der dich entehrt und für dumm und schwach hält?“
Der Bebilith zuckte mit den Mandibeln, offensichtlich innerlich zerrissen. „Manes …“ Erneut rieb er die Klauen gegeneinander.
„Abaia, nein“, beschwor Jana ihn. „Es kostet mehr Kraft, die Manes nicht zu töten.“
„Das stimmt“, kam Naghûl ihr zu Hilfe. „Wähle nicht den einfachen Weg, sei wahrhaftig stark!“
Der Bebilith verharrte nun bewegungslos und schien zu überlegen. Die Gruppe hielt den Atem an, drang aber nicht weiter auf ihn ein, in dem Wissen, dass dies seine Prüfung war, dass er aus sich selbst heraus zu der Einsicht gelangen musste, den Weg des Guten zu wählen. Schließlich, nach qualvoll langen Momenten, wandte sich Abaia von dem Vrock ab.
„Abaia ... will nicht töten ... nicht sinnlos, nicht zum eigenen Vergnügen töten.“
Kiyoshi nickte ernst. „Das ist weise.“
„Abaia, du bist stark und du machst uns stolz“, sagte Jana, nun fast unter Tränen der Rührung. „Du hast vollkommen recht.“
Der Bebilith klackerte leise mit den Mandibeln. „Abaia findet ... Frieden.“
Sacht strich Naghûl ihm über den gepanzerten Kopf. „Frieden, ja den hast du dir verdient.“
Und dann, wie zuvor in dem Dorf, begann die Umgebung wieder zu verblassen, sie ließen dankenswerterweise die höllische Landschaft hinter sich und fanden sich in dem blühenden Heckenlabyrinth wieder. Jana und Naghûl wirkten geradezu verzückt über Abaias Willensstärke und redeten ihm gut zu, und auch Morânia spürte jene angenehme innere Wärme der Hoffnung und Zuversicht, die sie stets durchfloss, wenn es gelang, Böses zum Guten zu wenden. Sie bemerkte jedoch, dass Lereia ein wenig besorgt aussah und trat neben sie.
„Was ist los? Beunruhigt dich etwas?“
„Ybdiels Prüfung war die der Wahrheit und Abaias die des Friedens“, erklärte Lereia. „Bedeutet das, dass unsere Prüfung die der Zerstörung ist? Davor fürchte ich mich etwas.“
Beruhigend legte Morânia ihr eine Hand auf den Arm. „Das verstehe ich. Aber ich denke, wir müssen uns keine Sorgen machen. Dies ist das Elysium, ganz sicher wird nichts uns hier zwingen, etwas Böses zu tun.“
Ehe Lereia etwas erwidern konnte, vernahmen sie ein Rascheln neben sich. Als sie sich der Hecke zuwandten, sahen sie Nya zwischen dem Goldregen hervortreten.
„Ihr habt auch die zweite Prüfung bestanden“, stellte sie lächelnd fest. „So hört den dritten Rat: Ybdiel gab seinen Funken fort. Vielleicht verdient er ihn nicht mehr – zumindest nicht ganz. Teilt den Funken zwischen beiden auf.“
Kaum, dass sie diesen Ratschlag übermittelt hatte, verschmolz sie auch schon wieder mit dem blühenden Gehölz. Während die anderen noch über ihre Worte nachdachten, nickte Jana langsam.
„Aufteilen klingt nicht schlecht, finde ich. Dann können beide weiterleben und Abaia trotzdem gut bleiben.“
„Aber würde sie das nicht beide schwächer machen?“, wandte Lereia zweifelnd ein.
Sgillin nickte. „Gute Frage. Aber wir kennen die beiden anderen Ratschläge ja noch nicht. Lasst uns doch erstmal weitergehen, schauen, was wir noch finden und die letzten beiden Hinweise anhören.“
Dieser Ansatz erschien ihnen allen sinnvoll und so verließen sie den Raum mit dem Pavillon und folgten erneut den immer wieder abknickenden und sich gabelnden Wegen des Labyrinths. Es war schwer zu sagen, wie lange sie dahin wanderten, es mochten Minuten oder auch eine Stunde sein. Doch die Umgebung war so friedlich und schön, dass es sie auch nicht weiter kümmerte, einfach eine Weile durch die grünen Gänge zu streifen. Schließlich erreichten sie wieder einen Raum, in dem diesmal eine Staue stand, die ein aufsteigendes Einhorn darstellte. Rechts und links von der Skulptur befanden sich zwei Podeste aus weißem, silber-geädertem Marmor. Als sie sich der Mitte des Raumes näherten, glühten der Kelch in Morânias Hand und der Edelstein, den Naghûl hielt, plötzlich hell auf. Bei näherer Betrachtung des Einhorns und der Podeste fiel ihnen auf, dass an beiden Sockeln eine Art Nische war, eine kleiner und rund, eine größer und länglich.
Sgillin näherte sich der Skulpturengruppe noch ein Stück. „Ich glaube, wir müssen Kelch und Edelstein dort positionieren.“
„Ja, das könnte sein.“ Morânia nickte. „Eine heilige Aura geht von dort aus.“
Ganz wie ihre Bundphilosophie es wollte, zögerte sie nicht lange, sondern trat an den rechten Sockel heran und stellte fest, dass die Nische darin genau passend war für den Kelch des Friedens. Sie stellte ihn hinein, und Naghûl trat zum linken Podest, in dessen kleinere Öffnung er den Edelstein der Harmonie legte. Als Kelch und Juwel in den Nischen positioniert waren, wurde das Glühen so hell, dass sie kurz den Blick abwenden mussten. Danach strahlten beide in heiligem Licht. Ein Blick zu ihren Gefährten verriet Morânia, dass es sogar für jene spürbar war, die eigentlich keine derartigen Energien wahrnehmen konnten.
„Das nenn ich mal eine Aura“, murmelte Naghûl beeindruckt.
„Wunderschön …“, stellte Lereia mit einem seligen Lächeln fest.
Sie waren noch ganz gefangen von der Ausstrahlung der geweihten Gegenstände, als Nya hinter der Einhornstatue hervorkam und dem Tier eine Hand auf den Hals legte.
„Ihr habt die Regalia des Einklangs vorbereitet“, stellte sie fest. „So hört die beiden letzten Ratschläge. Der vierte: Der Funke darf nicht geteilt werden. Lasst Deva und Bebilith sterben, damit der Funke zu seiner Gottheit zurückkehrt. Sie soll entscheiden, was damit geschieht. Der fünfte: Lasst beide, Ybdiel und Abaia, vergehen, aber nehmt den Funken und lasst etwas Neues daraus erwachsen und entstehen. So nehmt denn die Regalia wieder an euch und begebt euch in die Mitte des Labyrinths für die letzte Prüfung.“
Ohne abzuwarten und ohne der Gruppe die Gelegenheit zu geben, eine Frage zu stellen, verschmolz sie erneut mit der Hecke und war verschwunden. Jana verschränkte sie Arme.
„Ich möchte … energischen Protest dagegen einlegen, den Funken der sogenannten Göttin zu überlassen. Nicht mit mir!“
Morânia spürte zwar eine prompte Verärgerung bei dem Wort sogenannte, doch im Grunde konnte sie Jana nichts vorwerfen. Sie folgte lediglich ihrer Bund-Philosophie, so wie jedes andere Bundmitglied auch. Und obgleich sie selbst keinerlei Misstrauen gegenüber Mishakal hegte, so war der vierte Ratschlag, Deva und Scheusal sterben zu lassen, auch nicht der Weg, den sie gerne einschlagen wollte. Auch die anderen wirkten nachdenklich.
„Verzeiht meine Unwissenheit“, meldete sich Kiyoshi zu Wort. „Aber kann man nicht die Kami darum bitten, einen weiteren Funken zu entsenden? Schließlich hat Ybdiel nur getan, was sie befohlen hat und damit ist es ihre Verantwortung, oder?“
Morânia wiegte zweifelnd den Kopf. „Euer Gedanke ist an sich gut und Eure Frage berechtigt. Aber da wir bis hierher gingen, ohne dass Ybdiels Göttin handelte, befürchte ich, wir müssen es anders lösen.“
„Ich würde es auch nicht den Göttern überlassen“, stellte Sgillin sachlich fest. Auf ein bekräftigendes Nicken von Jana und einen stirnrunzelnden Blick von Morânia und Lereia hin hob er abwehrend die Hände. „Aber ich habe nicht gesagt, dass ich ihnen misstraue.“
„Ich bin auf jeden Fall strikt gegen Ratschlag vier“, schob die Hexenmeisterin noch einmal energisch nach.
„Gehen wir erst einmal bis zur Mitte“, schlug Naghûl vor. „Dann sehen wir, was uns dort erwartet.“
Morânia nickte zustimmend und nahm den mit den Wassern der Ruhe gefüllten Kelch des Friedens vorsichtig wieder aus der Nische, in der sie ihn zuvor abgestellt hatte. Ihr Mann trat zu dem anderen Podest und nahm den Edelstein der Harmonie wieder an sich. Dann gingen sie schweigend weiter, nun doch in einer gewissen Anspannung, da ihre eigene Prüfung so kurz bevorstand. Diesmal mussten sie nicht mehr lange durch das Labyrinth wandern. Schon nach wenigen Gängen erreichten sie abermals einen Raum, dieser jedoch war viel größer als jene, die sie davor betreten hatten. Blühende Kirsch- und Orangenbäume wuchsen hier und im Zentrum befand sich ein steinernes Rund, in dem ein blau-grüner Energiewirbel pulsierte – womöglich das Herz des Labyrinths und die Quelle seiner Macht. Als sie sich der Mitte des Raumes näherten und nur noch wenige Schritte von der glitzernden Energie entfernt waren, sank Abaia plötzlich bewusstlos nieder. Der noch immer schlafende, fuchsgestaltige Deva in der gläsernen Truhe entglitt seinen Klauen, landete aber sanft neben ihm im weichen Gras. Während Jana und Naghûl sogleich an Abaias Seite eilten, öffnete Morânia den Glaskasten und holte Ybdiel vorsichtig heraus. Sie bettete ihn behutsam auf den Rasen, zwischen einige weiße und blaue Wildblumen. Sobald sie die Hände von ihm zurück zog, löste sich der Zauber, den Rhys in Sigil über ihn gelegt hatte, und der Deva kehrte in seine ursprüngliche Gestalt zurück: Nun lag er wieder vor ihnen als attraktiver junger Mann mit alabasterner Haut, schneeweißem Haar und gefiederten Schwingen, gekleidet noch immer in die silbrig-blaue Robe, die er auch bei ihrer ersten Begegnung in der Abyss getragen hatte. Dann gab es ein kurzes Aufleuchten und plötzlich schwebte zwischen Abaia und Ybdiel eine goldene Lichtkugel, die – Morânia war sich sicher – der Funke sein musste. Fäden aus strahlender Energie gingen von der Kugel aus, sowohl zu dem Bebilithen als auch zu dem Engel hin. Dann riss einer der Stränge, der zu Ybdiel führte … Kurz darauf auch einer, der die Kugel mit Abaia verband … und der Funke stieg ein Stück nach oben.
„Nein!“, rief Jana aus, setzte sich neben Abaia ins Gras und begann, seinen Panzer zu streicheln. „Es darf nicht umsonst gewesen sein.“
„Wir schaffen das“, bestärkte Naghûl sie. „Wir schaffen das irgendwie.“
Doch Morânia erkannte, dass sich eine Träne ihren Weg über seine Wange bahnte, als zwei weitere Fäden rissen und der Funke noch ein Stück weiter nach oben stieg. Sgillin und Kiyoshi liefen in Richtung des entfleuchenden Funkens und griffen nach ihm, konnten die reine Energie aber nicht fassen. Morânia fiel währenddessen auf, dass der Edelstein der Harmonie nun in einem unglaublich hellen Licht pulsierte. Auch Naghûl, der ihn hielt, bemerkte es natürlich und er öffnete die Faust, in der sich das Juwel befand. Im selben Moment dehnte sich der Funke, verzerrte sich, schien sich zu dem Edelstein hin zu bewegen.
„Nur das geeignete Gefäß kann den Funken halten …“, murmelte Morânia, sich der Worte des Phönix erinnernd. „Naghûl, der Edelstein! Er kann den Funken vielleicht einfangen!“
Die Miene ihres Mannes hellte sich auf, als er verstand, und sogleich streckte er die Hand mit dem Juwel dem Funken entgegen. Doch nur noch an wenigen Fäden hing die Lichtkugel. Just als Naghûl sich ihr näherte, rissen die letzten und der Funke raste nach oben … Mit einem verzweifelten Ausruf sprang der Tiefling, so hoch er konnte und versuchte, das Licht noch mit dem Stein zu erhaschen. Morânia hielt den Atem an für diese eine schreckliche Sekunde der Unwägbarkeit. Sie breitete die Schwingen aus, bereit sich im Notfall in die Luft zu erheben – aber der Funke war so schnell, dass sie bezweifelte, es rechtzeitig schaffen zu können. Doch tatsächlich gelang es Naghûl gerade noch, den Edelstein nahe genug an den Funken zu bringen. Die Lichtkugel wurde in das Juwel gezogen, das daraufhin nicht mehr ganz so grell, dafür aber mehr golden als rötlich strahlte. Die Bal'aasi gestattete sich ein Aufseufzen der Erleichterung und konnte erkennen, dass auch Lereia neben ihr tief durchatmete und sich wieder entspannte. Mit einem glückseligen und auch etwas stolzen Lächeln umfasste Naghûl den Edelstein schützend mit beiden Händen und presste ihn kurz gegen seine Brust. Dann wandten sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Engel und dem Scheusal zu. Abaia und Ybdiel waren nach wie vor ohne Bewusstsein, aber offensichtlich nicht leblos. Beide zuckten und wanden sich, als hätten sie fürchterliche Träume.
„Sie leiden“, erklang hinter ihnen eine Stimme, die sie inzwischen zweifelsfrei als Nyas erkannten. Die Nymphe war offenbar wieder aus einer der Heckenwände getreten und stand unter einem der blühenden Kirschbäume. „Im Moment sind die Seelen beider zu aufgewühlt, als dass irgendetwas gelingen könnte“, erklärte sie.
„Wie können wir sie beruhigen?“, fragte Sgillin, doch Nya schwieg.
Ihr bedauerndes Lächeln deutete an, dass sie keine weitere Hilfe zur Lösung der Situation geben durfte.
„Der Kelch?“, schlug Lereia vor. „Indem sie beide aus dem Kelch trinken?“
Morânia nickte. „Eine sehr gute Idee. Ich werde es versuchen.“
Sie kniete sich neben Ybdiel ins Gras und versuchte vorsichtig, ihm etwas vom Wasser der Ruhe aus dem heiligen Gefäß einzuflößen. Lereia kam ihr zu Hilfe, indem sie sacht den Kopf des Devas hielt. Tatsächlich gelang es ihnen, das Wasser in Ybdiels leicht geöffneten Mund rinnen zu lassen. Als der Kelch etwa zur Hälfte geleert war, setzte Morânia ihn ab und sah zu Abaia. Sie war ein wenig unschlüssig, wie sie dem spinnenartigen Scheusal das Wasser geben sollte, doch schienen die spitzen Mandibeln am naheliegendsten. Hinter ihnen musste sich ja gewiss eine Art Maul befinden. Es kostete Morânia durchaus Überwindung, wie sie sich eingestehen musste, sich so nah an den Bebilithen zu begeben. Trotz allem, was sie erlebt hatten, trotz ihres brennenden Wunsches, Abaia zu helfen und auch trotz der äußerlichen Veränderung, die ihn nun schon zu einem etwas angenehmeren Anblick machte – trotz all dem spürten der Paladin und der Deva in ihr eine instinktive Wachsamkeit, ja Abneigung gegen das Scheusal, das Abaia nun einmal noch immer war. Naghûl, der sie so gut kannte wie niemand sonst, schien sofort zu begreifen, was in ihr vorging und warf ihr einen fragenden Blick zu. Ganz gewiss hätte sie ihm den Kelch geben können und er hätte sich der Sache angenommen. Doch hatte sie das Gefühl, dies selbst tun zu müssen. Es war immer ihr höchstes Ziel gewesen, das Böse eher zu bekehren oder zu erlösen als zu vernichten. Derartige Gefühle wie gerade eben musste sie überwinden, das war ihr bewusst. So lächelte sie ihrem Mann dankend zu, schüttelte aber sacht den Kopf und näherte sich dann Abaia. Sie führte den Kelch zu seinen Mandibeln, und Jana, die noch immer neben ihm saß, griff ohne zu zögern nach seinen Fängen und zog sie ein wenig auseinander. Sie schien keinerlei Berührungsängste mit dem Scheusal zu haben, und Morânia wusste nicht, ob sie das bewundernswert oder bedenklich finden sollte. Doch es war nicht die Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, und so versuchte sie, das verbliebene Wasser der Ruhe mit ruhiger Hand in die Öffnung zwischen den Mandibeln fließen zu lassen. Tatsächlich schien es zu funktionieren. Das Wasser rann in Abaias Maul, bis der Kelch ganz geleert war und Morânia ihn absetzte. Gespannt beobachteten sie nun den Bebilithen und den Deva. Zu ihrer aller Erleichterung mussten sie nicht lange warten, um eine Wirkung festzustellen: Ybdiel und Abaia wurden fast sofort ruhiger. Nach wenigen Minuten lagen beide friedlich da, doch es war ersichtlich, dass sie extrem schwach waren. Nya war währenddessen ein Stück näher gekommen.
„Nun müsst ihr entscheiden, was ihr mit dem Funken tun wollt“, erklärte sie.
Kiyoshi trat einen Schritt zurück. „Das ist eine Aufgabe für Priester und Gelehrte“, sagte er ernst.
Die anderen blickten einander nachdenklich an, dann ergriff als erste Lereia das Wort.
„Ich stimme für Möglichkeit vier, die Göttin“, meinte sie. „Das würde für die Zerstörung und Opferung der beiden stehen, wobei am Ende trotzdem beide leben werden.“
„Sich opfern beinhaltet aber eine Entscheidung aus freiem Willen“, wandte Naghûl ein. „Wir würden das Opfer einfach bestimmen.“
„Aber so waren doch die Ratschläge, oder?“ Lereia hob etwas hilflos die Hände. „Es wird sich jemand opfern müssen, aber sie werden beim Bestehen der Prüfungen weiterleben.“
Naghûl runzelte unschlüssig die Stirn und sah zu Nya. „Bitte zähle noch einmal alle Möglichkeiten auf.“
Die Nymphe nickte. „Es gibt fünf Wege. Erstens: Gebt den Funken dem Deva. Zweitens: Gebt den Funken dem Bebilith. Drittens: Teilt den Funken zwischen beiden auf. Viertens: Lasst beide sterben, so dass der Funke zu seiner Göttin zurückkehrt. Fünftens: Lasst beide vergehen, aber lasst etwas Neues daraus entstehen.“
Morânia nickte bei sich. Ihre Wahl stand fest, aber sie beschloss, erst einmal die anderen sprechen zu lassen.
„Drei oder fünf“, meinte Naghûl. „Beide oder etwas Neues.“
Sgillin zögerte nicht. „Die letzte Möglichkeit, oder? Das war doch das, was uns alle bisher gesagt haben: die Geburt eines neuen Wesens.“
Lereia hingegen wirkte noch unentschlossen. „Aber wie lassen wir Neues entstehen?“
Kiyoshi hob die Schultern. „Wie ein Schmelzer Zinn und Kupfer vereint, um Bronze zu gewinnen?“, schlug er vor.
Lereia warf Nya einen hilfesuchenden Blick zu, doch die Nymphe hob bedauernd die Hände und bestätigte, was Morânia bereits vermutet hatte: „Das werdet ihr sehen, wenn ihr entscheidet. Ich darf leider nicht mehr sagen. Aber vor allem geht es um eure Entscheidung in der Sache. Ihr kennt die fünf Wege und müsst nun einen gehen.“
Sgillin sah zu den anderen. „Ich bin für die fünfte Möglichkeit.“
„Sie sollen wie ein Phönix auferstehen.“ Naghûl nickte. „Ich schließe mich Sgillin an.“
Lereia überlegte kurz. „Ich hatte mich zwar vorhin für vier ausgesprochen. Aber ich denke, fünf ist die bessere Wahl.“
„Das sehe ich anders.“ Jana erhob sich nun und trat auch zur Gruppe. „Wer weiß, was dann passiert. Auf jeden Fall werden beide nicht mehr so sein wie jetzt. Ich bin für Möglichkeit drei: aufteilen. Geben wir jedem die Hälfte des Funkens, dann können beide so weiter existieren, wie sie jetzt sind.“
„Ich habe Bedenken, dass ein halber Funke nicht ausreicht“, wandte Morânia ein. „Weder für einen Deva noch für ein Scheusal, damit es aufsteigen kann. Daher stimme ich auch für Möglichkeit fünf.“
Nun wandten sich alle Blicke Kiyoshi zu, der sich bisher als einziger noch nicht geäußert hatte.
„Ich bin nur ein einfacher Ashigaru“, wehrte er ab. „Zudem ist die Mehrheit ja ohnehin für fünf.“
„Eure Meinung ist dennoch wichtig“, beharrte Morânia.
Obgleich der junge Mann stets eine so ausdruckslose Miene wahrte, vermeinte die Bal'aasi nun eine leichte Verwunderung ob dieser Aussage in seinem Blick zu erkennen. Doch dann nickte er knapp.
„Ich bin dafür, dass die rechtmäßige Eigentümerin des Funkens selbigen erhalten soll. Die Göttin.“
„Also eine Stimme für Möglichkeit drei, eine für vier und vier Stimmen für fünf“, stellte Lereia fest. „Dann ist es beschlossen?“
Sgillin nickte. „Ja, ich denke, das ist es.“
Kiyoshi nahm dies mit nun wieder vollkommen unbewegtem Gesichtsausdruck zur Kenntnis, es schien ihn nicht besonders zu berühren, überstimmt worden zu sein. Jana hingegen verschränkte mit finsterem Blick die Arme. Sie war von der Entscheidung offenbar nicht begeistert, aber vielleicht froh, dass der Funke zumindest nicht an die Göttin zurückgegeben werden sollte. Nya wandte sich nun an Naghûl.
„Du hältst den Stein“, sagte sie. „Du musst es tun. Entscheide für dich, vor deinem Herzen, und verkünde die Entscheidung. Und es wird geschehen, wie du entscheidest. Konzentriere dich einfach darauf.“
Morânia, noch immer mit dem inzwischen leeren Kelch in den Händen, sah gebannt zu ihrem Mann. Eine solche Erfahrung zu machen war natürlich für ihn, den Sinnsaten, ein geradezu unglaubliches Geschenk. Doch sie sah ihm an, dass es auch eine ziemlich überwältigende Verantwortung war. Er nickte langsam, schien eine Weile nachzudenken und trat dann wieder näher an den Bebilithen und den Deva heran. Er setzte sich zwischen den beiden ins Gras und legte den Edelstein vorsichtig in seinem Schoß ab. Dann nahm er eines der langen Beine von Abaia und hielt es mit seiner rechten Hand. Mit der Linken ergriff er Ybdiels Hand.
„Ich will, dass sie vergehen und so Neues geschaffen werden kann“, erklärte er mit fester Stimme, aber dennoch bahnten sich dabei weitere Tränen der Ergriffenheit ihren Weg über seine Wangen.
Morânia konnte ihn nur allzu gut verstehen, auch sie war zu gleichen Teilen aufgeregt, gerührt und ein wenig ängstlich, dass doch noch etwas etwas schiefgehen konnte. Leise trat sie neben ihren Mann und legte ihm bestärkend die Hand auf die Schulter. Das Juwel in Naghûls Schoß glühte nun hell und heller – es strahlte wie eine kleine Sonne. Dann plötzlich, mit einem klirrenden Geräusch, zerbarst es ... Der Funke trat hervor und schwebte über Naghûl. Mit großen Augen beobachteten die Gefährten, wie er sich teilte und nach beiden Seiten ausströmte. Goldenes Licht wand sich um Abaia wie auch um Ybdiel, und viele helle Fäden verbanden die beiden miteinander. Geistesabwesend ließ Morânia Naghûls Schulter los und beobachtete staunend das Geschehen. Das Licht umgab Deva und Bebilith nun wie ein Kokon. Naghûl schob sich instinktiv mit den Beinen von den beiden weg und löste den Griff um Abaias Bein und Ybdiels Hand. Als er sich entfernte, rutschten Scheusal und Engel aufeinander zu, wie magnetisch voneinander angezogen. Das Licht spann sich um beide, bildete nun ein einziges Gewebe. Dann zerbarst der Lichtkokon, wie zuvor das Juwel, in einem gleißenden Strahlen … Es blendete, und Morânia musste kurz den Blick abwenden. Als sie wieder hinsah, kniete vor ihnen auf dem Boden ein Wesen von bewegender Schönheit, aber dennoch fremd und bizarr. Sie erkannte Ybdiels Merkmale in dem humanoiden Körper und den weißen Schwingen, aber auch Abaias Einfluss: Eine chitinartige Panzerung bedeckte Teile des Körpers und der Schwingen, ein langer, stachelbewehrter Schwanz erhob sich hinter dem Rücken des Mannes, ähnlich wie bei einem Skorpion. Seine Gesichtszüge ähnelten noch denen von Ybdiel, doch sein Haar war nun tiefschwarz. Überrascht und verwundert blickte er ihnen entgegen.
Während die anderen sich nach der einzigartigen Erfahrung und dem bewegenden Schauspiel noch sammelten, war Sgillin wie so oft schneller, seine Gefühle zu sortieren. Er klatschte in die Hände. „Ha!“, rief er erfreut aus. „Na also ... hat sich doch gelohnt.“
Naghûl griff nach Morânias Hand und richtete sich langsam wieder auf. „Bei allen Göttern des Elysiums ...“, flüsterte er ergriffen.
Das neue Wesen, geboren aus Engel und Scheusal, hob die Hände und musterte sie verwundert, drehte sie vor seinen Augen, als sähe es sie zum ersten Mal. „Ich ... wir erinnern uns ...“ Seine Stimme klang tiefer und etwas rauer als es Ybdiels gewesen war.
„Abaia?“, fragte Lereia leise. „Oder ... Ybdiel?“
Der Mann blickte auf und lächelte. "Abaiel ... Ich glaube, das ist unser Name.“
„Abaiel.“ Jana nickte langsam, eine gewisse innere Zerrissenheit war ihr anzusehen.
Morânia spürte, wie nach ihrem Herzen nun auch ihr Verstand endlich begriff, dass es geschafft war. Ein warmes Gefühl der Freude und des Glücks durchfloss sie.
„Ihr habt durch Zerstörung Neues erschaffen“, erklärte Abaiel, langsam und staunend, so als könnte er es selbst noch nicht ganz fassen. „Wir sind Ybdiel, aber wir sind auch Abaia.“ Er sah wieder auf auf die Chitinpanzerung, die seine Hände und Unterarme bedeckte, dann über seine Schulter, sowohl auf die Schwingen als auch auf den in einen Giftstachel mündenden Schweif. „Ich glaube, ich … wir müssen uns noch an uns selbst gewöhnen. Aber ich danke Euch! Ihr habt viel getan, um uns zu helfen.“
Morânia bemerkte, wie er zwischen den Pronomen hin- und herwechselte ohne dass er es überhaupt zu bemerken schien. „Was … fühlt Ihr?“, fragte sie behutsam.
Er dachte eine Weile nach, dann lächelte er. „Wir fühlen … Frieden. Es wird eine Weile dauern, bis wir uns daran gewöhnt haben. Und … meine himmlischen Geschwister werden auch etwas Zeit brauchen, nehme ich an.“
Naghûl nahm Morânias Hand und drückte sie kurz, dann wandte er sich an Abaiel. „Seid Ihr … bist du glücklich?“
„Ja.“ Dieser nickte bekräftigend. „Ja, das bin ich. Wir sind froh, dass ihr den Weg gewählt habt, durch den wir beide auf diese Weise weiter existieren können.“
„Hast du nun das Bewusstsein von beiden?“, fragte Naghûl neugierig. „Die Erinnerungen? Ich kann mir das gerade schwer vorstellen.“
Abaiel schmunzelte. „Es ist … verwirrend, zugegeben. Der Teil von uns, der Ybdiel war, wird Zeit brauchen, mit Abaias Erinnerungen zurecht zu kommen. Und der Teil von uns, der Abaia war, wird sich erst an das Elysium gewöhnen müssen. Aber wir werden es schaffen.“
„Was hast du nun vor?“, wollte Sgillin geradeheraus wissen.
Das neugeborene Wesen wurde nun eine Spur ernster. „Ybdiel war auf einer Mission für seine Göttin gewesen. Wir … ich fühle mich dieser Mission nach wie vor verpflichtet. Es ging um Informationen über mögliche Angriffe der Tanar'Ri auf gute Torstädte. Bitte verzeiht uns, dass wir nicht länger bleiben können, aber ich muss schnell berichten, was Ybdiel herausfand.“
„Das verstehen wir“, erwiderte Morânia. „Passt auf Euch auf. Ich hoffe, wir sehen uns wieder.“
„Dessen bin ich mir sicher“, erwiderte Abaiel.
Dann breitete er die mächtigen Schwingen aus und erhob sich in den Himmel. Sie blickten ihm nach, bis er zwischen den Wolken verschwand, ein jeder wie es seinem Wesen und Gefühlszustand entsprach: Lereia und Morânia tief ergriffen über das Wunder an sich und glücklich über den Triumph des Guten. Naghûl nicht minder glücklich, aber zusätzlich in freudiger Aufregung über diese unglaubliche Erfahrung. Sgillin entspannt und zufrieden, die Sache zu einem guten Abschluss gebracht zu haben. Jana durchaus mit Freude über die Rettung des Devas und die Erlösung des Scheusals, aber auch mit einer Spur Wehmut, dass der ihr ans Herz gewachsene Abaia in dieser Form nicht mehr da war. Kiyoshi mit steinerner Miene wie zumeist – wenngleich selbst ihm anzumerken war, dass das Erlebnis ihn berührt hatte. Als sie ein Rascheln hinter sich hörte, dachte Morânia, es wäre Nya, doch die Nymphe war inzwischen still und ohne Abschiedsgruß verschwunden. Stattdessen traten zwei Personen hinter den Hecken hervor, derer sich die Bal'aasi wohl erinnerte. Es handelte sich um den Paladin und die Lupinal, die sie zu Beginn ihrer Reise im Elysium auf dem Schiff getroffen hatten. Sie hatten sich als Sir Lorias und Lady Elyria vorgestellt, rief Morânia sich in Erinnerung. Auch die anderen erkannten sie wieder und machten erstaunte Gesichter.
„Seid uns gegrüßt“, sprach die Lupinal sie freundlich an. „Bitte verzeiht unseren übereilten Aufbruch damals auf dem Schiff. Aber wir mussten sicher sein.“
Lorias nickte. „Das stimmt. Doch nun ist es gewiss: Die den Deva-Funken in das Labyrinth des Einklangs bringen, dies sind jene, die ihr sucht. So hieß es.“
„Ihr seid also Hüterin und Verkünder?“, fragte Lereia, um die Vermutung zu bestätigen, die sie bereits auf dem Schiff gehabt hatten.
Der Ritter verneigte sich in ihre Richtung. „So ist es, meine Dame.“
„Es wurde gesagt, Ihr hättet das Wissen um die gesamte Prophezeiung“, stellte Morânia fest. „Ist das die Wahrheit?“
„Ja, das stimmt“, bestätigte Elyria. „Und es ist unsere Aufgabe, euch dieses Wissen zu enthüllen. Doch nicht hier und jetzt, sondern in Sigil, in Anwesenheit eurer Bundmeister. Dort werden wir uns wieder treffen. Schon bald.“
Lorias wandte sich nun direkt an Naghûl. „Und du, Sucher, wirst uns finden.“
„Ja ...“ Morânia konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als ihr Mann etwas überfordert die Stirn runzelte. „Wie auch immer ich das machen werde … Aber wenn Ihr es sagt …“
„Eine Frage brennt mir unter den Nägeln“, meldete sich Sgillin nun zu Wort. „Was passiert, wenn ein Erwählter stirbt?“
Lereia lachte ein wenig. „Ich glaube, er will wissen, ob man unentbehrlich ist.“
Elyria wirkte ebenfalls erheitert und schien kurz zu überlegen, ob sie die Frage beantworten sollte oder durfte. Schließlich nickte sie kurz.
„Wenn einer von euch stirbt, dann springt die Gabe auf einen anderen über.“
„Verdammt …“, murmelte der Halbelf.
Lorias lachte herzlich. „Verdammt? Ich bin beruhigt, dass das Multiversum – oder wer immer hier in der Verantwortung steht – das alles etwas fundierter gemacht hat als auf ein paar zerbrechliche Sterbliche wie uns zu setzen, die leicht für immer dahin sein können. Das wäre schon riskant.“
Auch Morânia musste schmunzeln. „Das stimmt. Und ich bin ebenso erleichtert, dass dem nicht so ist, das muss ich zugeben.“
Als Naghûl den Mund zu einer weiteren Frage öffnete, hob Elyria die Hand. „Noch ist es nicht an der Zeit. Trefft uns in Sigil, gemeinsam mit euren Bundmeistern, und wir werden euch alles darlegen. Wir sehen uns in der Stadt der Türen. Auf bald.“
Wie damals auf dem Schiff nahm Elyria nun Lorias Hand und griff nach dem Amulett um ihren Hals. Und wie damals verschwanden sie beide in einem kurzen, blauen Aufblitzen.
„Also schön.“ Naghûl seufzte. „In Sigil dann. Wie immer ich die beiden finden soll ... Und ja, diese Verschwinderei nervt mich noch immer. Aber wegen der Sache mit Abaiel bin ich gerade viel zu glücklich, um mich darüber aufzuregen.“
Morânia lächelte. „Das finde ich gut“, meinte sie und zog ihren Mann in ihre Arme, um ihn ganz fest zu halten und diesen einmaligen Moment mit ihm zu teilen.
Erneut ließen sie ihren Blick zum Horizont schweifen, wo Abaiel zuletzt zwischen den Wolken verschwunden war. In der Ferne zeichneten sich die Orebhügel dunkelgrün gegen den azurfarbenen Himmel ab. Und dann sahen sie es: Es war, als ob ein Flammenstrahl von den Hügeln in die Höhe schoss, bis weit in die Wolken. Dort verwandelte er sich gleichsam in einen feurigen Kometen, einen Flammenball, der sich nun strahlend und leuchtend den Horizont entlang bewegte. Morânia lächelte selig: der aus den Flammen neu geborene Phönix auf seinem ersten Flug.
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gespielt am 18. August 2012







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