„Möge der Lauf des Flusses deine Sorgen hinweg waschen und mögest du Frieden finden.“
Gruß im Elysium
Dritter Gildentag von Savorus, 126 HR
Nachdem sie das Juwel der Harmonie vom Phönix erhalten hatten, stiegen sie die Orebhügel wieder hinab, bis sie erneut am Ufer des Stillen Sees standen. Laut Cebulons Angaben mussten sie sich wieder dem Ornwald zuwenden, um das Labyrinth des Einklangs zu erreichen. Dieser erstreckte sich um den halben See herum, wenn sie also immer spitzewärts am Ufer entlang gingen, so sollten sie früher oder später auf den Wald stoßen. Der Stille See machte seinem Namen alle Ehre. Spiegelglatt lag er da und reflektierte alles, was an seinem Ufer wuchs, wie ein perfekter Spiegel. Die Sonne stand hoch, aber das Wetter war dennoch angenehm warm und lau, nicht zu heiß für einen längeren Fußmarsch. Bald flachten die Orebhügel zu ihrer Linken ab und sie erreichten deren Ausläufer. Der See zu ihrer Rechten zog sich ebenso zurück, und sie kamen an einen lichten Hain. Hier wuchsen Hunderte von Orangenbäumen, wobei gleichzeitig etwa die eine Hälfte Früchte trug und die andere in voller Blüte stand. Unter einem der Bäume graste ruhig ein Pferd mit majestätischen, weißen Schwingen.
Sofort fiel Morânia auf, dass es gesattelt war. „Wir sind offenbar nicht alleine hier“, stellte sie nachdenklich fest.
Lereia nickte. „Es scheint jemandem als Reittier zu dienen.“
Jana pflückte eine Orange, zückte ein langes und dünnes, aber offensichtlich nicht zum Kämpfen gemachtes Messer und schälte die Frucht im Gehen, im Moment offenbar vollkommen gelöst und sorglos.
Doch nach kurzer Zeit hielt Sgillin inne und deutete nach vorn. „Da drüben ist Abaia.“
Tatsächlich konnten sie unter einem der größeren Orangenbäume den Bebilith mit seinem nunmehr bläulich-weißen Chitinpanzer erspähen. Morânia verspürte eine tiefe Erleichterung, dass Abaia sich diesmal offenbar nicht von seiner Scheusalsseite hatte übermannen lassen und sich wie versprochen wieder mit ihnen traf. Im Näherkommen fiel ihr allerdings auf, dass er deutlich kleiner geworden war. Der Bebilith war von der Größe eines Pferdes auf die eines Ponys geschrumpft. Offenbar verursachte der Deva-Funke auch rein körperlich weitere Verwandlungen. Neben Abaia auf dem Boden stand ein gläserner Kasten, die glänzenden Scheiben wurden durch aufwändig verzierte Goldleisten zusammen gehalten. Im Inneren konnte Morânia, auf einem Samtkissen ruhend, einen zusammengerollten Schneefuchs erkennen.
„Er hat Ybdiel mitgebracht.“ Lereias Miene hellte sich auf, als ihr Blick auf das Glasgefäß fiel.
Naghûl nickte anerkennend: „Ich sagte doch, es ist alles in Ordnung.“ Dann wandte er sich an den Bebilithen. „Abaia, geht es dir gut?“
„Ja“, kam sogleich die telepathische Antwort. „Deva hier ... Aber Deva schwach. Abaia Deva in magisches Gefäß gelegt, damit länger überlebt.“
Morânias Blick wanderte zu der gläsernen Truhe, in der weich gebettet der fuchsgestaltige Ybdiel lag. Sie spürte eine von Licht erfüllte klerikal-magische Aura davon ausgehen, es handelte sich also offenbar um ein gesegnetes Artefakt. Woher auch immer der Bebilith den geweihten Gegenstand haben mochte, offenbar war er dazu geeignet, den verzauberten Engel noch für eine Weile zu schützen und am Leben zu erhalten. Sgillins Blick wanderte derweil zu dem geflügelten, weißen Pferd hinüber.
„Weißt du, wem dieser Pegasus gehört?“, erkundigte er sich.
“Per”, erwiderte das Scheusal.
Jana ließ die Orange sinken. „Welchem Per?”
„Per?“ Lereia hob die Brauen. „Sind das nicht die Wächter hier?“
Morânia nickte. „Ja, so ist es. Die Per bewachen alle bekannten Portale der Oberen Ebenen, um sicherzustellen, dass niemand hierher kommt, der Übles im Schilde führt.“
„Ich seh hier aber keinen Per“, stellte Jana fest und biss wieder ein Stück von der Orange ab.
„Per bewacht Labyrinth“, erklärte Abaia.
Bei dieser Bemerkung richtete Sgillin seine Aufmerksamkeit sofort wieder auf den Bebilithen. „Wo ist das Labyrinth?“, fragte er. „Kannst du uns hinführen?“
Es war deutlich zu bemerken, dass der Dämon zögerte und Naghûl hob leicht alarmiert die Brauen.
„Abaia … du hast dem Per doch nichts getan, oder?“
„Nein, Abaia nichts getan“, versicherte das Scheusal. „Aber Per mag Abaia nicht.“
Naghûl nickte mit einem Seufzen. „Das kann ich mir gut vorstellen. Er hat eben noch nicht in Abaias Herz blicken können. Aber wir werden ihn überzeugen.“
„Sind die so einsichtig?“ Sgillin hob eher zweifelnd die Brauen.
„Ich glaube eher nicht“, erwiderte Jana sofort. „Ich finde die etwas unheimlich.“
Morânia beherrschte sich, keinen spitzen Kommentar anzubringen, als Jana einmal mehr ihr Misstrauen gegenüber himmlischen Wesen zum Ausdruck brachte. Während sie sich anfänglich noch so stark für Ybdiel eingesetzt hatte, obwohl dieser einer Gottheit diente, war sie anderen Celesten gegenüber nun ablehnend, ja fast feindselig eingestellt. Woher kam das nur? Das konnte nicht nur an der Philosophie der Athar liegen, der sie neuerdings – bedauerlicherweise – anhing. Die Per waren Geschöpfe der Oberen Ebenen, aber weder waren sie Götter noch standen sie in deren Diensten. Ebenso hatte es sich mit den Wächtern des Ausgleichs verhalten. Ob Jana das nun in ihrer manchmal wirren Art nicht unterscheiden konnte oder ob ihre merkwürdige Abneigung andere Gründe hatte, es ging Morânia gegen den Strich und sie merkte, wie Janas Verhalten sie trotz des besänftigenden Einflusses der Ebene zu reizen begann. Lereia schien ähnlich zu empfinden, erwiderte jedoch diplomatisch:
„Wir werden versuchen, den Per von unserer Sache zu überzeugen. Sehen wir es als eine Herausforderung.“
„Richtig“, pflichtete Morânia ihr bei. „Wir müssen Hoffnung haben.“
„Genau“, schloss Naghûl sich an. „Seid doch mal positiv, Leute.“
Sgillin hob die Schultern. „War ja nur eine Frage, mit dem Per.“
Der kurze Wortwechsel schien leider nicht gerade zu Abaias Beruhigung beigetragen zu haben, doch wandte sich das Scheusal nun der gläsernen Truhe zu und streckte die vorderen Klauen danach aus. „Deva muss ins Labyrinth. Abaia trägt Deva.“
Sgillin musterte den Dämon skeptisch. „Hältst du das für eine gute Idee? Wenn dein anderes Ich wieder durchkommt, könnte das für Ybdiel übel ausgehen.“
„Abaia trägt Deva!“, erfolgte sogleich die energische Antwort und der Bebilith hob den gläsernen Behälter mit dem eingerollten Fuchs sacht in die Höhe.
Abwehrend breitete Sgillin die Hände aus, zum Zeichen, dass er sich nicht einmischen würde, doch Morânia konnte ihm ansehen, dass er nicht begeistert davon war. Sie konnte es ihm nicht verdenken, auch sie hatte eine gewisse Wachsamkeit gegenüber dem gerade aufsteigenden Dämon noch nicht abgelegt. Doch so lange Abaia keine Anzeichen zeigte, dass seine dunkle Seite hervorbrach, hielt sie es für zielführender, ihn kein Misstrauen spüren zu lassen. Das hätte ihn auf seinem Weg zurückwerfen können. Also gingen sie weiter, wobei der Wuchs der Orangenbäume etwas dichter und die Gegend dabei schwerer einsehbar wurde. Sie wussten nicht genau, wo sich das Labyrinth des Einklangs befinden sollte, doch hofften sie auf die Macht des Weges des Reisenden, um letztlich dort anzukommen. Eine Weile zogen sie schweigend dahin, umgeben vom Duft der reifen Orangen, während die weißen Blütenblätter um sie herum wie blumiger Schnee zu Boden wirbelten. Dann plötzlich hielt Lereia inne und hob leicht den Kopf, wie sie es oft tat, wenn sie etwas witterte. Auch in ihrer menschlichen Form waren ihre Sinne dafür scharf genug. Doch dieses Mal schien sie etwas anderes wahrzunehmen.
„Dort vorne bei den Bäumen sind die Wächter des Ausgleichs. Ich kann ihre Signaturen tatsächlich bis hier spüren. Vielleicht, weil sie recht stark sind.“
Jana blieb abrupt stehen. „Ich traue denen nicht.“
„Sie sind Avatare des Neutral Guten“, entgegnete Morânia gereizt. „Ich traue ihnen.“
Sgillin konnte sich ein spöttisches Grinsen in Janas Richtung nicht verkneifen. „Du traust einer klingenbewehrten, halbdämonischen Spinne, aber diesen vieren nicht?“
„Ich weiß nicht“, erwiderte die Hexenmeisterin. „Ich glaube, die wollen Abaia etwas antun.“
„Das glaube ich nicht“, entgegnete Morânia angestrengt. „Sie haben uns mit dem Wasser der Ruhe geholfen und uns Wissen über die Prophezeiung enthüllt. Außerdem war nichts Unreines in ihrer Aura.“
Lereia nickte zustimmend. „Und ich glaube, Abaia interessiert sie gar nicht.“
„Doch, ich glaube schon“, erklärte Jana ohne eine Miene zu verziehen.
„Ich habe da auch keine Bedenken“, ergriff Naghûl Morânias und Lereias Partei.
Jana winkte ab. „Spielt auch keine Rolle. Wir werden es sicher mit eigenen Augen und Ohren ... ähm, erleben.“
„Dass ihr Athar immer so einen Verfolgungswahn haben müsst.“ Morânia seufzte tief. „Obwohl, wenn ich so mit den Göttern verfeindet wäre ...“
Jana stemmte die Hände in die Seiten. „Ich bin nicht ... ich habe keinen Verfolgungswahn! Ich traue denen einfach nicht, und diese Löwen sind grauenhaft!“
„Was?“ Morânia warf Jana einen zutiefst verständnislosen Blick zu. „Die Löwen sind doch wunderschön.“
Auch Lereia hob die Brauen. „Ja, was gibt es gegen die Löwen einzuwenden?“
Die Bal'aasi konnte sich gut vorstellen, dass gerade Lereia, die sich in eine weiße Tigerin verwandelte, an Janas Bemerkung besonderen Anstoß nahm.
Die Hexenmeisterin schauderte demonstrativ. „Ja, wunderschön, und dann reicht ein Haps und du bist entzwei.“
Sgillin grinste breit. „Na ja, jeder bevorzugt was anderes.“ Er deutete auf Abaias zuckende Mandibeln und zischelte Jana zu.
Selbst Naghûl, der lockeren Scherzen für gewöhnlich nicht abgeneigt war, schüttelte nur den Kopf auf Janas Ausführungen hin. „Gehen wir einfach weiter …“
Sie näherten sich der Gruppe von Orangenbäumen, bei denen Lereia die Seelen-Signaturen der Wächter der Ausgleichs erspürt hatte. Sie verdichteten sich zu einem blühenden Hain, der sich aber rasch wieder lichtete und in dessen Mitte die Erwählten nun eine ganze Gruppe von himmlischen Wesen versammelt sahen: Devas, Lillendi mit schillernd geschuppten Schlangenschwänzen und bunten Schwingen, Aasimar-Paladine, geflügelte Tiere, Guardinals, aber auch einfache Bittsteller, wie es schien. In ihrer Mitte stand ein hoch gewachsener Mann in strahlender Rüstung. Sie alle musterten die Ankömmlinge zwar nicht offen feindselig, aber doch skeptisch und wachsam. Vor allem blickten sie streng auf den Bebilithen mit Ybdiel in den Klauen.
Jana verlangsamte ihren Schritt. „Also, ich bleibe mit Abaia etwas zurück.“
In diesem besonderen Fall konnte Morânia die Vorsicht der Hexenmeisterin verstehen. Sie bewegten sich mit einem Scheusal durch das Elysium und mochten den hier versammelten Wesen Rechenschaft ablegen müssen. Die Bal'aasi ging auf die versammelten Himmlischen zu, Naghûl an ihrer Seite, während Sgillin und Lereia ein Stück zurückfielen. Kiyoshi war bei Jana und Abaia geblieben. Vesperis von den Wächtern des Ausgleichs nickte ihnen nun freundlich zu, und Morânia bemerkte wohl, dass die vier Wächter sie als einzige nicht zweifelnd anblickten. Lereia sah zögernd von einem zum anderen und verneigte sich dann tief vor der Menge. Naghûl und Morânia taten es ihr gleich, sogar Sgillin verbeugte sich, während Kiyoshi sogar auf die Knie ging. Sicher sah er die versammelten himmlischen Wesen als Kami an, und in der Tat, Unrecht hatte er damit ja nicht, dachte Morânia bei sich. Nur Jana blieb starr stehen, aufrecht und mit vorgerecktem Kinn.
Nun löste sich eine Frau mit braunem Teint und dunklem Haar aus der Menge, die in weißen Stoff und helles, weiches Leder gekleidet war. An ihrer Seite schritt ein stattliches Einhorn. Morânia lächelte bei ihrem Anblick. Die Frau musste eine Geliebte Valarians sein, Mitglied einer Schwesternschaft, die dem Einhorngott verpflichtet war. Diese Frauen legten ein Gelübde der Keuschheit ab und gingen ein enges, unzertrennliches Band mit einem Einhorn ein, das sie und nur sie allein auf seinem Rücken trug. Es war eine gesegnete Schwesternschaft, die das Gute und die Reinheit der Himmel repräsentierte. Wenige Schritte von der Gruppe entfernt hielt die Geliebte Valarians inne und nickte ihnen ernst zu.
„Ich grüße Euch. Doch muss ich Euch auch ganz direkt fragen: Warum seid Ihr die Begleiter dieses bösen Wesens?“ Sie deutete auf Abaia.
Morânia verneigte sich abermals. „Wir können das erklären“, erwiderte sie ruhig. „Wir begleiten kein böses Wesen. Wir begleiten ein Wesen, welches einst böse war, aber nun gewillt ist, sich zu ändern und aufzusteigen.“
Die Anhängerin des Einhorngottes runzelte skeptisch die Stirn. „Wie könnt Ihr sicher sein? Was, wenn es ein Trick ist, eine Täuschung des Bösen? Wir haben gehört, was das Wesen bei dem Gasthaus nahe Conclave Fidelis getan hat. Wie viele gestorben sind.“
„Das stimmt leider“, antwortete nun Lereia, die nach anfänglichem Zögern an Morânias Seite getreten war. „Und wir bedauern es zutiefst, ebenso wie Abaia selbst. Aber je länger er den Funken trägt, desto mehr verändert er sich. Wir wollen diese Veränderung unterstützen und vor allem auch Ybdiel helfen.“
Die Bal'aasi nickte bei diesen Worten bekräftigend. „Wir können das Böse in diesem Wesen unschädlich machen. Wir könnten es sogar dazu bringen, Gutes zu tun. Und ist es nicht das Elysium, das uns lehrt, Hoffnung zu haben?“
Die Einhornreiterin wirkte nachdenklich und wiegte sacht den Kopf. „Es ist etwas Wahres an Euren Worten. Aber auch die Gefahr ist groß ...“
„Nur, wenn wir uns der Gefahr stellen, können wir auch einen großen Triumph davontragen“, erwiderte Naghûl mit fester Stimme.
Die Geliebte von Valarian wechselte einen kurzen Blick mit ihrem Einhorn, dann nickte sie. „Nun gut, ich bringe Euch zu Dargus. Er soll entscheiden.“
Sie gab ihnen ein Zeichen, ihr zu folgen, und die Menge der celestischen Wesen teilte sich, viele Dutzend Paladine und Aasimar, Devas und Guardinals machten ihnen Platz. Obgleich zu gleichen Teilen im Elysium wie in Sigil aufgewachsen, spürte Morânia, wie die reine Anwesenheit all der himmlischen Wesen sie tief berührte. Eine weihevolle, ja geheiligte Stimmung lag über dem Hain von blühenden Orangenbäumen, und sie alle schritten still und ehrfurchtsvoll an den Versammelten vorüber. Sogar Sgillin wirkte angenehm berührt, allein Jana ging etwas angespannt, jedoch entschlossen hinterher, mit durchgedrücktem Rücken und immer dicht bei Abaia. Der Bebilith wirkte eingeschüchtert und versuchte offenbar, sich noch kleiner zu machen, als er es inzwischen ohnehin war. Aurora machte eine segnende Geste in Richtung der Gruppe, als sie an ihr vorüber gingen. Die Geliebte von Valarian trat nun auf den gerüsteten Mann in der Mitte der Runde zu und sagte leise etwas zu ihm. Es musste sich um den von ihr erwähnten Dargus handeln, und das Aussehen seiner Rüstung und seines Helmes sprachen dafür, dass er der Per war, der das Labyrinth bewachte. Er nickte und ging dann ein paar Schritte auf die Gruppe zu, die er streng musterte.
„Offenbar wollt ihr nicht angreifen“, stellte er schließlich fest.
„Niemals, Herr“, entgegnete Lereia respektvoll.
Sgillin hingegen runzelte fragend die Stirn. „Warum sollten wir das tun?“
Dargus deutete auf Abaia. „Immerhin schützt ihr ein Scheusal.“
„Wir helfen ihm“, erklärte Lereia rasch, doch der Blick des Per verfinsterte sich daraufhin noch mehr.
„Ja, eben.“
„Nicht nur ein Scheusal, Herr“, erwiderte Morânia nun höflich, doch mit einem gewissen Nachdruck. Sie wusste, dass die Per Wächter des Guten waren und hoffte, diesen von der Lauterkeit ihres Ansinnens überzeugen zu können, wenn sie es nur offen und ehrlich darlegten.
„Sprich, Kind des Morgenfürsten“, forderte Dargus sie denn auch auf.
„Wir beschützen ein Scheusal, das gewillt ist, aufzusteigen“, erklärte die Bal'aasi, „Aber wir schützen ebenso den Funken in ihm, der dem Deva Ybdiel gehört. Somit schützen wir auch den Engel.“
Dargus Miene blieb streng. „Jedoch trägt der Bebilith etwas Kostbares, das ihm nicht gehört.“
„Ja.“ Morânia nickte. „Doch dieser Schatz offenbart ihm die Möglichkeit, eine andere Existenz zu wählen. Er will dies tun und auch Ybdiel helfen. Nehmen wir lediglich dem Bösen ein Wesen oder bekehren wir ein böses Wesen und retten zugleich den Deva? Wir denken, dass dem Guten der zweite Weg am meisten dienlich ist.“
„Könnt ihr das denn?“, fragte der Per ernst. „Sie beide retten? Ich sehe wohl, ihr glaubt an eure Sache. Doch ich bin nicht sicher, ob ihr dem richtigen Pfad folgt.“
Nun löste sich eine Frau aus der Menge, derer Morânia sich gut erinnerte: Es war Kria, die Fischerin, die sie gemeinsam mit ihrem Mann ganz zu Beginn ihrer Reise ins Elysium getroffen hatten. Ihr langes, rotes Haar wehte offen im Wind und unter ihrem grünen Kleid wölbte sich deutlich der Bauch, in dem ihr und Romars gemeinsames Kind heranwuchs. Sie lächelte den Gefährten zu, dann ging sie zu Dargus, verneigte sich und sprach leise mit ihm. Der Per hörte ihr aufmerksam zu, als sie auf Abaia deutete, mehrmals nickte, dann auf sich und ihren nahestehenden Mann Romar wies und schließlich wieder in die Reihen der Himmlischen zurück trat. Dargus sah wieder zu den Gefährten, seufzte etwas und nahm dann den Helm ab.
„Seid ihr euch eurer Sache wirklich sicher?“
Überraschenderweise war es der sonst so stille Kiyoshi, der nun einen Schritt vortrat und das Wort ergriff. „Ich kenne die Oni, besser als mancher hier“, erklärte er und deutete auf Abaia. „Dieses Wesen war einst ein Oni. Nun ist es etwas anderes. Was es sein mag, vermag ich nicht zu wissen, doch hängt es von Eurer Entscheidung ab, ob Ihr einen Verbündeten gewinnen könnt oder einen verliert. Ob dieses Wesen hier bereits gut ist, kann ich nicht sagen. Doch ich glaube, es ist wahrhaftig.“
Dargus nickte zufrieden. „Du sprichst mit Bedacht“, stellte er fest, dann sah er zu Abaia. „Und was sagst du selbst?“
„Abaia will Deva helfen“, erklang die telepathische Stimme des Bebilithen, „Will anders sein … behalten, was Abaia hat … Frieden finden.“
Der Per musterte das Scheusal eingehend, schien nochmals nachzudenken und sah dann von einem zum anderen. „Ihr glaubt an das, was ihr sagt. Ihr steht hinter euren Handlungen und steht ein für das, was ihr glaubt und wollt. Das respektiere ich.“ Dann, zum ersten Mal seit Beginn des Gesprächs, lächelte er und machte eine Geste in die Runde der himmlischen Wesen. „Wer wären wir, wenn wir dem Guten nicht seine Chance geben würden? Ihr dürft das Labyrinth betreten. Wir werden hier bleiben und wachen. Wir werden wissen, was drinnen geschieht.“
Morânia spürte, wie eine tiefe Erleichterung sie durchströmte. Zwar war ein Teil von ihr sicher gewesen, dass himmlische Wesen des Guten, Einwohner des Elysium, niemandem seine Chance auf Rettung versagen würden. Doch ein Rest an Anspannung und Aufregung war dennoch geblieben.
Auch Naghûl atmete befreit aus. „Wir danken Euch“, sagte er zu Dargus. „Von ganzem Herzen.“
Lereia legte die rechte Hand an die Brust und knickste leicht, und Morânia verneigte sich dankend. Selbst Jana lächelte nun und hatte sich sichtlich entspannt. Die Bal'aasi warf noch einen kurzen Blick zu den Wächtern des Ausgleichs. Aurora und Vesperis lächelten ihnen warm zu, während die beiden Löwen, Lumen und Skía, hoheitsvoll den Kopf neigten. Die hinter Dargus Versammelten traten nun auseinander und gaben den Blick auf den Eingang zum Labyrinth frei: Die blühenden Orangenbäume bildeten einen Durchgang zu einer großen Lichtung, auf der sich hohe Mauern aus grünen Hecken erhoben. Dargus nickte der Gruppe auffordernd zu und wies auf den Eingang. Als sie sich der Lichtung näherten, warf Morânia Kria und Romar noch einen dankbaren Blick zu. Die beiden lächelten und winkten, als sie unter den Bäumen hindurch traten und sich der grünen Heckenwand näherten. Endlich waren sie am Ziel dieser Reise: am Labyrinth des Einklangs. Ein silbriges Licht lag über dem Ort, ein kristallenes Glitzern überall in der Luft verlieh der Lichtung eine magische Aura. Wenige Schritte von der Hecke entfernt blieben die Gefährten stehen. Das saftig grüne Gehölz war an die fünf Schritt hoch, mit Tausenden von Rosen besetzt – und schien absolut undurchdringlich zu sein. Wo aber mochte sich der Eingang befinden? Nirgends war ein Tor oder Durchgang zu erkennen, nur die dichte Hecke, die sich viele Schritt weit nach rechts und links erstreckte. Doch dann sahen sie, wie sich ganz in ihrer Nähe die Blätter des Gehölzes bewegten. Ein Gleißen und Funkeln blitzte zwischen Ästen und Blüten auf, und eine Frau von atemberaubender Schönheit trat hervor. Zahlreiche Blumen waren in ihr grünes Haar geflochten, und ihre knappe Kleidung schien aus lebenden Blättern, Ranken und Blüten zu bestehen. Es musste sich um eine Nymphe handeln.
„Willkommen im Labyrinth des Einklangs“, grüßte sie die Gruppe, und ihre Stimme klang wie eine süße Melodie. „Ich bin Nya, die Wächterin der Pforte.“
Lächelnd neigte Morânia den Kopf zum Gruß. Sie spürte geradezu, wie die Männer der Gruppe das Feenwesen anstarrten, und sie konnte es ihnen nicht verdenken. Nymphen waren Inbegriff und Verkörperung weiblicher Schönheit.
„Das geht ja schonmal gut los“, stellte Sgillin leise fest.
Doch auch die Frauen, sie selbst eingeschlossen, musterten Nya fasziniert, Lereia lächelnd, aber eher diskret, während Jana sie interessiert und ziemlich unverhohlen anstarrte.
„Ihr tragt die Regalia des Einklangs bei euch“, stellte die Nymphe fest. „Seid ihr also hier, um dem Pfad des Friedens zu folgen?“
Lereia nickte. „Ja, das sind wir.“
Nya deutete auf den Kelch, den Morânia nach wie vor in den Händen hielt. „Ein Kelch für den Frieden der Seele und Wasser für die Ruhe des Geistes.“ Dann sah sie zu Naghûl. „Und ein Gefäß, zu halten, was nicht gehalten werden kann.“
Naghûl nickte sacht und öffnete seine Faust, um den Edelstein der Harmonie zu zeigen, den der Phönix ihnen überlassen hatte.
Die Nymphe lächelte. „Sehr gut. Tragt Güte im Herzen und ihr werdet den Weg finden. Natürlich müsst ihr dennoch die drei Prüfungen bestehen.“
„Könnt Ihr uns etwas darüber sagen?“, fragte Sgillin ohne den Blick von ihr zu lassen.
„Ja, ich werde ein paar Ratschläge für euch haben“, erwiderte Nya. „Wir sehen uns im Labyrinth.“
„Das hoffe ich sehr“, entgegnete der Halbelf lächelnd.
Ein wissendes Schmunzeln umspielte die Lippen der Nymphe, dann trat sie nahe an die Hecke heran, die sich öffnete und die Zweige nach ihr ausstreckte, als wolle sie sie umarmen. Innerhalb weniger Augenblicke war sie mit dem Blätterwerk verschmolzen. Kurz darauf bewegten sich die Äste erneut und das Gehölz teilte sich direkt vor der Gruppe, bildete einen runden Torbogen.
Jana ließ ein leichtes Seufzen hören. „Was passiert, wenn wir nicht bestehen?“
„Laut der Botin wird es uns nicht das Leben kosten“, erinnerte Lereia sich. „Aber wahrscheinlich werden wir dann nicht unser Ziel erreichen.“
Die Hexenmeisterin nickte und straffte die Schultern. „Na, dann los ... gehen wir rein.“
Sie marschierte entschlossen zum Eingang, hielt bei dem Torbogen dann aber doch noch an und ließ Morânia vorgehen.
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gespielt am 18. August 2012








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