„Hilf anderen ohne Bezahlung oder Dankbarkeit zu erwarten.
Behandle jeden so, wie du selbst behandelt werden möchtest. Verzeihe Fehltritte und Missetaten.“
Philosophie des Elysium
Dritter Markttag von Savorus, 126 HR
Das Conclave Fidelis war zwar ein herausragendes Beispiel für die Amorianische Architektur des Elysiums und hatte mit den Fresken und Mosaiken einige bemerkenswerte Kunstwerke zu bieten, die Einrichtung jedoch war eher schlicht gehalten. Zwar folgte die Klostergemeinschaft nicht einem strengen Ideal der Armut, wie es manche Klöster taten, doch auf Luxus und Gepränge wurde bewusst verzichtet. So waren auch die Zimmer, die ihnen Cebulon zur Verfügung gestellt hatte, zwar bequem und geräumig, jedoch nicht übertrieben prunkvoll. Als sie sich zum Schlafen niederlegte, wurde Morânia bewusst, wie nötig sie die Ruhe hatte. Seit ihrem versehentlichen Ausflug nach Ferrug waren mehr als vierundzwanzig Stunden vergangen. In all der Aufregung bei der Jagd auf den Bebilithen hatten sie sich keine längere Rast gönnen können oder wollen. Kiyoshi hatte durch seinen Drachenblut-Schub und Lereia und Sgillin durch das Lied der Delphonen einige Stunden Schlaf bekommen, doch sie selber, Naghûl und Jana hatten nur auf der Fahrt auf dem Oceanus ein kurzes Nickerchen gemacht. Ansonsten waren sie die ganze Zeit über wach gewesen, waren viel gewandert, hatten gekämpft, dazu die Anspannung in der Abyss, die Aufregung im Großen Gymnasium, der Tod von Jalkim und den Leuten im Gasthaus … all das hatte Spuren hinterlassen und es war höchste Zeit für eine Ruhepause gewesen. Am nächsten Morgen brachte eine junge Frau ihr und Naghûl zum Frühstück ein Tablett mit süßem Mandelbrot, frischen Früchten, Milch, Kaffee und Tee in das Zimmer. Sie aßen, wuschen sich und trafen sich dann mit den anderen vor dem Eingang des Klosters, wo Lady Galdras, die Torwächterin des Vortages, auch den Bebilithen Abaia hingebracht hatte. Als sie sich wieder entfernte, erzählte Naghûl, was er am Abend zuvor bereits Morânia unter vier Augen mitgeteilt hatte: Er hatte wieder eines seiner geheimnisvollen Zeichen gesehen. Es handelte sich um ein V oder vielleicht auch die olympische Ziffer fünf, die er direkt über Cebulons Thron erblickt hatte. Leider konnten sie sich auch dieses Mal keinen Reim darauf machen, was das zu bedeuten haben mochte. So notierte Lereia es, wie alle wichtigen Informationen, in ihrem Notizbuch, und sie beschlossen, sich fürs erste der direkt vor ihnen liegenden Aufgabe zuzuwenden: der Suche nach den Regalia des Einklangs.
Morânia hatte den Kelch des Friedens sorgfältig in ihrem Rucksack verstaut und sah in die Runde „Sind wir soweit?“
Kiyoshi nahm zur Antwort seine Naginata vom Rücken und schulterte diese mit ernstem Gesicht.
Sgillin nickte nur knapp. „Ja.“
Jana hielt sich die ganze Zeit über in der Nähe des Bebilithen und versuchte, ab und an mit dessen Fühlern und Vorderbeinen zu spielen. Morânia konnte den Eindruck nicht loswerden, dass sie dabei eine bedenklich sorglose Arglosigkeit an den Tag legte.
Auch Lereia sah etwas unruhig zu Jana, nickte dann aber und wandte sich an Morânia. „Kennst du dich in diesen Gegenden aus?“
„Leider nicht wirklich“, erwiderte die Bal'aasi. „Cebulon sagte, wir müssen zum Stillen See. Der Weg wird uns durch den Ornwald führen, den man dort hinten bereits erkennen kann.“ Sie deutete auf die satt-grünen Baumkronen, die sich in einigen Meilen Entfernung bereits am Rand der Orebhügel abzeichneten.
„Also gut. Je schneller desto besser.“ Sgillin nickte und hielt einigen Abstand zu Abaia, während Kiyoshi bewusst in dessen Nähe blieb.
Ihr Weg führte sie nun erneut durch die liebliche elysische Landschaft, und nach etwa ein bis zwei Stunden erreichten sie den Ornwald. Es handelte sich um einen lichten, friedlichen Mischwald, erfüllt von Vogelgezwitscher und goldenem Licht, in dem sie immer wieder himmlische Tiere erspähten, größer und schöner als ihre materiellen Verwandten. Auch waren sie nach wie vor erfüllt von der Ruhe und dem Frieden, die sie spürten, seit sie sich im Elysium aufhielten. Der Bebilith folgt ihnen ruhig und unauffällig, machte keine Anstalten, sich aggressiv zu benehmen. Ab und an blieb er kurz stehen und schien zu überlegen, doch schnell schloss er immer wieder zur Gruppe auf. Kiyoshi und Jana wichen ihm nicht von der Seite, wenngleich gewiss aus deutlich unterschiedlichen Gründen. Jana lächelte dabei verträumt und ließ sich von jedem Schmetterling vom Weg entführen. Auch Sgillin und Lereia schienen sich bei der Wanderung durch den freundlichen Wald wieder zu entspannen, und Naghûl begann irgendwann, arboreanische Kinderlieder zu singen, wobei er immer wieder begeistert zu Abaia blickte. Etwa eine weitere Stunde später trafen sie auf einen Aasimar-Händler, dem die Achse seines Wagens gebrochen war. Er erschrak natürlich vor Abaia, ließ sich aber überzeugen, dass der Bebilith keine Gefahr darstellte. Dass sich dieser nach wie vor vollkommen friedlich verhielt, half dabei natürlich ebenso wie die rein äußerliche Veränderung, die mit Abaia vor sich gegangen war. Das Scheusal half sogar bei der Reparatur des Wagens, indem es gemeinsam mit Morânia den schweren Karren anhob, damit die anderen bequem das Rad wechseln konnten. Der Bebilith hätte es natürlich ohne Weiteres alleine geschafft, aber Morânia traute seiner Wandlung noch nicht bis ins Letzte und hatte Bedenken, er könnte plötzlich loslassen. Kiyoshi und Naghûl hielten das Rad, um es dann auf die erneuerte Achse zu schieben, während Sgillin dem Händler die Werkzeuge zureichte. Lereia beruhigte unterdessen den Ochsen, den Abaia nervös machte, indem sie ihm in Tiersprache gut zuredete, und Jana lobte Abaia. Generell schien die Hexenmeisterin im Moment nur noch Augen für den Bebilithen zu haben und ging mit ihm um wie mit einem niedlichen Hündchen. Abaia wiederum schien freudig aufgeregt und irgendwie stolz zu sein, dass er helfen konnte und durfte. Nach der erfolgreichen Instandsetzung des Wagens verabschiedeten sie sich von dem Händler und setzten ihre Wanderung fort. Naghûl sammelte nebenbei ein paar Schümlinge, während Kiyoshi sich weiterhin wachsam in Abaias Nähe hielt. Dann lichteten sich die Bäume und gaben den Blick auf einen See mit türkis-blauem Wasser frei, an dessen Ufer Wildblumen und duftende Kräuter wuchsen.
„Ist das der Stille See?“ Lereia deutete auf das Gewässer.
Morânia nickte. „Ich denke ja.“
Sie sah dabei ein wenig beunruhigt zu Abaia. Denn während der Bebilith die ganze Zeit über friedlich, ja hilfsbereit gewesen war, hatte er in den letzten Minuten einen eher nervösen Eindruck gemacht. Dann blieb er plötzlich stehen, klackerte aufgeregt mit den Kiefern und stieß ein aggressives Zischen aus.
„Pssst“, machte Jana mahnend. „Ganz ruhig. Wir beide bleiben hier hinten und lassen die anderen vorgehen, ja?“
Kiyoshi umgriff seine Naginata mit beiden Händen, dann hörten sie wieder die telepathische Stimme in ihren Köpfen, diesmal aber nicht friedlich, sondern boshaft und hasserfüllt.
„Zerstören ... töten … Unschuldiges beflecken … Schönheit zunichte machen …“
Und im selben Moment stürzte der Bebilith auf eine besonders schöne Stelle am Ufer zu und zerwühlte sie fanatisch mit seinen Klauen. Das Gras und die Blumen flogen nach allen Seiten, ebenso die blutigen, zerfetzten Körper eines Eichhörnchens und einer Haselmaus, die nicht mehr rechtzeitig hatten fliehen können. Ein heißer Schreck durchzuckte Morânia. Da war es – das was sie befürchtet hatte, was auch Sgillin, Lereia und Kiyoshi hatte wachsam bleiben lassen, wovor Cebulon sie tags zuvor gewarnt hatte: die dämonische Seite von Abaia brach wieder durch – plötzlich, hässlich und unbarmherzig. Die Bal’aasi zog ihr Schwert, zögerte aber noch, den Bebilithen anzugreifen. Irgendwo in ihrem Inneren pochte die leise Hoffnung, er könnte sich beruhigen und dem Deva-Funken wieder die Oberhand überlassen. Sgillin hingegen hielt sich nicht zurück. Blitzschnell hatte er einen Pfeil auf die Sehne gelegt und auf Abaia abgeschossen. Zielsicher fand dieser seinen Weg in eines der Beingelenke des Scheusals. Auch Kiyoshi hatte die Naginata erhoben und lief zum Ufer des Sees, um auf den Bebilithen einzudringen.
„Nein, nicht!“ rief Jana verzweifelt. „Lasst sie, sie beruhigt sich gleich wieder!“
Doch diesen Eindruck erweckte der Dämon nicht. Stattdessen zerwühlte er weiterhin den schönen Uferbereich und wandte sich dann dem nächsten Baum zu, um mit den Klauen dessen Rinde abzufetzen. Erst als Sgillins zweiter Pfeil ihn traf und Kiyoshi ihn schon fast erreicht hatte, wendete Abaia sich der Gruppe zu, hob drohend die Vorderbeine und zischte gefährlich. Auch Morânia war inzwischen zum Ufer gerannt, in der Befürchtung, dass ihre Hoffnung sich nicht bewahrheiten mochte. Lereia wartete noch ab, doch waren ihre Augen bereits türkis verfärbt und die Pupillen zu schmalen Schlitzen geworden. Auch Naghûl zögerte, offenbar unschlüssig, ob er einen Geschosshagel abschicken sollte oder ob es noch einen anderen Weg gab. Jana hingegen zauderte nicht – sie stürzte nach vorne, stellte sich zwischen Kiyoshi und das Scheusal.
„Nicht!“, rief sie erneut. „Tut ihr nicht weh! Sie kann nichts dafür!“
Tatsächlich machte Abaia trotz der Drohgebärde im Moment keine Anstalten, jemanden zu attackieren, weder Kiyoshi noch die direkt vor ihm stehende Jana. Dennoch schienen die Gesichtszüge des jungen Soldaten sich noch mehr zu versteinern als sie es ohnehin meist waren.
„Tretet unverzüglich beiseite, werte Jana-san“, forderte er die Hexe streng auf. „Dieser Oni ist ganz offensichtlich eine Gefahr.“
Nun hatte auch Morânia die Gruppe erreicht und musterte das Scheusal wachsam. Abaia zögerte nach wie vor, hatte zwar noch immer die Klauen drohend erhoben, schien aber irgendwie mit sich zu ringen. Doch als Kiyoshi versuchte, um Jana herumzugehen, stieß der Bebilith erneut ein warnendes Zischen aus und klackerte mit den Kieferzangen. Die Bal’aasi überlegte fieberhaft, wie sie die Situation am besten entschärfen konnte, ohne der Gefahr gegenüber blind zu sein. Da hörte sie hinter sich Naghûls Stimme.
„Leise, leise, fromme Weise, schwing dich auf zum Sternenkreise.“ Ihr Mann sang mit lauter und klarer Stimme das bekannte Arcadische Kinderlied. „Lied, erschalle! Feiernd walle mein Gebet zur Himmelshalle.“
Sgillin hatte den Bogen weiterhin schussbereit, schickte aber keinen Pfeil mehr ab und auch Kiyoshi hielt inne. Der Bebilith wurde tatsächlich ruhiger bei Naghûls Gesang, sackte schließlich nieder und kauerte sich zusammen.
„Zu euch wende ich die Hände, Mächte ohne Anfang und Ende“, setzte Naghûl das Lied mit ruhiger Stimme fort. „Vor Gefahren uns zu wahren, sendet eure Engelsscharen.“ 1)
Es wirkte tatsächlich. Abaia zischte nun nur noch ganz sacht und Jana ging langsam und mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. „Pssst“, machte sie leise. „Es ist ja gut.“
Kiyoshi blieb dicht hinter der Hexenmeisterin, offenbar bereit, sie im Notfall schnell wegzuziehen.
Sgillin hingegen warf Jana einen entgeisterten Blick zu. „Bist du des Wahnsinns fette Beute? Geh weg von ihm!“
Jana reagierte nicht darauf, sondern war ganz und gar auf Abaia konzentriert. Obwohl der Bebilith nun ruhiger und friedlicher, ja geradezu zahm wirkte, traute Morânia dem Frieden noch nicht ganz und behielt vorsichtshalber noch das Schwert in der Hand.
„Das ... war böse?“, erklang nun telepathisch die Stimme des Bebilithen, jetzt wieder deutlich sanfter. „Warum ist es so ... in Abaia? Erklärt den Schmerz ... dort drinnen.“
Als Verhalten wie auch Stimme des Scheusals wieder friedlicher wurden, entspannte sich Lereia sichtlich, ihre Fingernägel bildeten sich zurück und die geschlitzten Pupillen wurden wieder rund. „Wir wollen ihm helfen und müssen Geduld haben“, meinte sie. „Aber Sgillin hat Recht, wir sollten dennoch immer vorsichtig bleiben und auf der Hut sein.“
Jana kniete sich hin und atmete einmal tief und vernehmlich aus, dann versuchte sie, Abaia zwischen den Augen zu streicheln und redete besänftigend auf ihn ein. „Es ist ja gut. Es ist alles wieder gut, du hast niemanden verletzt. Der Schmerz ist ... alt, Abaia.“
Morânia beobachtete Jana wachsam, während Sgillin den Bogen weiterhin mit gespannter Sehne auf Abaia gerichtet hielt. Auch Kiyoshi hatte weiterhin seine Naginata erhoben.
„Erklärt ... Kummer“, bat der Bebilith. „Schuld?“
„Willst du sagen, du fühlst dich schuldig?“, fragte Jana. „Wegen dem, was du ... wegen dem, was die alte Abaia getan hat? Du weißt doch, dass du das nicht mehr bist, oder?“
„Ja ...“, erwiderte der Dämon, offenbar zögernd. „Trauer über die Taten ... Was ist gut? Was bedeutet gut sein?“
„Stärker zu sein als die Wut und das Verlangen in dir“, erklärte Morânia nun, Jana unterstützend. „Das bedeutet gut sein. Wenn du es schaffst, dich dem Dämon in dir zu widersetzen, das ist gut.“
„Abaia … versucht es“, versicherte der Bebilith. „Will es.“
Jana streichelte ihm weiterhin über den Panzer. „Siehst du, es ist gar nichts passiert. Aber du weißt, dass du groß bist und ziemlich gefährlich, hm? Es wäre wirklich gut, wenn du uns beim nächsten Mal, wenn du … also, wenn die alte Abaia stark wird, meine ich … wenn du uns dann rechtzeitig warnen könntest. Nicht dass jemand unabsichtlich zu Schaden kommt, verstehst du?“
„Abaia versteht ... muss ... über all das nachdenken.“ Die telepathische Stimme klang traurig und verwirrt. „Abaia folgt euch.“
„Danke“, sagte Jana anerkennend zu dem Dämon. „Du bist sehr vernünftig.“
Naghûl lächelte erleichtert und Sgillin ließ den Bogen langsam sinken. Morânia seufzte innerlich. Ja, der Aufstieg zum Guten war nicht leicht, insbesondere für ein Scheusal, und es war absehbar gewesen, dass es Rückschläge auf diesem Weg geben würde. Dennoch hielt sie die Lage nun für kontrollierbar und steckte daher ihr Schwert weg.
„Ich denke, wir sollten das Wasser holen“, meinte sie. „Je eher, desto besser.“
Die anderen nickten, und so gingen sie bis zum Ufer hinunter, trotz des elysischen Einflusses nun deutlich stiller und ernster. Das Wasser des Stillen Sees war kristallklar und recht flach, so dass man leicht bis zu seinem Grund sehen konnte, wo im hellen Sand grüne und bläuliche Wasserpflanzen wuchsen und Schwärme silbriger Fische hin und her schossen. Immer wieder war der See von kleinen Inseln durchsetzt, teilweise mit weichem Gras bewachsen, teilweise auch nur aus Sand bestehend, in dem gleichwohl blühende Akazien, Robinien und Federbäume wurzelten. Auf einer solchen Sandbank, nur wenige Schritte vom Ufer entfernt, erblickte Morânia nun im Näherkommen vier Gestalten: zwei Frauen und zwei geflügelte Löwen standen dort unter einem pink blühenden Federbaum. Die Bal‘aasi blieb stehen.
„Kennst du diese … Wesen?“, fragte Lereia leise und etwas zögernd.
„Nein“, flüsterte Morânia. „Aber sie haben die Aura der Himmlischen. Wir sollen zu ihnen hinüber gehen. Aber seid respektvoll, denn ich nehme an, die vier sind Abgesandte oder gar Avatare.“
Naghûl pfiff leise durch die Zähne, während Jana einen eher skeptischen Blick aufsetzte.
„Ein merkwürdiges Farbspiel, denkt ihr nicht?“ Sie sah die anderen fragend an und nickte mit dem Kopf leicht zu den vier Gestalten auf der Sandbank hinüber.
Sie hatte nicht unrecht. Eine der Frauen hatte schwarzes Haar und dunkle Haut und trug ein weißes Kleid, die andere hatte silbrig-weißes Haar und einen perlfarbenen Teint, trug dazu jedoch ein schwarzes Kleid. Fell und Schwingen der beiden geflügelten Löwen waren bei dem einen tiefschwarz, bei dem anderen strahlend weiß. Es ging etwas Altes und Mächtiges von ihnen aus, das gewiss auch jene spürten, die keine Auren wahrnehmen konnten. Die hellhäutige Frau winkte ihnen nun zu, eindeutig eine Aufforderung, zu ihnen herüber zu kommen. Morânia hatte keine wirklichen Bedenken, da die vier eindeutig himmlische Wesen waren. Doch die Anwesenheit eines Scheusals, auch wenn es auf dem Weg zum Aufstieg sein konnte, war ein Punkt, der die bevorstehende Begegnung erschweren mochte. Sie ließen Abaia daher am Ufer zurück, und Kiyoshi blieb bei ihm, um ihn zu bewachen. Die anderen gingen langsam in den See hinein und stellten fest, dass das klare Wasser lau und so flach war, dass es ihnen an keiner Stelle höher als bis zu den Knien reichte.
Morânia verneigte sich. „Ich grüße Euch im Namen des Morgenfürsten.“
„Wir grüßen Euch im Namen von Ausgleich und Einklang“, erwiderte die dunkelhäutige Frau, und ihre Stimme war warm, aber kräftig. Nun war auch zu erkennen, dass sie silberne Augen hatte.
Die hellhäutige Frau lächelte sacht, während die Löwen langsam die mächtigen Schwingen auf und ab bewegten und die Gruppe ruhig musterten. Sie alle wirkten wohlwollend, doch war deutlich merkbar, wie ernst sie Abaia musterten. Jana wollte wohl etwas sagen, warf aber einen Blick auf die Löwen und ließ es dann bleiben.
„Wir kennen euch“, sagte die weißhaarige Frau nun freundlich, aber ernst.
„Ach tatsächlich?“, erwiderte Sgillin. „Dann seid Ihr uns einen Schritt voraus.“
„Ihr seid die Erwählten des Rings.“ Nun sprach der weiße Löwe, mit tiefer, voller Stimme. Es überraschte Morânia keineswegs, dass das himmlische Wesen der Sprache mächtig war. „Ihr seid auf der Suche.“
Lereia nickte lächelnd. „Das sind wir.“ Während die junge Frau insbesondere von den beiden Löwen durchaus angetan schien, wich Jana langsam, aber stetig immer weiter zurück. Besonders der schwarze schien ihr mächtigen Respekt einzuflößen.
„Und dürfen wir auch fragen, wer Ihr seid?“, meinte Morânia höflich, obgleich sie eine Ahnung hatte. Sie spürte im Gegensatz zu Jana eine tiefe Zufriedenheit und ein Gefühl der Sicherheit in Gegenwart dieser himmlischen Wesen. Naghûls Lächeln war zu entnehmen, dass es ihm ebenso ging.
„Wir sind auch Erwählte, wenn man es so sagen mag“, sprach der schwarze Löwe. „Wir sind die Wächter des Ausgleichs. Ich bin Skiá, der Schatten.“
„Und ich bin Lumen, das Licht“, fügte der weiße Löwe an.
Die dunkelhäutige Frau lächelte freundlich. „Ich bin Vesperis, der Abend.“
„Und ich bin Aurora, der Morgen“, erklärte die hellhäutige Frau und verneigte sich.
Morânia nickte, als die vier ihre Vermutung bestätigten. Die Wächter des Ausgleichs waren weniger bekannt als so manch andere mächtige Wesen des Elysiums, doch hatten ihr Vater und ihre Großmutter ihr von ihnen erzählt, als sie noch ein Kind gewesen war. Da sie, so die Legende, das ganze Elysium durchstreiften und sich stets an einem anderen Ort aufhielten, war es nicht einfach, sie zu treffen. Wenn sie sich der Geschichten recht entsann, so waren diese vier wohl eine Art Avatare des Neutral Guten an sich – und somit eine Verkörperung der Ebene. Höflich stellten sich nun auch die Erwählten vor, die einen zurückhaltender, die anderen offener. Jana sprach ganz zuletzt und murmelte nur leise ihren Namen, ehe sie noch anfügte:
„Aber Ihr wisst, glaube ich, ohnehin schon, wer wir ... sind. Habt Ihr … auf uns gewartet?“
„Das haben wir“, bestätigte Aurora. „Willkommen am Stillen See. Gemeinsam wahren wir den Ausgleich. Zwischen Licht und Schatten, Morgen und Abend, Bewegung und Stillstand, Wärme und Kälte, Chaos und Ordnung.“
„Aber nicht zwischen Gut und Böse“, fügte Vesperis mit Nachdruck an.
Lumen, der weiße Löwe, nickte. „Wir wahren nur den Ausgleich zwischen allen guten Dingen – und bringen sie in Einklang.“
„So war es immer“, schloss der schwarze Löwe Skiá.
„Ihr redet um den heißen Brei herum“, brach es plötzlich aus Jana heraus. „Was wollt Ihr von uns?“
„Jana …“, flüsterte Lereia in mahnendem Tonfall.
Auch Morânia zuckte ein wenig zusammen, als die Hexenmeisterin so mit den himmlischen Wesen sprach und warf ihr einen tadelnden Blick zu. Doch die vier blieben unverändert ruhig und freundlich.
„Was willst du uns sagen?“, wandte Vesperis sich an Jana.
Die Hexe atmete tief durch, und doch zitterte ihre Stimme ein wenig, als sie erwiderte: „Ihr kriegt sie nicht!“
„Was oder wen?“, fragte Aurora ruhig.
„Abaia. Wir werden ihr beistehen.“
„Jana, hör auf damit.“ Lereia sah sie kopfschüttelnd an. „Du weißt doch überhaupt nicht, wieso sie hier auf uns gewartet haben.“
Sgillin nickte zu den Worten seiner Gefährtin. „Ich bin sicher, dass dir niemand dein Schoßtier wegnehmen will.“
Der schwarze Löwe lachte nun, es klang nicht unfreundlich, aber ob des Volumens seiner vollen Stimme dennoch ein wenig wie das Grollen eines fernen Donners. „Meinst du das Wesen, das nicht im Einklang ist? So wie du?“
„Da hört ihr es!“, rief Jana aufgebracht. „Sie sorgen für den Ausgleich zwischen allem!“
„Aber nicht zwischen Gut und Böse“, erwiderte Morânia so ruhig es ihr möglich war.
Jana begann nun deutlich sichtbar zu zittern. „Und was ist Abaia, wenn nicht zwischen gut und böse?“
Lumen, der weiße Löwe, blickte über die Gruppe und nickte bedachtsam. „Das stimmt, und auch von euch sind nicht alle im Geiste des Guten hier. Und von denen, die es sind, ist nur eine im Einklang.“
Lereia warf einen kurzen Blick zu Morânia, und sie hob die Schultern. Ja, es stimmte, so wie es aussah war sie die einzige in der Gruppe mit einer neutral guten Gesinnung. Dass dieser Umstand von den Wächtern so herausgehoben wurde, war ihr jedoch unangenehm. „Ich ... tja.“ Sie wusste nicht genau, was sie dazu sagen sollte und verneigte sich kurz.
„Wollt Ihr nur mit ihr weitersprechen?“, erkundigte Lereia sich vorsichtig.
„Nein“, erwiderte Skiá freundlich. „Das war nur eine Feststellung. Ihr alle seid, was ihr seid. Dass wir die Wächter des Ausgleichs sind, heißt nicht, dass wir irgendjemanden zwingen. Das wäre zu extrem.“
Lereia wirkte erleichtert. „Ihr sprecht sehr weise, Skiá. Darf ich fragen, weshalb Ihr auf uns gewartet habt?“
„Wir haben auf euch gewartet, weil ihr zweierlei sucht“, erklärte Vesperis. „Ihr sucht das Heilige Wasser der Gelassenheit, um diesem Wesen zu helfen.“ Sie deutete auf Abaia am Ufer. „Und ihr sucht eure Bestimmung.“
Aurora nickte zustimmend und deutete auf den Bebilith. „Dieses Wesen ist mehr im Ungleichgewicht als alle hier. Es muss ins Gleichgewicht kommen, sonst wird es untergehen.“
„Deswegen sind wir hier“, erklärte Sgillin.
Der schwarze Löwe bewegte sacht seine großen Schwingen auf und ab. „Wir können euch das Heilige Wasser geben. Aber ihr müsst versprechen, dass ihr dieses Wesen dort ohne Schmerz und Verlust zu seiner Bestimmung führt.“
Morânia lächelte. Genau das war der Geist des Guten: zu helfen und zu retten, wo immer möglich anstatt zu verurteilen oder zu strafen. „Wir versprechen, dass wir alles daran setzen werden, ihm und dem Engel zu helfen“, erklärte sie. „Ohne dass jemand zu Schaden kommt.“
„Könnt Ihr uns auch etwas über unsere Bestimmung sagen?“, fragte Lereia nun. „Oder über die anderen Erwählten, die wir noch suchen?“
„Ihr seid auf der Suche nach der Hüterin und dem Verkünder“, stellte der weiße Löwe fest. „Sie haben das Wissen um die Prophezeiung. Um die ganze Prophezeiung, die euch noch verschlossen ist.“
„Doch es gibt noch mehr von euch“, erklärte Vesperis. „Jeder hat seinen Namen, seine Aufgabe, seine Rolle.“
„Könnt Ihr uns sagen, wie viele wir sind?“, fragte Morânia vorsichtig.
Nun blickte Vesperis zu Aurora, und diese seufzte bedauernd.
„Die Übereinkunft verbietet uns, darüber zu reden. Zu dieser Zeit darf nur die Botin zu euch sprechen.“
Jana hatte die Arme um den Leib geschlungen und war seit ihrem Ausbruch wieder ruhiger geworden, wenngleich sie die Wächter des Ausgleichs nach wie vor skeptisch musterte. „An welche Übereinkunft seid Ihr gebunden?“, wollte sie wissen.
„An die Übereinkunft“, erklärte Lumen. „Die erste. Die große. Die wahre. Die Übereinkunft der ältesten je ...“ Der weiße Löwe unterbrach sich und schüttelte das mächtige Haupt. „Nein, ich sage zu viel.“
Sgillin rieb sich den Nacken und seufzte im Angesicht der neuen Fragen, die sich gerade auftaten. Dann brachte er ein Thema auf, das ihm offenbar auf den Nägeln brannte. „Was passiert, wenn jemand von uns stirbt?“
„Das ist ungewiss“, gab Skiá zur Antwort. „Zumindest uns ist dies nicht bekannt.“
Morânia nahm wahr, wie Naghûl neben ihr tief durchatmete. Sie wusste, dass er keine Rätsel mochte und ihn die vielen nebulösen und unklaren Elemente der Prophezeiung daher manchmal anstrengten.
„Gut“, setzte er an. „Ich habe auch eine Frage. Ihr habt ja auf uns gewartet, weil Ihr uns vielleicht helfen wollt - nehme ich an. Da Ihr aber unsere Fragen nicht beantworten wollt, könnt oder dürft, frage ich mich nun, wie Ihr uns helfen wollt, könnt oder dürft?“
Morânia runzelte die Stirn. Die Art, wie vorher Jana und nun auch Naghûl zu vier himmlischen Wesen sprachen, gefiel ihr nicht, aber sie wollte in deren Gegenwart auch keine Diskussion beginnen.
Aurora hingegen lächelte nachsichtig. „Du bist ungeduldig, weil du jung bist. Und weil deine Mission wichtig ist. Aber deine Frage ist berechtigt. Wir haben euch noch nicht jetzt erwartet. Später erst.“
„Insbesondere bin ich angestrengt“, erwiderte Naghûl, offenbar wenig besänftigt, und Morânia hätte ihm am liebsten mit dem Ellbogen einen Stoß in die Rippen versetzt.
„Das tut mir Leid“, antwortete Vesperis ernst. „Aber wir sind durch die Übereinkunft gebunden, so wie ihr.“
„Wir haben aber gar keine Übereinkunft getroffen“, gab Naghûl zurück. „Wir wurden einfach dazu gemacht, was wir sind. Eine Übereinkunft beinhaltet doch irgendwo eine Zustimmung ...“ Er unterbrach sich und winkte ab. „Ach, was rede ich. Verzeiht meine ungehaltene Stimmung.“
Der weiße Löwe nickte verständnisvoll. „Es ist wahrscheinlich nicht leicht, einer der Erwählten zu sein.“
„Wer hat diese ... Übereinkunft getroffen?“, fragte Morânia.
„Die ältesten Wesen“, gab Aurora zur Antwort.
Jana beschloss offenbar, sich nun doch wieder an dem Gespräch zu beteiligen. „Diese Übereinkunft, behandelt sie nur unsere Prophezeiung?“, wollte sie wissen. „Oder ist sie ... allgemeiner? Umfasst sie auch andere Dinge, meine ich? Und schließt sie das Böse mit ein? Also, ich meine damit, ob auch Teufel und Dämonen zu den ältesten Wesen gehören.“
„Sie umfasst mehr“, bestätigte Aurora nach kurzem Zögern. „Viele große und wichtige Fragen. Und ja, die Übereinkunft schließt das Böse mit ein.“
Lereia kam noch einmal auf einen der beiden Hauptgründe ihrer Reise ins Elysium zurück. „Die Hüterin und der Verkünder sagten, wir würden sie wiedertreffen, wenn wir unserem Weg folgen.“
„Und so wird es sein.“ Vesperis nickte. „Ihr werdet einander finden. Alle.“
Sgillin rieb sich die Schläfen. „Warum kann uns nicht einfach jemand sagen, was Sache ist? Ich meine, es ist Euch und den anderen doch bewusst, dass, je mehr Ihr uns hinsichtlich der Prophezeiung im Dunklen tappen lasst, sich das Risiko erhöht, dass irgendjemand Mist baut?“
Aurora lächelte milde ob seiner Wortwahl. „Natürlich. Aber das definiert jeder anders. Und daher sind jedem die Hände gebunden, damit niemand zu viel Einfluss nehmen kann.“
„Ich denke, ich verstehe das“, erwiderte Morânia. „Eine Frage hätte ich jedoch noch. Die Botin, die Engelsseele in mir … Ist es möglich, sie bewusst zu rufen? Zu wecken, so dass wir mehr von ihr erfahren können?“
Aurora nickte. „All eure Fähigkeiten werden wachsen. Auch deine. Daher ... Ja, ich nehme an, ihr werdet irgendwann mehr von ihr erfahren. Möglicherweise kannst du selber sie wecken, wenn du mehr Zugang zu ihr findest. Doch wie, das musst du selber lernen.“
„Das heißt, ich könnte das auch steuern?“ Jana klang aufgeregt. „Eine Vision unterdrücken oder ihren Zeitpunkt verschieben? Oder andere gezielter mitnehmen? Oder die Vision ausdehnen vielleicht?“
„Ja, auch deine Fähigkeiten werden wachsen“, antwortete nun wieder Vesperis. „Auch deine kann man steuern. Du kannst andere sehen lassen, was du siehst. Du wirst vielleicht lernen zu kontrollieren, wann du etwas siehst und ob du Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft siehst. Aber auch du musst den Weg selbst finden.“
„Wenn das so ist, hätte ich auch eine Frage zu meiner Gabe“, meinte Naghûl. „Ich sehe irgendwelche Zahlen, die wahrscheinlich irgendwann ein Muster ergeben. Handelt es sich um eine Verschlüsselung oder kann ich mir den zukünftigen Kryptographie-Unterricht sparen?“
„Es ist durchaus etwas in diesen Zeichen verborgen“, erklärte Lumen, der weiße Löwe. „Orte, Personen, Artefakte … Sie werden euch einst sagen, wo ihr wichtige Geheimnisse findet und euch sogar den Weg zu eurer Bestimmung weisen.“
„Kann ich direkt darauf Einfluss nehmen?“ fragte Naghûl hoffnungsvoll. „Zum Beispiel, indem ich diese Zeichen schreibe oder Zahlen neu anordne?“
„Du kannst etwas bewirken, ja. So wie er“, Lumen nickte zu dem noch immer bei Abaia Wache stehenden Kiyoshi, „etwas bewirken kann, wenn er die Worte spricht, kannst du etwas bewirken, wenn du die Zeichen schreibst.“
„Ich habe versucht, meine Gabe selbstständig zu ergründen und zu erweitern“, wandte Lereia vorsichtig ein. „Aber es hat jemanden verletzt, der mir wichtig ist. War das ein Fehler? Sollen wir lieber darauf warten, dass sich die Fähigkeiten von allein entwickeln?“
„Dieser Unfall ist bedauerlich“, erklärte Skiá. „Aber ich denke, dein Weg war richtig. In euren Gaben liegt eure Macht und mit ihnen könnt und müsst ihr arbeiten. Daher ist es durchaus wichtig, sie zu erforschen. Alle eure Gaben betreffen die Seele, doch deine in besonderem Maße. Du erspürst die Seelen und kannst sie zu dir ziehen. Dies …“ Der schwarze Löwe zögerte kurz, sprach dann aber doch weiter. „Dies mag einst euer Schicksal entscheiden.“
Lereia holte tief Luft und nickte langsam. „Danke ...“
Skiá nickte würdevoll und Sgillin sah in die Runde. „Gut“, meinte er, als niemand mehr Fragen zu haben schien. „Dann denke ich, wir nehmen das Wasser mit und führen unseren klauenbewehrten Freund da hinten seiner Bestimmung zu, hm?“
Vesperis nickte. „Schöpft das Wasser mit dem Kelch aus dem See und stellt dann den Kelch vor uns ab.“
Morânia holte den silbernen Kelch aus ihrem Rucksack und trat ganz an den Rand der Sandbank heran, um das klare Wasser des Stillen Sees in das gesegnete Gefäß rinnen zu lassen. Sie füllte ihn nur bis zur Hälfte, wohl wissend, dass sie den Kelch daraufhin mit dem Wasser bis zum Labyrinth tragen mussten ohne dieses zu verschütten. Dann trug sie ihn vorsichtig zurück zu den Wächtern des Ausgleichs und stellte ihn vor ihnen im hellen Sand ab. Die vier versammelten sich rund um den gefüllten Kelch und die Frauen breiteten ihre Hände darüber aus. Dann sprachen sie alle gemeinsam:
Morgen – Abend
Licht – Schatten
Anfang – Ende
Geburt – Tod
Ordnung – Chaos
Wärme – Kälte
Bewegung – Stillstand
Ihr Götter des Lebens, so brennt die Glut,
Doch machen die Sterne das Unrecht gut.
Ihr Götter der Herzen, in den Sternen geborgen,
Der Weg war lang, doch uns graut ein Morgen.
Die Nacht zerbricht. Es kommt das Licht.
Ihr Geister von Erde und ihr Geister von Feuer,
Gebt uns, was unseren Herzen so teuer.
Ihr Geister von Luft und ihr Geister von Regen,
Gebt uns Hoffnung, gebt uns Segen.
Verloren, gefunden, aus Schmerzen entbunden,
Die Sterne verloren, die Sterne gefunden.
In der Stunde, die alles entscheiden kann,
Rufen wir gemeinsam die Himmel an.
Wir rufen die Sonne in gleißendem Brand,
Wir rufen den sanftweißen Schnee überm Land,
Wir rufen das Feuer in lodernder Helle,
Wir rufen den Blitz in zorniger Schnelle,
Wir rufen die Winde auf all ihren Wegen
Und der Meere tiefe Gründe
Und der Felsen steile Schründe
Und der Erde Stärke und Segen.
Ist uns die Hilfe der Götter gewiss,
Rufen wir euch alle und stellen uns entgegen
Wider die Mächte der Finsternis. 2)
Morânia spürte, wie sie während dieser Worte ein warmes Gefühl von Hoffnung und Zuversicht erfüllte. Als die Wächter dann endeten, erstrahlte in dem Kelch ein helles Licht, das nicht mehr erlosch.
Vesperis wies mit einer feierlichen Geste auf das Gefäß. „Das heilige Wasser sei euer. Nehmt den Kelch und hütet ihn gut.“
„Das werden wir.“ Morânia verneigte sich tief. „Habt Dank.“
Alle vier neigten kurz den Kopf und auch Naghûl verbeugte sich nun respektvoll.
„Ich danke ebenfalls“, sagte er. „Und vergebt mir meine anfängliche Ungehaltenheit.“
„Es ist schon vergessen.“ Aurora lächelte. „Wir wissen, dass ihr einen schweren Weg geht.“
Vesperis nickte zustimmend und deutete in Richtung der Hügel. „Wenn ihr das Nest des Phönix sucht, geht dort entlang. Der See ist hier sehr seicht, so dass ihr ihn zu Fuß durchqueren könnt, wenn ihr euch nicht am Wasser stört. Auf jeden Fall wird das der schnellste Weg sein.“
Auch die anderen, selbst Jana, verneigten sich nun dankend zum Abschied und schickten sich dann an, die Sandbank mit dem blühenden Federbaum wieder zu verlassen.
Aurora hob zum Abschied die Hand und winkte ihnen nach. „So geht und seid gesegnet. Wir werden uns wiedersehen.“
Sie holten Abaia und den noch immer bei ihm wachenden Kiyoshi ab und beschlossen, dem Rat von Vesperis zu folgen und den Stillen See zu durchqueren. Immer wieder waren die Sandbänke unterbrochen, so dass sie durch das Wasser waten mussten, doch tatsächlich war es so seicht, dass es ihnen selten bis über die Knie reichte. Der sandige Grund war weich und frei von jedweden spitzen Steinen oder gefährlichen Gifttieren, so dass sie die Schuhe ausziehen und barfuß durch das laue Wasser wandern konnten. So gingen sie über sandige Inseln und flache Sandbänke dahin, eine Wanderung, so angenehm wie sie nur auf einer himmlischen Ebene sein konnte. Ab und an kühlte sie ein erfrischender Wind, doch war die Temperatur im Allgemeinen sehr angenehm, weder zu heiß noch zu kühl für einen längeren Fußmarsch. Allenthalben sahen sie celestische Wassertiere: Krabben mit rubinrot funkelnden Panzern, silbern glänzende Fische, schöne weiße Vögel, die auf langen Beinen im Wasser standen. Der See musste ziemlich groß sein, denn sie wanderten mehrere Stunden lang dahin, die ihnen aber aufgrund der angenehmen Umgebung deutlich kürzer erschienen. Abaia hatte sich seit dem Aussetzer am Ufer sehr still verhalten und trottete ihnen nach. Einmal, als sie von einer Sandbank zur nächsten wateten, blieb Naghûl unvermittelt stehen. Sein Blick war starr auf das Wasser vor ihm gerichtet.
„Faszinierend …“, murmelte er leise, und Morânia trat an seine Seite.
Sie suchte mit den Augen die Wasseroberfläche ab, ebenso wie den hellen Sand, den man ohne Probleme darunter erkennen konnte. Doch sie sah nichts Ungewöhnliches. „Wieder eines deiner Zeichen?“, fragte sie ihren Mann.
Er nickte. „Ja, dort im Wasser. Aber diesmal ist es anders … Keine Ziffer oder Zahl. Es ist ein Kreis mit drei Punkten oder kleineren Kreisen in der Mitte. Einer ist sehr hell, einer eher dunkel, und der dritte von der Schattierung her genau dazwischen. Und auf dem Rand des großen Kreises befinden sich auch noch einmal vier kleinere Kreise, jeder umgeben von vier noch kleineren Punkten. “
Lereia runzelte die Stirn. „Und hast du eine Idee, was das bedeuten soll?“
„Natürlich nicht.“ Naghûl seufzte resigniert. „Ich kann mir ebenso wenig einen Reim darauf machen wie auf die Zahlen – oder alles andere.“
Die junge Frau nickte sacht, zog dann ihr Notizbuch heraus und zeichnete das Symbol hinein, so wie Naghûl es beschrieben hatte. Da sie nicht wussten, was sie ansonsten damit anfangen sollten, setzten sie dann ihren Weg fort. Eine gute Tat, um die Orebhügel zu erreichen, bot sich ihnen schließlich in Gestalt eines verletzten Goldschnabels. Der weiß gefiederte Vogel hatte einen lahmen Flügel, den Sgillin ihm vorsichtig wieder einrenkte. Dann legte Morânia dem Tier die Hände auf, und schon bald konnte der elysische Reiher wieder fliegen. Nachdem sie dem Vogel geholfen hatten, erreichten sie eine halbe Stunde später das andere Ufer. Hier war die Gegend etwas rauer, aber die Temperatur blieb lau und die Vegetation gedieh. Blumen von himmlischer Schönheit wuchsen hier, darüber tanzten Schmetterlinge mit abenteuerlicher Flügelmaserung. Das Gelände stieg sanft an, wurde hügelig, bis dann einzelne Steinbrocken durch die Erde stießen und sich zu einer kleineren Felsanhöhe aufbauten.
Lächelnd sah Sgillin sich um. „Schön hier.“
„Ja.“ Morânia schmunzelte. „Elysisch eben.“
Fast sofort nahm sie das neckische Grinsen ihres Mannes aus dem Augenwinkel wahr.
„Ja, das Elysium ist recht schön“, gestand er ein. „Aber wenig mehr Pfeffer würde ihm nicht schaden.“
Kiyoshi runzelte verwirrt die Stirn. „Verzeiht meine Unwissenheit, ehrenwerter Naghûl-san, aber inwiefern würde ein Gewürz diese Ebene verbessern?“
Die Bal’aasi musste über seine Bemerkung lachen, wandte sich dann aber Naghûl zu. „Das Elysium ist perfekt, wie es ist“, erklärte sie erheitert, aber mit Nachdruck. „Muss ja nicht jeder so ausgeflippt sein wie die Hitzköpfe auf Arborea.“
„Hunger ...“, ertönte in diesem Moment Abaias telepathische Stimme in ihren Köpfen.
Als sie sich ihm zuwandten, erkannten sie, dass seine Aufmerksamkeit offenbar auf ein Kaninchen gerichtet war, das ein Stück entfernt hinter einem Busch saß.
„Oh.“ Morânia nickte. „Nun, er hat lange nichts gegessen, oder?“
Sgillin seufzte etwas. Vielleicht, weil ihm der Gedanke nicht behagte, dass die Jagdtriebe des Bebilithen erwachten, und sei es nur zur Futtersuche. Vielleicht auch, weil er dem Scheusal nach wie vor nicht wirklich traute. Doch niemand wusste besser als der Waldläufer, dass Abaia nun einmal ein Raubtier war und auch in der Tierwelt des Elysium gab es Jäger und Beute.
„Na dann, hol dir was zu fressen“, sagte der Halbelf daher. „Aber nur so viele Tiere, wie du brauchst, um satt zu werden, nicht mehr.“
Dankbare, telepathische Schwingungen erreichten sie von Abaia, und schon begann er, sich an das Kaninchen anzupirschen. Doch im selben Moment kam ein Fuchs hinter dem Busch hervor gesprungen und schnappte dem Bebilithen seine Beute weg. Abaia zischte und stürzte sich auf den frechen Dieb, dann verschlang er beide, Hase und Fuchs.
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gespielt am 28. Juli 2012
1) Carl Maria von Weber, Der Freischütz
2) Madeleine L’Engle, leicht abgewandelt







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