„Fangen wir mit den Grundlagen an. Die Para-Elementare Ebene des Eises ist sehr, sehr, sehr kalt."
Sanctimarin, Meister der Gefrorenen Brise, Eismephit
Dritter Markttag von Savorus, 126 HR
Dilae blinzelte in die herabschwebenden Schneeflocken, die nun begannen, dichter und immer dichter um sie herum zu fallen. Die Para-Elementare Ebene des Eises konnte sich als gefährlicher Ort voller Lawinen, Blizzards und angriffslustiger Eiselementare zeigen. Sie konnte jedoch auch ein verschneites Winterwunderland sein, wie die weite Ebene, die sie und ihre Gefährten nun mit dem Schlitten durchquerten. Das Gefährt wurde von sechs großen, weißen Wölfen gezogen und glitt lautlos über den Schnee dahin. Natürlich hatten sie Glück gehabt, schon bald nach dem Durchschreiten des Portals auf eine Ansiedlung zu treffen. Von dem massiven Eisberg aus, in dem sich das Tor nach Sigil befand, war es nur ein etwa einstündiger Fußweg zu dem kleinen, aber geschäftigen Dorf namens Frosthafen gewesen. Schon von Ferne hatten sie das sanfte, bläuliche Licht der aus Eis geschliffenen Laternen gesehen, das ihnen den Weg zu der Siedlung gewiesen hatte. Frosthafen bestand vornehmlich aus Iglus und Eishäusern, von denen einige durch kristallklare Eistunnel miteinander verbunden waren. Die Bewohner, eine Mischung aus Eisgenasi, Frostgnomen und weiß-pelzigen Humanoiden, hatten sie freundlich empfangen. Durch das nahe Portal in die Stadt der Türen waren sie Besucher gewohnt und trieben auch regen Handel. Da sie nicht wussten, wo genau sie nach Hüterin und Verkünder suchen sollten, hatten sie beschlossen, sich ein Transportmittel zu beschaffen und sich auf dem Marktplatz im Zentrum des Dorfes nach einem Schlitten erkundigt.
Dilae hatte es Garush und Yelmalis überlassen, sich um den Kauf des Gefährts zu kümmern und sich unterdessen gemeinsam mit Tarik und dem Monodronen F-45 die Verkaufsstände angesehen. Sekhemkare war ein Stück abseits geblieben, noch immer verstimmt darüber, dass er sich in diese eisige Umgebung hatte wagen müssen. Zwar hatten sie eine ganze Kiste Feuertränke dabei, die seinen wechselwarmen Körper pro Dosis für einige Stunden aufheizen konnten, doch verständlicherweise war der Yuan-Ti von ihnen allen am wenigsten begeistert über das Reiseziel gewesen. Der Schlitten, den Garush und Yelmalis schließlich erworben hatten, bestand aus silbrig schimmerndem Holz, in das Schnitzereien von Schneeflocken und Sternen geritzt worden waren. Es gab zwei breite, mit Fell gepolsterte Sitzbänke mit Platz für je drei Personen und die Kufen waren aus Ewigem Eis, das selbst außerhalb der Eisebene niemals schmolz. Der Verkäufer, ein Gnom mit weißem Haar und hellblauen Augen, hatte erklärt, dass der Schlitten sogar eine transparente, kuppelförmige Abdeckung besaß, die man durch Berühren zweier magischer Kristalle an beiden Seiten aktivieren konnte. Die sechs weißen Wölfe, die den Schlitten zogen, waren ausdauernde Läufer – und zu Dilaes großer Freude zudem zutraulich und verspielt. Nachdem Yelmalis die Gelenke seines Vertrauten F-45 mit einem speziellen Schmiermittel geölt und Sekhemkare einen weiteren Feuertrank genommen hatte, waren sie in den Schlitten gestiegen und hatten Frosthafen hinter sich gelassen.
Zunächst glitt das Gefährt ruhig über eine weite Ebene aus Eis, wo der Wind den Schnee zu sanften, wellenförmigen Dünen geformt hatte. In der Ferne ragten riesige, kristalline Berge auf und wenn das Licht sie in bestimmten Winkeln traf, glitzerte die Luft darüber in allen Regenbogenfarben. Außerdem ergossen sich immer wieder erstarrte Kaskaden aus Eis über die Flanken der Berge: gefrorene Wasserfälle. Garush hatte das Lenken des Schlittens übernommen und saß in Pelze und Felle gehüllt auf dem Bock. Nachdem sie ein Gefühl für das Fahrzeug bekommen hatte, rief sie den vorgespannten Wölfen eines der Kommandos zu, die der Frostgnom ihr eingeschärft hatte. Sofort beschleunigten die Eiswölfe ihren Schritt und der Schlitten raste mit hoher Geschwindigkeit über den Schnee dahin.
Dilae war dankbar, einfach auf der vorderen Bank sitzen zu können und die märchenhafte Umgebung zu beobachten. Bei der Abfahrt hatte sie Sekhemkare zu sich gewunken, neben ihr Platz zu nehmen, und nun musterte der Yuan-Ti – mit deutlich weniger Begeisterung als die Dunkelelfe – die verschneite Landschaft. Natürlich hatte Dilae Sekhemkare vor allem deshalb zu sich gebeten, damit Tarik auf der hinteren Bank neben Yelmalis Platz nahm. Sie hatte Augen im Kopf und bemerkte sehr wohl die Annäherung der beiden – auch wenn sie sich nicht sicher war, ob der Tiefling und der Luftgenasi sich ebenfalls darüber im Klaren waren. Zumindest hatte Tarik mit einem Lächeln hinten Platz genommen, wenngleich er dabei ein wenig schüchtern wirkte. Yelmalis dagegen war kurz erstarrt, als der Zeichner zu ihm aufgerückt war, um Platz für F-45 zu machen, der von Garush in den Schlitten gehoben wurde. Dilae schmunzelte zufrieden, als sie daran zurück dachte. Manche Leute musste man zu ihrem Glück zwingen, diese Erfahrung hatte sie oft gemacht. Eingehüllt in ein dickes Fell, das sie noch über ihre pelzgefütterte Kleidung gelegt hatte, lehnte sie sich zurück und genoss die Fahrt. Die Wölfe zogen den Schlitten nun mühelos einen steilen Hang hinauf, von dessen Gipfel aus sich ein atemberaubender Ausblick über die Eisebene bot. Ein Stück entfernt konnten sie glatte, gefrorene Seen erspähen, die wie riesige Spiegel den Himmel reflektierten. Nahebei befanden sich Frostgeysire, deren gelegentliche Ausbrüche feine Eisnadeln in die Luft schleuderten. Hier ließ Garush die Wölfe eine kurze Pause einlegen und Dilae sah sich staunend um.
„Ist das nicht wunderschön?“ Sie drehte sich nach hinten, um Yelmalis und Tarik die Frage zu stellen, da sie wusste, der wärmeliebende Yuan-Ti würde die Umgebung kaum zu schätzen wissen.
In der Tat zischelte Sekhemkare nur abfällig, doch der Luftgenasi lächelte. „Das ist es wirklich. Und seht mal, dort droben: Nordlichter.“
Er deutete in Richtung der Seen, und tatsächlich: Am Himmel tanzten wechselnde Lichter in verschiedenen Farben, die sich in den glatten Eisflächen unter ihnen spiegelten. Sie zogen Dilaes Aufmerksamkeit sofort auf sich, bis sie ein leises Klirren hinter sich hörte.
„Wirklich?“ meinte Garush vom Bock her. „Jetzt willst du was trinken, Herrschner?“
„Warum nicht?“ beantwortete statt Yelmalis Tarik die Frage. „Während ihr den Schlitten besorgt habt, haben Dilae und ich uns um etwas Verpflegung für unterwegs gekümmert.“
„Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, wir haben Verpflegung“, entgegnete die Amazone schroff. „Für zwei bis drei Wochen, wenn wir sie vernünftig rationieren.“
„Garush, Garush“, meinte Dilae tadelnd, aber mit einem amüsierten Lachen. „Hier geht es nicht nur ums reine Überleben. Sondern auch darum, diese besondere Fahrt zu genießen.“
Die Halborkin schnaubte ein wenig und winkte ab, erwiderte aber nichts weiter. Als einzige andere Frau in der Gruppe war es meist die Dunkelelfe, die der Amazone die Stirn bieten konnte – bieten durfte. Und obgleich es gar nicht so sehr in Dilaes Wesen lag, Dinge auszudiskutieren, so nahm sie diese Verantwortung doch regelmäßig wahr, damit auch die schönen Momente nicht zu kurz kamen. Yelmalis nickte ihr denn auch dankend zu und sprach leise eine Zauberformel, um das Getränk aufzuwärmen, das Tarik nun in einer bläulichen Flasche hochhielt.
„Hitze- und Feuerzauber sind eigentlich nicht so mein Spezialgebiet“, bemerkte der Luftgenasi. „Heißt aber nicht, dass ich sie nicht beherrsche.“
Dann holte er fünf Becher aus blauer Keramik hervor und ließ sie von Tarik befüllen, ehe er sie nach vorne weiterreichte. Ein vorsichtiger Schluck von dem nun heißen Getränk verriet Dilae, dass es sich um eine Art grünen Tee handeln mochte, der mit Honig gesüßt war. Er schmeckte jedoch intensiver und trug eine Note von Walnüssen, Zimt und Beeren mit sich. Die Dunkelelfe seufzte zufrieden, als die heiße Flüssigkeit ihre Kehle und ihren Magen wärmte, während sie das Spiel der Nordlichter über den gefrorenen Seen beobachtete. Selbst Garush und Sekhemkare nickten, wussten das warme Getränk und die kurze Pause offenbar zu schätzen. Es war ein besonderer, harmonischer Moment, von dem Dilae spürte, dass er sie als Gruppe verband, und sie genoss ihn daher umso mehr.
Dann trieb Garush die Wölfe wieder an und sie setzten die Fahrt fort. Lange waren sie unterwegs, und im Grunde ohne Ziel, da sie ja gar nicht wirklich wussten, wo sie mit der Suche nach Hüterin und Verkünder beginnen sollten. Sie hofften auf einen weiteren Traum von Tarik oder eine Information von einem Seelenfetzen, den Sekhemkare anrufen konnte. So blieb ihnen im Moment nur, sich weiter in die Eisebene hinein zu wagen. Einmal gerieten in einen kurzen, aber intensiven Schneesturm, doch die magische Kuppel des Schlittens schützte sie, während die Eiswölfe sicher ihren Weg durch den Sturm fanden. Ein anderes Mal fuhren sie durch einen Wald, in dem Bäume und Pflanzen komplett aus Eis zu bestehen schienen. Dort konnten sie Gruppen von Schneehasen und einige Polarfüchse erspähen. Danach breitete sich wieder eine weite, glitzernde Schneelandschaft vor ihnen aus, doch die bislang ruhige Fahrt wurde jäh unterbrochen, als ein ohrenbetäubendes Brüllen die Luft zerriss. Es kam von hinten und Dilae, die gerade noch die atemberaubenden Eisberge am Horizont bewundert hatte, wirbelte herum. Ihr stockte der Atem, als sie drei massive Gestalten aus einem plötzlich aufziehenden Schneegestöber auftauchen sah. Sie waren mindestens drei Schritt hoch, hatten einen dichten, weißen Pelz und spitze, gebogene Hörner.
"Yetis!", rief Tarik. „Drei sehr große!“ In seiner sonst so ruhigen Stimme schwang ein Anflug von Panik mit.
Garush sah sich nur kurz nach hinten um, dann trieb sie die Eiswölfe zur Eile an. Doch etwas stimmte nicht ... Der Schlitten kam schwerer voran als gewohnt, wurde gar langsamer anstatt an Geschwindigkeit aufzunehmen.
"Der vordere Wolf!", rief die Amazone durch den einsetzenden Schneefall. "Ich glaube, er lahmt - er muss sich an der Pfote verletzt haben!"
Die Yetis näherten sich mit beängstigender Geschwindigkeit, und nun konnte Dilae erkennen, dass sie große Eisbrocken in ihren mächtigen Händen hielten. Einer verfehlte den Schlitten nur um Haaresbreite und zerschellte direkt neben ihnen in tausend glitzernde Splitter.
"Haltet euch fest!", schrie Garush und lenkte den Schlitten in einem waghalsigen Ausweichmanöver zwischen zwei schroffen Eisformationen hindurch.
Dilae wurde unsanft gegen Sekhemkare geworfen und klammerte sich verzweifelt an die Seitenplanken. Tarik griff geistesgegenwärtig nach einem der Beine von F-45, damit der Monodron nicht aus dem Schlitten geschleudert wurde.
„Danke!“, rief Yelmalis erleichtert, dann rappelte er sich auf, kniete sich auf die Bank und begann, eine magische Formel zu sprechen. Mit der rechten Hand hielt er sich an der Türe des Schlittens fest, mit der linken aber zeichnete er eine komplizierte Geste in die Luft. Dann schoss ein glühender Ball von seinen Fingern weg, der bei einem der Yetis in einem Funkenregen explodierte. Dieser brüllte wütend, aber auch erschrocken auf, als die Flammen ihm den Pelz versengten.
„Ja, Feuer mögen sie nicht“, zischte Sekhemkare. „Und das hier hoffentlich auch nicht.“ Er hob eine Phiole mit grüner Flüssigkeit hoch und schleuderte sie hinten aus dem Schlitten.
Sie zerschellte auf der Eisspur, die das Gefährt hinterließ und setzte eine Wolke von dichtem, grünem Rauch frei. Die Gruppe im Schlitten entfernte sich glücklicherweise rasch davon, aber der vorderste Yeti sackte hustend und röchelnd zusammen, als er hinein geriet.
„Das wird sie aufhalten, aber nicht umbringen“, erklärte der Yuan-Ti. „Wir müssen schnellstens hier weg!“
„Leichter gesagt, als getan“, schrie Garush nach hinten. „Der vorderste Wolf ist verletzt – ich fürchte, er kann das nicht mehr lange durchhalten!“
Dilae stand auf. „Sek, halt mich mal!“, rief sie durch das Schneetreiben. „Ich brauche freie Hände!“
Ohne lange zu überlegen, legte der Yuan-Ti ihr die Arme um die Taille, um sie in dem wild dahin rasenden Schlitten zu stabilisieren. Dann begann Dilae zu singen und ihre klare Stimme erhob sich über das Chaos. Es war eine alte elfische Melodie, die von Eilistraees Schönheit und dem Zauber des Mondes sprach. Doch nicht das Gebet der Klerikerin, sondern das Lied der Bardin war es in diesem Fall, das seine heilende Energie zu den Wölfen sandte. Die Tiere spitzten die Ohren, dann wurde der Schritt des vordersten Wolfes wieder sicherer und schneller.
„Sehr gut!“, rief Garush. „Und jetzt festhalten!“
Vor ihnen erhoben sich einige hohe Eisberge, in ihrer Mitte ein Spalt … ein nicht allzu breiter, wie Dilae beunruhigt feststellte. Doch er war nicht lang, man konnte bis zum Ende sehen. Dort … der Dunkelelfe sank das Herz. War das Garushs Ernst? Ganz offensichtlich, denn sie lenkte den Schlitten ohne zu zögern in die enge Schlucht. Die Wände rückten bedrohlich nahe, Eiszapfen kratzten über die Seiten des Gefährts. Die Yetis, obgleich noch immer röchelnd, waren nun wieder hinter ihnen zu sehen. Schon kam das Ende der Schlucht in Sicht – und direkt dahinter ein Abgrund. Ein schmaler Grat aus Eis führte darüber …
"Dort!", rief Garush. "Die Eisbrücke! Wenn wir es auf die andere Seite schaffen …"
„Da rüber?“ Tariks Stimme klang aufrichtig entsetzt. „Bist du wahnsinnig?“
„Im Notfall hätte ich für uns alle einen Federfall-Zauber parat“, versicherte Yelmalis und griff nun seinerseits nach einem der Beine von F-45.
Sekhemkare gab zur Antwort ein Geräusch von sich, bei dem Dilae nicht sicher war, ob es ein nervöses Lachen oder ein empörtes Zischen sein sollte. Doch Garush schenkte dem keine Beachtung … Der Schlitten schoss aus der Schlucht heraus, direkt auf die fragil wirkende Eisbrücke zu. Hinter ihnen donnerten die Schritte der Yetis, die wieder aufgeholt hatten. Die Brücke ächzte und knarzte unter dem Gewicht des Schlittens. Risse begannen sich zu bilden. Dilae versteckte ihr Gesicht in den Händen und sprach ein Gebet an die Dunkle Maid. Sie hörte wie Garush die Wölfe zu einem letzten, verzweifelten Sprint antrieb. Tatsächlich erreichten sie das andere Ende – nur Sekunden bevor die Brücke mit einem ohrenbetäubenden Krachen hinter ihnen zusammenbrach. Der vorderste Yeti, mitten im Sprung, griff wild um sich, seine Klauen kratzten über das Eis, fanden aber keinen Halt. Mit einem erschrockenen Brüllen stürzte er in die Tiefe. Die beiden anderen Weißpelze blieben am Rand des Abgrunds stehen und schüttelten wütend ihre Fäuste. Garush trieb die Wölfe noch an, bis sie außer Sichtweite der verbliebenen Yetis waren, dann kam der Schlitten schlitternd zum Stehen. Tarik und Yelmalis auf der hinteren Bank hielten beide F-45 fest und waren dabei etwas näher aneinander heran gerutscht als jemals beabsichtigt. Es entging Dilae trotz ihres rasenden Herzschlages nicht, dass der Luftgenasi dem Tiefling entschuldigend zulächelte, als er wieder von ihm abrückte.
Sekhemkare hingegen sah zu Garush, seine Augen noch etwas schmaler als sonst. „Bist du des Irrsinns? Du hättest uns alle umbringen können!“
„Ach was.“ Die Amazone schob mit einem Grinsen ihre Hauer vor. „Du hast Yelmalis doch gehört: Zur Not Federfall. Außerdem ist doch alles gut gegangen, also hör auf, dich zu beschweren, Nehmer.“
Nun musste Dilae erleichtert lachen. „Und ich dachte, wir machen einfach mal eine gemütliche Schlittenfahrt. So viel dazu.“
„Allerdings.“ Tarik schmunzelte. „Und ich habe das Gefühl, das war nur der Anfang unserer Abenteuer auf dieser Ebene."




Kommentare
Kommentar veröffentlichen