"Es gibt eine Zeit für viele Worte, und es gibt auch eine Zeit für den Schlaf."
aus einem Olympischen Epos
Dritter Gildentag von Savorus, 126 HR
Die Eiswölfe zogen den Schlitten stetig durch die endlose Weite der Eisebene. Stunden waren vergangen, seit sie den Yetis entkommen waren, und die Anspannung der Verfolgungsjagd hatte einer erschöpften Stille Platz gemacht. Die Landschaft um sie herum hatte sich wenig verändert: Eine weite, weiße Schneefläche breitete sich vor ihnen aus, hier und da ragten gigantische Eisformationen wie stumme Wächter aus dem Schnee, ihre kristallinen Formen glitzernd im fahlen Licht. Dilae lehnte sich zurück, ihr Atem bildete kleine Wolken in der eisigen Luft. Sie beobachtete, wie Schneeflocken sanft vom Himmel fielen, jede ein winziges Kunstwerk aus Eis. Bis etwas anderes ihre Aufmerksamkeit erregte … Sie stieß sie einen leisen Ruf des Erstaunens aus und deutete nach oben. Hoch am Himmel, zwischen den Wolken, glitt majestätisch ein Frostphönix dahin. Seine Schwingen, die sich über zehn Meter spannten, schimmerten weiß, hellblau und türkis, während feine Eiskristalle von seinen Federn rieselten und in der Luft glitzerten. Dilae hatte von diesen Wesen in alten Liedern und Geschichten gehört – und auch davon wie selten ihr Anblick war. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen, als das legendäre Wesen über sie hinwegflog, fast als ob es ihre Reise segnen wollte.
Yelmalis Stimme durchbrach schließlich die andächtige Stille. „Ich hätte nicht geglaubt, dass ich jemals einen Frostphönix mit eigenen Augen sehen würde“, flüsterte er ehrfürchtig. „Sie sind eher ein Mythos als reale Geschöpfe.“
Mit seinem einen, großen Auge folgte F-45 aufmerksam den Bewegungen des wundervollen Vogels am Himmel. „Korrektur: Sie sind reale Geschöpfe, Meister. Die Wahrscheinlichkeit, ein solches Wesen zu sehen, beträgt allerdings auch hier auf der Eisebene nur eins zu zehntausend und fünfhundert zehn. Diese Häufigkeit wird in der Tat von den meisten Völkern unter dem wenig konkreten Begriff selten eingeordnet.“
Dilae war wie immer begeistert, wenn der kugelförmige Monodron derartige Analysen von sich gab, weil er sie so ernsthaft vortrug und gleichzeitig so niedlich dabei wirkte. Wie oft in diesen Momenten tätschelte sie seine Außenhülle und Yelmalis schüttelte mit einem milden Lächeln den Kopf.
Garush schnaubte leise, doch selbst in ihren Augen war die Bewunderung für den Frostphönix erkennbar. „Mythos hin oder her, wir sollten uns auf den Weg konzentrieren. Dort hinten zieht ein Sturm auf, und er wirkt bedrohlicher als der letzte. Ich bin nicht sicher, dass das Schutzdach des Schlittens das übersteht. Wir sollten einen sicheren Platz finden.“
Sie hatte Recht. Hinter ihnen verdunkelte sich bereits der Himmel, und ein eisiger Wind peitschte über die Ebene. Die Wölfe liefen schnell und ausdauernd, aber der herannahende Sturm war schneller. Tarik und Sekhemkare aktivierten mittels der Kristalle die magische Kuppel, doch als die volle Wucht des Unwetters sie erreicht hatte, flackerte die durchsichtige Barriere vernehmlich.
„Du hast Recht, Garush!“, rief Yelmalis gegen den heulenden Wind an. „Wir sollten irgendwo unterkommen!“
Dilae klammerte sich an die Seitenplanke. „Ja, wir müssen Schutz suchen! Der Schlitten wird das nicht mehr lange aushalten!“
Sekhemkare kniff die Augen zusammen und versuchte, durch den wirbelnden Schnee zu spähen. „Dort vorne!“ Er deutete auf einen Punkt schräg rechts vor ihnen. „Ich glaube, da ist eine Öffnung im Berg!“
Garush lenkte den Schlitten in die angegebene Richtung, und tatsächlich tauchte vor ihnen ein dunkler Spalt in einer Eiswand auf - der Eingang zu einer Höhle. Die Amazone trieb die Eiswölfe an und mit letzter Kraft zogen die Tiere den Schlitten in den schützenden Unterschlupf. Sie sprangen heraus und schoben ihr Gefährt vorsichtig so nahe wie möglich an die Höhlenwand. Dann spannten Garush und Tarik die Wölfe ab, damit diese sich ausruhen konnten. Es war relativ dunkel, daher beschwor Dilae ihre Mondlichtkugel, eine beruhigende, weiße Lichtquelle, die stets ein kleines Stück über ihrer Handfläche schwebte. In deren Schein entdeckten sie, dass an der gegenüberliegenden Wand noch ein Durchbruch war. Als sie vorsichtig hindurch gingen, öffnete sich der Gang nach wenigen Schritten zu einer gewaltigen Kaverne. Die Wände waren aus makellosem, bläulich schimmerndem Eis, so glatt und klar, dass sie wie polierte Spiegel wirkten. An der hohen Decke hingen massive Eiszapfen und der Boden war mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt, die unter ihren Schritten leise knirschte. Seltsamerweise brannten in regelmäßigen Abständen entlang der Wände blaue Flammen in kunstvoll gearbeiteten Eislaternen und tauchten die Umgebung in ein geheimnisvolles, flackerndes Licht.
„Die Höhle scheint bewohnt zu sein“, flüsterte Yelmalis. „Aber von wem? Es ist niemand zu sehen ...“ Die Schmetterlinge, die ihn stets umgaben, waren gerade hellblau und weiß und flogen sehr ruhig.
Tatsächlich wiesen nicht nur die brennenden Laternen auf Bewohner hin, sondern auch einige Tische aus geschliffenem Eis, auf denen sich Schalen mit Früchten und Nüssen befanden. Verstreut darum herum lagen Kissen und Decken am Boden, die einladende, gemütliche Lager bildeten. Die Luft war überraschend mild, ein starker Kontrast zur beißenden Kälte draußen. Ein schwacher Duft von Pinien und Winterbeeren hing in der Luft, vermischt mit einem Hauch von Moschus. Doch das Auffälligste war der der majestätische Thron, der sich im Zentrum der Höhle erhob, komplett aus Eis geformt. Zu beiden Seiten standen lebensgroße Eisskulpturen von Bären, so detailliert gearbeitet, dass man beinahe erwartete, sie würden jeden Moment zum Leben erwachen.
„Beim Licht der Dunklen Maid ...“, flüsterte Dilae, während ihr Blick über die glitzernden Wände, die Kissenlager und den Thron glitt. „Was ist das hier?“
„Unbekannt“, erwiderte F-45 sachlich, während er an Yelmalis Seite durch die große Eishalle schritt. Seine metallenen Füße klapperten auf dem gefrorenen Boden, wenngleich nur leise und gedämpft durch die Schneeschicht.
„Aber es ist ... atemberaubend", murmelte Tarik, den Blick auf die kunstvollen Eisskulpturen gerichtet.
Garush, wie immer wachsam, untersuchte den Raum hingegen mit scharfem Blick. „Schön ist es, ja. Aber wo ist der Besitzer?“
Sekhemkare ging mit vor Kälte steifen Bewegungen zu den Tischen hinüber und betrachtete die Schalen mit Früchten und Nüssen. „Frisch, aber ungefroren“, stellte er fest. „Jemand muss kürzlich hier gewesen sein.“
Yelmalis ging zu dem imposanten Eisthron und strich vorsichtig über die durchscheinenden Armlehnen „Wer auch immer hier lebt, es scheint jemand von Bedeutung sein.“
Sie durchsuchten die Höhle gründlich und riefen mehrmals, doch niemand antwortete. Die Stille war fast greifbar, nur unterbrochen vom fernen Heulen des Sturmes draußen, den man sogar hier noch hören konnte.
Nach einer Weile seufzte Yelmalis. „Wir sind alle erschöpft. Vielleicht sollten wir uns hier ausruhen und morgen weitersehen.“
Dilae nickte zustimmend. Zwar kam es ihr seltsam vor, dass die Höhle offenbar bewohnt, aber niemand zu sehen war, doch andererseits hatte Yelmalis Recht: Sie alle waren müde und brauchten dringend eine Pause. Und da draußen ein heftiger Sturm wütete, konnten sie ohnehin nicht weg.
„Also schön“, meinte Garush knapp. „Aber wir sollten vorsichtig sein. Wir stellen Wachen auf.“
Sie besprachen die Reihenfolge der Schichten und Tarik meldete sich freiwillig für die erste. Er setzte sich an einen der Eistische, während die anderen sich einen Platz auf den herumliegenden Kissen und Decken suchten.
„Sie sind überraschend warm“, bemerkte Yelmalis, als er sich hinlegte. „Wahrscheinlich ein Wärmezauber, denn ich spüre eine schwache arkane Signatur davon ausgehen.“
Sekhemkare wickelte sich in eine hellblaue, silbrig glänzende Decke ein. „Verdächtig komfortabel, wenn ihr mich fragt“, murmelte er. „Aber über eine Wärmequelle will ich mich nicht beschweren.“
Dilae verstand seine Bedenken. Es war wirklich merkwürdig, diesen Ort inmitten des eisigen Nichts vorzufinden. „Pass gut auf“, flüsterte sie Tarik daher zu.
Sie konnte noch sehen, wie Garush sich als letzte hinlegte, ihre Axt griffbereit, während ihr misstrauischer Blick noch einmal durch die Höhle schweifte. Dann vermischte sich das sanfte Atmen ihrer Freunde mit dem leisen Knistern der Eislaternen, eine beruhigende Melodie in der stillen Höhle. Draußen heulte der Sturm weiter, doch hier, umgeben von glitzerndem Eis und dem Schein der blauen Flammen, fühlte Dilae sich seltsam geborgen. Schon bald fielen ihr die Augen zu und sie sank in einen tiefen Schlaf.
Als Dilae wieder erwachte, kitzelte das Licht der Eislaternen ihre Lider. Sie blinzelte verschlafen, ihre Augen noch schwer von dem ungewöhnlich tiefen Schlummer. Als sie sich streckte und zur Seite drehte, fiel ihr Blick auf den Thron – und sie erstarrte.
„Bei der Dunklen Maid!“ Sie setzte sich ruckartig auf.
Auf dem zuvor leeren Thron saß nun eine gewaltige Gestalt – ein Eisbär von beeindruckender Größe, aufrecht, mit stählernen Schulterplatten und einer funkelnden Krone aus Eiskristallen auf dem mächtigen Haupt. Seine blauen Augen musterten die Gruppe mit ruhigem Interesse. Dilaes plötzliche Bewegung und der erschrockene Ausruf weckten auch die anderen. Yelmalis rutschte entsetzt ein Stück auf seiner Decke zurück, bis er gegen F-45 stieß, und seine Schmetterlinge flatterten äußerst hektisch um ihn herum. Sekhemkare zischte leise, während seine Zunge nervös hervorschnellte.
Garush war in Sekundenschnelle auf den Beinen, ihre Axt in der Hand. „Wer seid Ihr?“, rief die Amazone. Sie drehte den Kopf zu dem Eistisch, an dem Tarik zu Beginn seiner Wache gesessen hatte. Und dort war er offenbar auch eingenickt, denn auch er schreckte gerade erst aus seinem Schlummer hoch. „Was habt Ihr mit uns gemacht? Warum haben wir alle so tief geschlafen?“
Der Eisbär hob beschwichtigend eine Pranke. Als er sprach, war seine Stimme tief und melodisch, wie das Grollen eines fernen Gletschers. „Seid unbesorgt, Reisende. Ihr seid hier in Sicherheit. Der Sturm draußen ist gefährlich, meine Höhle bot Euch Schutz und dringend benötigte Ruhe.“
„Ach so?“ Die Halborkin funkelte ihn skeptisch an. „Und warum habt Ihr Euch dann nicht bei unserer Ankunft gezeigt? Warum schleicht Ihr Euch an uns heran, während wir schlafen?“ Sie sah strafend zu Tarik. „Und warum hast du überhaupt geschlafen? Du solltest mich doch wecken, damit ich dich ablöse!“
„Tut mir leid“, stotterte der Tiefling. „Ich verstehe das auch nicht ...“
„Er kann nichts dafür“, warf der Eisbär geduldig ein. „Es liegt an dieser Höhle. Eine Art Zauber liegt darüber, der sehr schläfrig machen kann. Nicht einmal der kleine Modron war dagegen gefeit.“
„Positiv“, bestätigte F-45 und wirkte dabei durchaus verwirrt. „Ich war offenbar für einige Stunden inaktiv.“
Yelmalis hatte seine Fassung inzwischen einigermaßen wiedererlangt und trat nun vorsichtig vor. „Verzeiht unsere Überraschung“, sagte er mit einer höflichen Verbeugung. „Wir sind noch ein wenig durcheinander … aber dankbar für Eure Gastfreundschaft.“
Garush warf dem Magier einen skeptischen Blick zu, senkte dann aber ihre Axt und ließ ihn reden. Dilae schmunzelte. In Situationen, die Takt, Fingerspitzengefühl und diplomatisches Geschick erforderten, waren es in der Regel sie selbst oder Yelmalis, die das Reden übernahmen. In diesem Fall ließ sie dem Luftgenasi gerne den Vortritt, um den beeindruckenden Eisbären genauer beobachten zu können.
„Ihr … sitzt auf einem Thron“, stellte Yelmalis nun behutsam fest. „Seid Ihr eine Art ... Herrscher?“
Ihr Gastgeber lachte leise, ein Geräusch wie brechendes Eis, das dennoch irgendwie warmherzig klang. „In gewisser Weise, ja. Ich bin der Anführer einer kleinen Gruppe von Eisbären in dieser Region. Mein Name ist Torvik. König ist vielleicht etwas hochtrabend, aber ich muss gestehen, der Titel gefällt mir.“ Er zwinkerte ihnen zu und langsam entspannte sich die Gruppe.
Sekhemkare, der bisher nur schweigend beobachtet hatte, nickte nun, noch steif durch die Kälte. „Es tut uns leid, dass wir in Eure Höhle eingedrungen sind. Der Sturm ...“
„Keine Entschuldigung nötig", unterbrach Torvik ihn freundlich.
„Und die anderen aus Eurem Volk?“, fragte Dilae neugierig. „Wohnen sie auch hier?“
Nun seufzte der Eisbärenkönig tief und erhob sich von seinem Thron. Seine massive Gestalt überragte selbst Garush um ein ganzes Stück. „Kommt, lasst mich Euch etwas zeigen.“
Er ging zu einer der schimmernden Eiswände und legte seine mächtige Pranke darauf. Zu Dilaes Erstaunen wurde das Eis plötzlich klar wie Glas und sie konnten in eine angrenzende Kammer blicken. Darin lagen viele Eisbären, zusammengerollt in tiefem Schlummer. Ihre Körper hoben und senkten sich kaum merklich, aber keiner rührte sich.
„Mein Volk“, erklärte der König, seine Stimme nun von einer tiefen Traurigkeit erfüllt. „Sie schlafen ... zu tief und zu lang. Und mit jedem Jahr wird es schwerer, sie zu wecken.“
Die Gruppe trat näher, fasziniert und beunruhigt zugleich von dem Anblick der schlafenden Bären. Dilae legte mitfühlend eine Hand auf Torviks Arm. „Was meint Ihr damit?“, fragte sie leise.
Der Eisbärenkönig drehte sich zu ihnen um. „Es ist eine lange und traurige Geschichte. Aber was erzähle ich da? Ihr habt ganz gewiss Eure eigenen Sorgen und Probleme, wenn Ihr an diesem abgelegenen Ort der Eisebene seid. Sagt mir, was führt Euch hierher?“
„Eine Mission“, antwortete Garush rasch, ehe einer der anderen etwas erwidern konnte. „Leider ist sie geheim und wir können daher nicht viel darüber erzählen.“
Dilae überlegte gerade, wie man Torvik dennoch unauffällig nach der Hüterin und dem Verkünder fragen konnte, als Tarik ihr zuvor kam. „Es … wachsen nicht zufällig Blumen aus Eis hier in der Nähe?“
„Eisblumen?“ Der Eisbärenkönig musterte den Tiefling interessiert. „Wie kommt Ihr darauf?“
„Ich hatte einen Traum, als ich vorhin … na ja, als ich bei meiner Wache eingeschlafen bin.“ Er sah entschuldigend zu Garush. „Ich sah eine Blume aus Eis, so klar wie Kristall und doch lebendig. Sie pulsierte in einem bläulichen Licht.“
Sekhemkare musterte Tarik aufmerksam. „Und hat dein Traum dir sonst noch etwas verraten?“
Der Tiefling schüttelte den Kopf. „Nur, dass sie wichtig ist. Für unsere Mission.“
„Also, nimm's mir nicht übel, Zeichner“, knurrte Garush. „Aber das sind immer solche Angaben, mit denen kann keiner was anfangen.“
Abwehrend hob Tarik die Hände, wie um zu unterstreichen, dass er nichts für die nebulösen Traumbotschaften konnte.
Torvik hingegen hatte aufgehorcht, als der Tiefling von seinem Traum erzählt hatte. „Könntet Ihr vielleicht die Gletscherrose gesehen haben?“, murmelte er.
F-45 stellte aufmerksam seine Flügel auf. „Ist diese Blume Euch bekannt, König der Eisbären?“
Torvik nickte langsam. „Ja, in der Tat ...“
„Würdet Ihr uns mehr darüber erzählen, Majestät?“, fragte Yelmalis höflich.
Der Eisbärenkönig musterte die Gruppe nachdenklich, dann kehrte er zu seinem Thron zurück und ließ sich langsam darauf nieder. „Vielleicht können wir uns gegenseitig helfen.“
Er winkte seine Gäste zu sich und sie traten näher, Yelmalis, Tarik und auch F-45 offenbar ebenso neugierig wie Dilae, Garush und Sekhemkare eher skeptisch.
Torvik lehnte sich zurück und dachte kurz nach, dann seufzte er und nickte. „Ich habe Euch meine schlafenden Artgenossen gezeigt … Seit Generationen liegt ein Fluch auf meinem Volk. Mit jedem Jahr fallen wir in einen tieferen Winterschlaf, aus dem wir schwerer erwachen. Ich fürchte, bald werden wir für immer einschlafen. Der Legende nach kann nur das Lied der Eisnachtigall den Fluch brechen. Doch dieser seltene Vogel lebt tief im Herzen des Kristallwaldes, bewacht von einer Yuki Onna, die uns nicht helfen will.“
„Warum nicht?“, fragte Garush in ihrer direkten Art. „Habt Ihr einen Zwist mit ihr?“
„So könnte man es nennen“, erwiderte Torvik betrübt. „Vor langer Zeit fiel eine Horde Feuerriesen durch ein Portal in diese Gegend ein. Wir versuchten, den Kristallwald zu schützen, mussten uns aber letztlich zurückziehen, um unsere Höhlen hier zu verteidigen. Die Yuki Onna fühlte sich daher von uns im Stich gelassen und hegt noch immer einen Groll gegen uns. Ob sie es auch war, die den Fluch des Winterschlafs über uns gebracht hat, kann ich nicht sagen. Doch auf jeden Fall will sie uns nicht helfen, ihn zu brechen.“
Yelmalis nickte verstehend. „Das ist natürlich … ungünstig, um es beschönigend auszudrücken. Und nun möchtet Ihr, dass wir die Eisnachtigall finden und zu Euch bringen?“
„Genau“, bestätigte der König. „Bitte bringt uns die Eisnachtigall und rettet mein Volk vor dem ewigen Schlaf. Im Gegenzug werde ich Euch verraten, wo Ihr die Gletscherrose findet.“
Dilae nickte sachte, wollte aber nicht für die anderen sprechen und warf daher einen fragenden Blick in die Runde. Yelmalis und Tarik nickten lächelnd, während Sekhemkare eine Geste machte, die wahrscheinlich ausdrücken sollte, dass sie ohnehin keine andere Wahl hatten. F-45 wiegte sich einmal nach vorne und dann wieder nach hinten, was Dilae als Zustimmung zu deuten gelernt hatte. Zuletzt wanderte ihr Blick zu Garush.
Die Amazone nickte knapp. „Wir werden Euch helfen, Majestät. Wie finden wir den Kristallwald?“
Der Eisbärenkönig erhob sich mit einem Lächeln, dann holte er etwas aus einem verborgenen Fach in einer der Armlehnen seines Thrones. Es handelte sich um einen faustgroßen Kristall aus klarem Eis, in dessen Innerem eine winzige, filigrane Schneeflocke aus Silber schwebte. „Dies ist der Kompass des Nordwinds“, erklärte er. „Er ist bereits auf den Kristallwald gerichtet. Sobald ihr die Höhle verlasst, wird sich die Schneeflocke von ihrer Position lösen und zur der Facette des Eiskristalls schweben, die dem Kristallwald am nächsten ist. In der Nähe von Gefahren wie dünnem Eis oder versteckten Spalten wird der Kristall zudem leicht vibrieren, um Euch zu warnen.“
Er überreichte den Kompass an Dilae, die ihn mit ausgestreckten Händen vorsichtig entgegennahm. „Danke, Majestät“, sagte sie. „Dann werden wir die Eisnachtigall finden und zu Euch bringen, auf dass der Fluch gebrochen werde.“
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Das Olympische Epos, aus dem das Anfangszitat stammt, ist die Odyssee.





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