„Arrogante Käfigbewohner. Glauben die wirklich, dass sie damit davonkommen, mein Geschirr zu zerbrechen?
Nun, offensichtlich ... sind sie das."
Cha-drik, Thri-kreen-Wirt in Bexrey
Dritter Kuratorentag von Savorus, 126 HR
Nach der turbulenten Jagd auf den Minotaurus Donnerhorn und dem unverhofften Bündnis mit der Blutjägerin Síkhara beschloss die Gruppe, sich aufzuteilen: Krystall und Rakalla wollten nach einem Geschäft fragen, in dem sie die benötigten Ersatzteile kaufen konnten. Schwarzhuf und Zamakis hingegen halfen Síkhara, den inzwischen gefesselten Donnerhorn zu dem Portal zu bringen, das zum Auftraggeber der Feuergenasi führte. Zwar war Schwarzhuf ein wenig kleiner als sein grau-felliger Artgenosse, doch stark genug, um Síkhara zu unterstützen, sollte Donnerhorn auf dem Weg zum Portal auf dumme Gedanken kommen. Und zur Not stand Zamakis mit einem weiteren Schlafzauber bereit. Die Blutjägerin schien durchaus zufrieden über die unerwartete Hilfe zu sein. Sie verriet, dass sie ansonsten kaum eine andere Wahl gehabt hätte, als den grauen Minotaurus zu töten und dessen Hörner mit ihren unverwechselbaren Schnitzereien abzugeben. Doch auch wenn Donnerhorn ein brutaler und gefährlicher Verbrecher war, so zog sie es offenbar dennoch vor, ihn lebend auszuliefern. Ein Punkt, der in Krystalls Augen eindeutig für die Feuergenasi sprach.
So verabschiedeten sie und die Medusa sich vorerst von den anderen und begannen, sich nach einem Händler für mechanische Ersatzteile durchzufragen. Figaro hatte ihnen glücklicherweise genaue Skizzen angefertigt und die Bezeichnungen der benötigten Teile dazu notiert. Sie brauchten dennoch ein paar Anläufe, ehe sie einen Laden fanden, in dem ihnen ein mürrischer alter Tiefling die gesuchten Stücke verkaufte. Krystall war sich ziemlich sicher, dass sie nach Strich und Faden übers Ohr gehauen wurden und der Händler ihnen viel zu viel Klimper abnahm. Aber da sie es ohnehin schon eilig hatten und sie nach ihrem Auftritt bei der Jagd auf Donnerhuf auch nicht länger als nötig in Bexrey bleiben wollten, schob Krystall dem Mann die geforderten Münzen über die Ladentheke und packte die Ersatzteile ein. Rakalla murmelte etwas von einer bodenlosen Frechheit und der Option eines kurzen, verstohlenen Medusenblicks, doch Krystall konnte sie beruhigen und überzeugen, ohne Vergeltungsaktionen zum Barrakuda zurückzukehren.
Dort angekommen war sie mehr als erleichtert, als Krixxi ihnen mitteilte, dass sie die richtigen Ersatzteile besorgt hatten und die Liste auch vollständig war. So konnten die Goblinfrau und Figaro die letzten Reparaturen am Antrieb erfolgreich durchführen. Wenig später kamen auch Schwarzhuf und Zamakis zurück – ohne Donnerhuf, aber mit Síkhara, wie abgemacht. Die Vampirin berichtete, dass das von der Blutjägerin genannte Portal nach Eisengrat geführt hatte, eine Stadt am Fuße der Zwergenberge. Dort hatte die Feuergenasi den Minotaurus an einen älteren Zwerg überstellt, interessanterweise aber keinen Lohn eingesammelt und war dann mit dem Schwarzhuf und Zamakis umgehend nach Bexrey zurück gekehrt. Krystall atmete auf. Ausnahmsweise lief einmal etwas glatt und nach Plan, aber sie hütete sich, dies laut auszusprechen, um keine Schicksalsgottheit zu verärgern. Die Nornen hatten ihr Reich immerhin in den Außenländern, wie ein jeder wusste. Krixxi und Figaro arbeiteten bis spät in die Nacht am Antrieb, während Krystall Síkhara ein Zimmer im Wohnturm zeigte, das sie während des Fluges bewohnen konnte. Dann ließ sie die Blutjägerin erst einmal alleine, um das Erlebte in Ruhe zu sortieren. Das musste sie selbst auch und war daher dankbar, dass Rakalla sich ihren Elixieren widmete und Zamakis sich in ein Buch vertiefte. Schwarzhuf verschwand in der Küche und sie störte ihn dort nur kurz, um sich einen starken Kaffee aufzubrühen. Jedoch verspürte sie das Bedürfnis, doch ein paar Worte mit ihrem neuen Passagier zu wechseln, daher machte sie noch eine zweite Tasse Kaffee und ging mit dieser zu Síkharas Zimmer. Als sie anklopfte, antwortete die rauchige Stimme der Feuergenasi sogleich mit einem „Herein“.
„Tut mir leid, dass ich doch gleich wieder störe“, meinte Krystall entschuldigend. „Aber wir haben uns vorhin unter ziemlich verrückten Umständen kennen gelernt. Da dachte ich mir, warum wiederholen wir das nicht noch einmal in ruhiger?“
Sie bot Síkhara den Kaffee an, den diese dankend entgegen nahm und dann auf einen der Stühle an dem kleinen Tisch in ihrer Koje wies. Sie selbst zog sich einen nahen Hocker heran und nahm ebenso Platz.
„Sicher, warum nicht?“ Die Feuergenasi nickte. „Was willst du denn über mich wissen?“
„He, langsam.“ Krystall lachte. „So wie du das sagst, klingt es, als wäre ich bei den Dickschädeln.“
Síkhara schmunzelte, aber der Anführerin der Klingenengel entging nicht, dass hinter ihrem Blick etwas Forschendes und Taxierendes lag. Mit Sicherheit würde die Feuergenasi in diesem Gespräch auch versuchen, etwas über sie herauszufinden. Doch außer ihrer Bundzugehörigkeit hatte Krystall im Grunde nichts zu verbergen, daher erwiderte sie das Lächeln offen.
„Das heißt, du bist schonmal nicht vom Harmonium“, meinte Síkhara. „Soll mir recht sein. Ich bin zwar nur ab und an in Sigil und versuche, da keinem in die Quere zu kommen. Aber als Blutjägerin ist nun einmal Selbstjustiz so ein bisschen mein Ding und das kommt bei den Dickschädeln nicht gut an.“
Krystall musste lachen. „Das kannst du laut sagen. Ehrlich gesagt ist Selbstjustiz nämlich auch mein Ding und … na ja, sagen wir, ich hab's nicht so mit der Triade der Ordnung. Blutjägerin, … ja das hast du schon in der Taverne erwähnt. Darf ich fragen, von welchem Orden?“
„Geisterjäger“, antwortete Síkhara bereitwillig. „Und ja, ich weiß, damit fiel Donnerhorn nicht unbedingt in mein Beuteschema. Es war eher eine Gefälligkeit für einen alten Freund. Eine kostenlose, also tatsächlich ein Freundschaftsdienst. Und woher kennst du den Kerl?“
„Aus Sigil“, erwiderte Krystall. „Meine Gruppe – wir nennen uns die Klingenengel – hatte Ärger mit ihm.“
Die Feuergenasi musterte sie aufmerksam und durchdringend mit ihren türkis-grünen Augen. „Mehr als nur Ärger, hm? Ich hab deine Reaktion in der Taverne gesehen. Die kenne ich gut. Das war was zutiefst Persönliches.“
Krystalls Gedanken wanderten zurück zu jenem Tag, zu dem getöteten Kameraden, einem jungen Mann, der noch nicht einmal die zwanzig erreicht hatte. „Hast Recht“, erwiderte sie ernst. „Es war sehr persönlich. Und ich bin froh, dass es vorbei ist. Ich hoffe, er wird seine Taten bereuen, wo auch immer du ihn hingebracht hast.“
„Da kannst du sicher sein.“ Síkhara nahm einen großen Schluck Kaffee und musterte Krystall forschend, aber offenbar mit einer gewissen Sympathie. „Die Klingenengel, hm? Dann gehörst du nicht zu einem Bund?“
„Nein, kein Bund.“ Krystall schüttelte den Kopf. Gemäß ihrer eigenen Definition war das nicht einmal eine Lüge. „Und du?“
„Auch nicht“, antwortete die Blutjägerin. „Rein philosophisch gesehen würde ich mich wahrscheinlich am ehesten den Athar zuordnen oder den Beobachtern von der Schicksalsgarde. Obwohl ein Freund von mir, der bei den Sinkern ist, immer meint, ich wäre eher eine Bewahrerin, weil ich ständig die Entropie aufhalte.“ Sie grinste kurz. „Die Medusa ist auch eine Schicksalsgardistin, oder? Hab ihr Bundabzeichen gesehen.“
„Das stimmt“, bestätigte Krystall. „Wenn du einen Freund bei den Sinkern hast, frag sie doch mal nach ihm. Vielleicht habt ihr gemeinsame Bekannte.“
„Wer weiß?“ Síkhara nickte. „Er heißt Haer'Dalis.“
„Den Namen hat sie mal erwähnt, da bin ich sicher.“
„Hm.“ Die Feuergenasi leerte ihren Kaffee und blickte dann eine Weile nachdenklich auf die Tischplatte. „Gut zu wissen. Vielleicht sollte ich der Stadt der Türen mal wieder einen Besuch abstatten.“
Krystall lächelte. „Du bist herzlich eingeladen, uns zu begleiten, nachdem wir ...“
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und eine aufgeregte Goblinfrau streckte ihren pinken Schopf herein. „Wir sind fertig!“, rief sie triumphierend, mit schmutzigen Händen und Ölresten im Haar. „Der Antrieb läuft wieder. Und Schwarzhuf hat endlich meine Pfannkuchen gemacht! Wollt ihr auch welche?“
Krystall musste lachen und warf Síkhara einen fragenden Blick zu. Als diese nickte, standen sie auf, um Krixxi in die Küche zu folgen. Der Flug würde noch genug Gelegenheit für weitere Gespräche bieten.
Síkhara hatte offenbar nicht zu viel versprochen, als sie behauptet hatte, die Gegend gut zu kennen. Nachdem sie sich von der Crew der Wolkenlied verabschiedet hatten, wies sie Krixxi zielsicher an, wohin sie den Barrakuda steuern sollte. Zum Glück gab es dieses Mal wenige Zwischenfälle während es Fluges. Einmal mussten sie den Fisch durch einige gefährliche Luftströme navigieren. Und einmal begegneten sie einem Schwarm Ätherfische. Der Barrakuda hatte eine Wolkenbank durchquert und sich plötzlich inmitten eines Schwarms leuchtender Fische wiedergefunden, die sich ebenso mühelos durch die Luft bewegten wie gewöhnliche Schwärme durch Wasser. Die Ätherfische waren harmlos, aber neugierig. Sie umkreisten das Schiff und ihr ätherisches Leuchten störte kurzzeitig die Navigationsinstrumente. Zudem drangen ein paar besonders vorwitzige Exemplare ins Innere des Schiffes ein und mussten von Krystall, Schwarzhuf und Síkhara mühsam wieder hinaus gelockt werden. Zum Glück half ein von Rakalla gebrautes, leuchtendes Elixier dabei. Bis auf diese eher harmlosen Zwischenfälle aber verlief die Reise ohne Störungen.
Gegen Abend deutete Síkhara dann zum Horizont, wo sich dichter Nebel ballte. „Dort“, meinte sie. „In diesem Dunst liegt Schleierfels. Wir sollten sehr vorsichtig heran fliegen, denn die Sichtverhältnisse sind dort wirklich schlecht.“
Krystall gab diese Information an Krixxi und Figaro weiter, und die beiden drosselten sofort die Geschwindigkeit. Behutsam steuerten sie den fliegenden Fisch an die Dunstschwaden heran, und als der Barrakuda die letzte Nebelbank durchbrach, lag sie plötzlich vor ihnen: die schwebende Insel Schleierfels. Es handelte sich offenbar um eine große Erdscholle von einigen Meilen Durchmesser. Ein paar zackige Felsspitzen bildeten am spitzewärtigen Rand ein kleines Gebirge, ansonsten war die Insel offenbar größtenteils mit dichtem Wald bedeckt. Krixxi steuerte das Gefährt vorsichtig auf eine Lichtung zu, die sie von Bord des Barrakuda aus erkennen konnten. Sie beschlossen, nicht zu landen, sondern den Fisch im Schwebemodus zu belassen und mit Seilen an den starken Ästen einiger Bäume zu befestigen. Beim Herunterklettern über eine Strickleiter ließ sich Figaro, wenn auch sichtlich ungerne, von Krystall tragen. Während der Abstieg für Rakalla, Krixxi, Zamakis und Síkhara kein Problem darstellte, machte er Schwarzhuf mehr zu schaffen und der Minotaurus fluchte mehrmals schnaubend, als er um den Halt auf der Leiter kämpfte. Doch sie hielt und er kam unversehrt unten an. Als das Surren der Maschinen über ihnen verstummte, legte sich eine unheimliche Stille über die Lichtung. Sie waren umgeben von uralten, knorrigen Bäumen, deren Äste sich wie schützende Arme über den Rand der freien Fläche streckten. Weiches Moos auf dem Boden dämpfte jeden Schritt und verströmte einen erdigen Duft. Hier und da ragten seltsam geformte, glatte Felsen aus dem Grund, bedeckt von abstrakten Mustern, die jemand offenbar schon vor langer Zeit hinein gemeißelt hatte. Dazwischen wuchsen hohe Gräser in verschiedenen Blautönen und kleine Blumen mit durchscheinenden Blütenblättern, die wie winzige Laternen leuchteten. Der allgegenwärtige Nebel umgab die Lichtung wie eine Wand, dicht genug, um die Welt jenseits der Bäume in geheimnisvolles Zwielicht zu hüllen. Gelegentlich huschten schattenhafte Formen durch den Nebel, zu flüchtig, um sie genau zu erkennen.
Síkhara blieb einen Moment stehen und sah sich um, ihre flammenden Haare wie ein Leuchtfeuer in der grauen Umgebung. „Seid vorsichtig“, murmelte sie. „Dieser Ort ... er fühlt sich seltsam an.“
Als sie die Lichtung überquerten, wurde klar, was die Blutjägerin gemeint hatte. Der Nebel schien auf ihre Anwesenheit zu reagieren. Er wich vor ihren Schritten zurück, nur um sich hinter ihnen wieder zu schließen, als wollte er ihnen den Rückweg abschneiden.
Dann blieb Krixxi plötzlich mit weit aufgerissenen Augen stehen. „Seht ihr das?“, flüsterte sie. „Der Nebel ... er bewegt sich. Nicht wie vom Wind getrieben, sondern ... als wäre er lebendig.“
Krystall runzelte die Stirn, sah genauer hin … und tatsächlich schienen sich im Nebel Formen zu bilden - flüchtige Gesichter, greifende Hände, die sich auflösten, sobald man sie berühren wollte. „Faszinierend“, murmelte Figaro. „Ich habe noch nie etwas Derartiges gesehen.“
Ein plötzliches Rascheln im Unterholz ließ alle zusammenzucken. Schwarzhuf schnaubte nervös, während Krystall und Síkhara instinktiv ihre Waffen zogen. Doch nichts erschien.
„Ruhig bleiben“, mahnte die Feuergenasi, obwohl auch ihre Stimme angespannt klang. „Wir müssen zusammenbleiben und einen klaren Kopf bewahren.“
Krixxi und Figaro tauschten einen besorgten Blick aus. „Vielleicht war es doch keine so gute Idee, den Barrakuda zu verlassen“, piepste die Goblinfrau, die sich ganz dicht bei Schwarzhuf hielt.
Doch Krystall schüttelte den Kopf. „Nein, wir müssen weitergehen. Wir sind hier richtig. Aber was auch immer wir hier zu finden hoffen, es wird sich nicht von selbst zeigen.“
So setzten sie ihren Weg fort, und jeder Schritt war ein Schritt weiter weg von der Sicherheit des Barrakuda und tiefer hinein in das Herz von Schleierfels.
Nach einer Weile war es diesmal Zamakis, die stehen blieb. „Seht“, flüsterte sie und deutete auf einen Punkt im Nebel.
Dort, wo eben noch dichter Dunst gewogt hatte, öffnete sich nun eine Art Fenster. Es war, als habe
man eine angelaufene Scheibe mit dem Ärmel abgewischt und könne nun in das erleuchtete Innere eines Hauses blicken. Staunend beobachteten sie eine Gruppe geisterhafter Gestalten in fremdartigen Gewändern durch dieses Fenster im Nebel.
„Milanis Dorn“, flüsterte Krystall. „Was ist das?“
Síkhara musterte die Erscheinung aufmerksam, aus ihren flammenden Haaren sprühten Funken. „Das muss der Grund sein, warum Schleierfels so berühmt - und gefürchtet – ist“, meinte sie. „Die Insel ist ein Realitätsanker.“
„Ein was?“, fragte Rakalla, während sie fasziniert zusah, wie die Geistergestalten begannen, den Grundstein für ein gewaltiges Gebäude zu legen.
„Ein Realitätsanker“, wiederholte Síkhara. „Die Legende erzählt, an Orten wie diesem haben sich Ereignisse so tief in das Gefüge der Realität eingebrannt, dass sie immer wieder als Echos erscheinen. Wir sehen gerade den Bau eines Tempels, vor Hunderten, vielleicht Tausenden von Jahren.“
Kaum hatte sie ausgesprochen, löste sich die Szene auf, nur um einem neuen Fenster Platz zu machen. Dieses Mal sahen sie eine Gruppe von Personen, die mit staunenden Augen die schwebende Insel erkundeten.
„Vielleicht die ersten Bewohner“, murmelte Krystall. „Unglaublich.“
Wachsam setzten sie ihren Weg fort, vorbei an immer neuen Fenstern. Sie sahen prächtige Zeremonien, heftige Kämpfe, friedliche Versammlungen - ein Kaleidoskop der Geschichte von Schleierfels. Doch inzwischen wirkte die Insel düster und verlassen – diese Tage schienen lang zurück zu liegen.
Bei einem der Fenster blieb Schwarzhuf erneut stehen. „Seht ihr?“ Er deutete auf eine Szene, in der mehrere Personen in den Tempel gingen … nein, eher flohen, den sie bereits zuvor gesehen hatten. „Dieser Tempel scheint für die früheren Bewohner wichtig gewesen zu sein.“
Figaro nickte nachdenklich. „Möglicherweise ein Zufluchtsort. Diese Leute scheinen dort Schutz zu suchen.“
Sie passierten noch einige weitere der mysteriösen Fenster, dann lichtete sich der Nebel, wie ein schwerer Vorhang, der zur Seite gezogen wird und vor ihnen ragte der Tempel auf, den sie in einigen der Visionen gesehen hatten - massiv, uralt, teilweise verfallen. In diesem Moment überlappten sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für einen Atemzug. Sie sahen den Tempel, wie er gewesen war, als er gebaut wurde, wie er jetzt war und wie er sein würde, wenn er noch weiter verfiel - alles in einem einzigen, überwältigenden Augenblick. Doch die Ehrfurcht, die dieser Moment verursachte, wurde schnell von einem Gefühl der Entmutigung abgelöst. Zwischen ihnen und ihrem Ziel klaffte eine tiefe Schlucht, deren Boden in undurchdringlichem Nebel verborgen lag ...
„Ach, bei allen Abgründen der Abyss“, fluchte Rakalla. „Wie sollen wir da hinüberkommen?“
Doch kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, da begannen winzige Lichtpunkte im Nebel zu tanzen. Wie Glühwürmchen in einer Sommernacht schwebten sie umher, zunächst ziellos, dann mit zunehmender Bestimmtheit.
„Seht nur!“, rief Krixxi aufgeregt und deutete mit ihren kleinen grünen Fingern auf das Schauspiel.
Vor ihren staunenden Augen sammelten sich die Funken und begannen, eine Form anzunehmen. Ein schmaler Pfad wuchs über die Schlucht wie eine Brücke aus reinem Licht.
Síkhara trat vorsichtig näher an den Rand des Abgrunds. „Ich habe von solchen Erscheinungen gehört“, flüsterte sie. „Aber ich hielt sie für Legenden.“
Zamakis ging neben dem leuchtenden Pfad in die Knie und streckte vorsichtig eine Hand aus. „Er ist fest … Vermutlich könnte man auf diesem Weg hinüber gehen.“
Krystall nickte und setzte einen Stiefel auf die magische Brücke, um die Vermutung der Vampirin zu testen. Sie konnte ihren Fuß wie auf festem Grund darauf abstellen. „Scheint sicher zu sein", meine sie.
Schwarzhuf schnaubte nervös. „Sicher? Das Ding schwebt in der Luft!“
Doch die Anführerin der Klingenengel atmete einmal tief durch und schickte ein kurzes Gebet an ihre Göttin Milani. Dann tat sie beherzt einen Schritt nach vorn … Sie spürte, wie ihr Herz einen kurzen Sprung machte, wie sich ihr Magen zusammenzog, in der Befürchtung, sie könnte doch stürzen … Sie hörte Krixxi hinter sich erschrocken aufschreien … Doch sie stand sicher auf der Brücke, dem Pfad aus magischem Licht oder wie auch immer man es nennen wollte.
Begeistert sah sie sich zu den anderen um. „Seht ihr? Es funktioniert! Wir können einfach hinüber gehen!“
Síkhara maß sie mit einem anerkennenden Blick. „Eines ist klar“, sagte sie. „Du hast wirklich Mut.“
Krystall spürte, wie sie ob dieses Lobes ein wenig errötete und lächelte kurz, ehe sie den Blick rasch wieder nach vorne wandte. Entschlossen ging sie los und mit jedem Schritt leuchtete die Lichtbrücke sacht unter ihren Füßen.
„Unglaublich“, murmelte Rakalla, während sie vorsichtig folgte.
Auch Síkhara, Zamakis und Krixxi wagten sich nun auf die Brücke, während Figaro noch ein wenig zögerte, dann aber hinter der Goblin Mechanikerin her trippelte. Schwarzhuf betrat den Übergang als letzter und wirkte alles andere als glücklich dabei. Doch zu ihrem Erstaunen bemerkten sie, dass der Weg sich anpasste und etwas breiter wurde, als der Minotaurus ihn betrat. Die Überquerung der Brücke war jedoch trotz ihrer eindeutigen Stabilität eine surreale Erfahrung. Unter ihren Füßen konnten sie durch das schimmernde Licht hindurch die nebelverhüllten Tiefen der Schlucht sehen. Das sanfte Pulsieren begleitete jeden ihrer Schritte. Doch sie kamen alle sicher am anderen Ende der Schlucht an. Nachdem Schwarzhuf als Letzter das weiche Moos betreten hatte, löste sich die Brücke hinter ihnen auf, zerfiel in unzählige Lichtpunkte, die im Nebel verschwanden. Schweigend, noch immer überwältigt von dem, was sie gerade erlebt hatten, näherten sie sich nun dem Tempel, der majestätisch vor ihnen aufragte, ein imposantes Bauwerk, das die Zeiten überdauert hatte. Seine Mauern bestanden aus massiven Steinblöcken, die im diffusen Licht der Insel sanft schimmerten. Die Oberfläche der Steine war mit feinen, sich windenden Linien überzogen, die an Landkarten erinnerten. Hohe, schlanke Türme flankierten das Hauptgebäude, ihre Spitzen verloren sich im Nebel.
Langsam stiegen sie die breite Treppe zum Haupteingang empor. Die massive Eingangstür bestand aus zwei gewaltigen hölzernen Flügeln, die jedoch nicht verschlossen, sondern nur angelehnt waren. Krystall atmete einmal tief durch, dann drückte sie einen der Türflügel noch ein wenig weiter auf und trat ein. Die Eingangshalle des Tempels war sehr groß, die Decke so hoch, dass sie sich fast im Dunkel verlor. Säulen, die wie gewachsene Kristalle wirkten, stützten das Gewölbe und reflektierten das Licht, das Rakalla mit einem ihrer Elixiere erzeugte. In der Mitte der Halle befand sich ein kreisförmiges Mosaik, das die Gesamtheit der Äußeren Ebenen zeigte. Nischen mit Statuen befanden sich in den Wänden, doch ihre Herkunft oder Bedeutung konnte Krystall nicht zuordnen.
„Dieser Tempel muss wirklich alt sein“, flüsterte Rakalla mit gedämpfter Stimme.
Die anderen nickten, doch wagte niemand, die lastende Stille zu stören, so als sei der Tempel noch immer ein Ort der Anbetung und Andacht. Krystall führte die Gruppe vorsichtig tiefer in das Heiligtum. Ihre Schritte hallten leise auf dem Steinboden wider, und noch immer hing ein schwacher Duft von Weihrauch in der Luft, zeitlos und beständig.
Dann blieb Zamakis stehen und hob warnend die Hand. „Da vorne ist jemand.“
Und tatsächlich konnten sie am andere Ende der Halle nun zwei humanoide Gestalten ausmachen. Als sie sich vorsichtig, fast zögernd näherten, erkannten sie eine Lupinal und einen menschlichen Mann in voller Rüstung. Sie hatte hellgraues Fell und trug ein türkis-grünes Kleid, er hatte etwa kinnlanges, blondes Haar und sein Brustpanzer war mit goldenen Löwen verziert.
„Sind sie das?“, wisperte Krixxi aufgeregt. „Die Hüterin und der Verkünder?“
Síkhara warf ihr einen irritierten Blick zu. „Wer bitte?“
Krystall biss sich auf die Lippen. Eigentlich war das eine geheime Mission - und der Tempel wahrscheinlich deren Ziel. Dass jemand dabei war, der nicht um die Prophezeiung und die Göttermaschine wusste, war so nicht geplant gewesen. Wie so vieles, das sie unternommen hatten … Doch sie konnte die Blutjägerin nun ja schlecht einfach wegschicken – und eigentlich wollte sie das auch nicht.
So trat die Anführerin der Klingenengel vor, ihre Stimme fest, trotz der Aufregung, die sie empfand. „Wir sind gekommen, um Euch zu finden. Ein ... ein Verstorbener hat zu uns gesprochen und uns den Weg hierher gewiesen.“
Die Lupinal tat einen Schritt auf sie zu und lächelte warm. „Ich bin Lady Elyria, die Hüterin. Willkommen, Erwählte."
Der Paladin an ihrer Seite neigte leicht den Kopf. „Und ich bin Sir Lorias, der Verkünder. Wir haben Euer Kommen erwartet.“
Sie traten ganz heran und verneigten sich zum Gruße, Krystall und Figaro höflich und respektvoll, Zamakis und Rakalla eher vorsichtig und wachsam, Schwarzhuf ein wenig unbeholfen und Krixxi voll kindlicher Begeisterung. Síkhara wirkte verwirrt und irritiert, erwiderte die Begrüßung jedoch ebenso.
Elyria ließ ihren Blick verwundert über die Gruppe schweifen. „Ihr seid sieben“, stellte sie fest. „Irgendetwas … stimmt hier nicht.“
„Ja, das ...“ Krystall seufzte und schob ihren Hut ein wenig in den Nacken. „Wir sollten da vielleicht etwas erklären ...“





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