Als Anarchie gelten alle bewussten Handlungen, die direkt oder indirekt das Ziel haben oder zu dem Ziel tendieren, die regierenden Institutionen von Sigil, also die Bünde, zu destabilisieren oder zu schädigen. Jeder Bund steht für einen wichtigen Aspekt von Sigil, daher ist ein Angriff auf die Bünde oder auf einen der Bünde ein Angriff auf Sigil selbst. Darauf steht die Todesstrafe ohne Möglichkeit der Berufung oder Begnadigung.“

Punkt 4 unter „Die Fünf Größeren Vergehen in Sigil“, so erlassen - 496 HR

 


 

Dritter Markttag von Savorus, 126 HR

Nachdem Abaia sich an dem Hasen, dem Fuchs, einem Honigdachs und einem weiteren Hasen gütlich getan hatte, schien er einigermaßen gesättigt zu sein. Der Tag neigte sich inzwischen seinem Ende, und die Strahlen der sinkenden Sonne schmückten die Orebhügel mit einem Saum aus Gold. So beschlossen sie, ein Lager aufzuschlagen und die Suche nach dem Phönix am folgenden Tag fortzusetzen. Sie nahmen sich etwas von dem Proviant, den man ihnen im Conclave Fidelis mitgegeben hatte, und entzündeten ein kleines Feuer, über dem Kiyoshi Wasser für einen Tee aufkochte. Abaia kauerte sich ein Stück entfernt zusammen und schien alsbald zu schlafen, während die Erwählten sich um die Feuerstelle scharten. Als sie dann alle im Kreis zusammensaßen und einen dampfenden Becher Tee in den Händen hielten, sah Sgillin ungewöhnlich ernst in die Runde und atmete tief durch.

„Da wir gerade so harmonisch hier sitzen“, meinte er, „glaube ich, ich sollte euch etwas erzählen.“

In Lereias Augen trat ein besorgter Ausdruck. „Ist etwas passiert, Liebster?“

„Hm, ja.“ Der Halbelf seufzte. „Das könnte man so sagen.“

Morânia wechselte einen kurzen Blick mit Naghûl. Sgillin machte tatsächlich einen ziemlich betretenen Eindruck, der untypisch für ihn war. Auch ihr Mann warf dem Waldläufer einen verwunderten Blick zu.

„Ich denke, wir können über alles reden, mein Freund.“

„Mal sehen, ob du nach dem Gespräch auch noch so denkst“, entgegnete Sgillin bedrückt.

Lereia blickte nun noch besorgter drein, schien aber ebenso wenig wie die anderen zu wissen, worum es ging.

Jana nippte nur immer wieder an ihrem Tee und sah über den Rand des Bechers hinweg zu Sgillin. Kiyoshis Miene war unbewegt wie so oft. Auf die Bemerkung des Halbelfen hin winkte Naghûl nur beschwichtigend ab und nickte ihm auffordernd zu.

Sgillin zögerte noch kurz, gab sich dann aber einen Ruck „Vielleicht erinnert ihr euch, dass ich, kurz bevor wir ins Elysium aufgebrochen sind, noch einmal weg war.“

Etwas an seinem Tonfall beunruhigte Morânia, doch sie hob nur sacht eine ihrer goldblonden Brauen. Ihr entging nicht, dass Kiyoshi Sgillin nun wachsamer zu mustern schien.

Naghûl hingegen hob unbekümmert die Schultern. „Na ja, ist doch normal. Keiner von uns ist ein Leibeigener ... Na gut, vielleicht der Prophezeiung, aber du kannst gehen, wohin du willst.“

Lereia nippte an ihrem Tee und sah Sgillin schweigend an, sie wirkte dabei jedoch ungewöhnlich angespannt.

„Während dieses ... na ja ... sagen wir mal Ausfluges ... passierte es wieder“, fuhr der Halbelf fort. „Ich habe den Körper mit einer anderen Person getauscht.“

„Hoffentlich nicht mit Skall oder so?“ Morânia wollte die Frage scherzhaft klingen lassen, bemerkte aber, dass es am Ende doch zumindest halbwegs ernst gemeint klang.

Sgillin blickte sie auch prompt düster an. „Nein, nicht mit Skall ... aber was ich so gehört und vor allem erlebt habe ... ist der Unterschied nicht der größte.“

„Was?“ Die Bal'aasi stellte ihren Tee ab. „Sgillin, du machst mir Angst. Was ist passiert?“

„Sgillin hat heute einen Hang zum Dramatischen“, warf Naghûl ein, während Lereia unruhig mit den Fingerspitzen an den Rand ihres Bechers klopfte.

Der Halbelf holte noch einmal tief Luft, ehe er antwortete. „Es war ... Shemeshka.“

Morânia runzelte die Stirn und fasste ihn genauer ins Auge. Meinte er das ernst oder erlaubte er sich einen Scherz mit ihnen? Naghûl schien seine Entscheidung bereits getroffen zu haben. „Ja, klar“, erwiderte er grinsend.

„Sgillin, das ist kein guter Witz“, meinte Morânia mahnend.

Kiyoshi runzelte die Stirn, versuchte vielleicht, den Namen einzuordnen – aber offenbar ohne Erfolg. „Verzeiht meine Unwissenheit, aber wer ist die genannte Shemeshka?“, fragte er daher.

„Ein Scheusal“, erklärte Morânia, „Und eine der Königinnen des Verbrechens in Sigil.“

Zu ihrer wachsenden Beunruhigung seufzte der Halbelf nun tief. „Und ich wünschte, es wäre nur ein Witz.“

Langsam und unangenehm sickerte die Erkenntnis in Morânia ein, dass Sgillin es tatsächlich ernst meinte. „Und wie, bei allen Hö ...“ Sie brach den Fluch, der ihr auf der Zunge lag, ab und versuchte, ruhig zu bleiben. „Und wie ist das passiert?“

Naghûl nickte zustimmend zu ihrer Frage und runzelte die Stirn. „Genau. Angenommen, du hättest wirklich mit ihr den Körper getauscht, dann ... ähm, musst du dazu nicht in ihrer unmittelbaren Nähe sein?“

„Das war ich auch“, erwiderte Sgillin leise. „Ich saß ihr direkt gegenüber.“

Entsetzt sah Lereia ihn an. „Was? Du ...“

Kiyoshi setzte sich noch etwas gerader hin, als er ohnehin schon saß. „Warum?“, fragte er, sehr ruhig, aber der Blick seiner nun gelben Drachenaugen war merkwürdig starr.

Sgillin sah zu Lereia. „Na ja, das ist fast Ironie des Schicksals. Eigentlich hat alles mit dir angefangen.“

Die junge Frau verschluckte sich an ihrem Tee und hustete. „Wie bitte? Ich soll dich zu Verbrechern gebracht haben?“ Sie weitete die Augen und zitterte leicht mit den Händen.

Kiyoshi sah nun auch skeptisch zu Lereia, während Jana sich für den Moment heraus hielt, jedoch ebenfalls ihren Tee abgestellt hatte. Sie wirkte nicht besonders angespannt, hörte aber interessiert zu.

Sgillin seufzte einmal mehr. „Ich fang wohl am besten mal von vorne an.“

„Gute Idee“, meinte Naghûl, auch er nun weniger locker als zu Beginn des Gespräches.

„Vor ungefähr einem Jahr waren Lereia und ich zum ersten Mal in Sigil unterwegs.“ Der Halbelf fuhr mit den Fingern durch das weiche Gras, während er berichtete. „Im Marktbezirk stießen wir auf einen Mann, dem es ziemlich schlecht zu gehen schien. Wir, oder besser gesagt Lereia, wollten ihm helfen und taten das dann auch. Er übergab uns ein Buch und meinte, es wäre sehr wichtig, dass wir dieses an einen bestimmten Ort bringen, weil er es nicht mehr schaffen würde. Weniger erfreulich war, dass er uns als Zielort für die Lieferung die Ebene Acheron nannte. Aber wir hatten ihm unsere Hilfe versprochen, daher nahmen wir das von ihm beschriebene Portal dorthin. Es führte in eine Höhle oder einen Minenschacht, etwas in der Art. Dort wartete tatsächlich auch ein Mann, bei dem wir das Buch abgeben konnten.“

„Ich weiß noch, dass wir nur helfen wollten.“ Lereia nickte. „Und dass die Sache mit dem Buch unerwartet endete. Aber an eine Shemeshka erinnere ich mich nicht.“

Sgillin räusperte sich. „Da warst du auch nicht mehr dabei.“

„Aha.“ Die junge Frau straffte ihre Haltung. „Davon hast du mir nie erzählt.“

Morânia sah mit alarmiertem Gesichtsausdruck von Lereia zu Sgillin. Ganz offensichtlich hatte der Halbelf nicht nur vor ihnen als Gruppe ein kleines Geheimnis gehabt, sondern auch vor seiner eigenen Gefährtin. Das mussten die beiden natürlich prinzipiell unter sich klären. Aber solche Unstimmigkeiten auf einer wichtigen, gemeinsamen Mission waren zumindest ungünstig.

“Es stellte sich heraus, dass der Typ, der das Buch entgegen genommen hatte, nur ein Mittelsmann gewesen war“, erklärte Sgillin nun. „Und zwar für Shemeshka. Aber durch den Auftrag war sie auf mich aufmerksam geworden und hatte mich kurz danach dann nochmal alleine zu sich bestellt.“

„Also, ich wäre an Lereias Stelle auch misstrauisch“, warf Jana nun beiläufig ein. „Ich meine, wenn gerade Sgillin Begegnungen mit anderen Frauen verschweigt.“

Trotz der ernsten Situation musste Morânia nun ein kleines Schmunzeln unterdrücken. Jana war offenbar nicht bewusst, dass es sich bei Shemeshka um eine Arcanaloth handelte, also um ein wolfsköpfiges Scheusal. Sie war somit gewiss nicht Sgillins Typ.

„Um die Frau geht es mir gar nicht“, stellte Lereia klar. „Also, nicht um die die Tatsache, dass sie eine Frau ist. Eher um das, was sie offenbar darstellt.“

„Jana, das ist nicht einfach eine Frau“, erklärte Naghûl. „Das ist ein Scheusal mit bedeutender und vor allem illegaler Macht in Sigil.“

Jana nahm ihren Teebecher wieder zur Hand. „Ach so, sagt das doch. Er ist also schlicht auf die schiefe Bahn geraten?“

Kiyoshi hatte Sgillin schon seit Beginn des Gespräches wachsam gemustert, und bei dem Wort „illegal“ wurde seine Miene noch ernster. Nun kam er auf das eigentliche Thema zurück. „Was wollte diese genannte Oni bei dem Treffen von Euch?“

„Sie sagte mir, dass sie mich im Auge behalten würde, weil ich ihr gute Dienste geleistet hätte. Und dass sie irgendwann wieder mit mir Kontakt aufnehmen würde.“ Sgillin hob die Schultern. „Die Bezahlung war gut und solange es sich nur um Botendienste handelte, hatte ich kein Problem damit. Wie gesagt, ich kannte sie nicht.“

„Moment ...“ Morânia traute ihren Ohren kaum und beugte sich ein wenig vor. „Du hast für Shemeshka gearbeitet?“

„Ja“, gab Sgillin zur Antwort, ruderte aber sofort wieder zurück, als er das Funkeln in den Augen der Bal'aasi sah. „Also, eigentlich nein.“

Naghûl runzelte die Stirn. „Wie nun?“ Allmählich schien auch er die Sache alles andere als locker zu sehen.

„Sgillin ...“, sagte Morânia ernst.

Abwehrend hob der Halbelf die Hände. „Seit dieser Geschichte habe ich lange nichts mehr von ihr gehört und hatte das Ganze auch schon fast vergessen. Wie ich schon sagte, ich hatte keinen blassen Schimmer, wer Shemeshka ist. Und es war eine gute Gelegenheit, ein bisschen Gold zu verdienen.“

„Zumindest wusstet Ihr, dass sie jemand ist, der auf einer höllischen Ebene Lieferungen annimmt“, erklärte Kiyoshi, wobei seine gelben Augen etwas schmaler wurden. „Es ist auf jeden Fall gut zu erfahren, womit Ihr Euer Gold verdient, Sgillin-san.“

Lereia fühlte sich offensichtlich zunehmend unwohl, musterte Sgillin still von der Seite.

Dieser jedoch zuckte lediglich mit den Schultern. „Damals tat ich es ja nicht für sie, sondern für den Kerl im Marktbezirk. Und glaub mir, Shemeshka ist nicht die Person, die ein ,Ne du, für dich arbeite ich lieber nicht‘ akzeptiert.“

„Das stimmt“, räumte Naghûl ein. „Und wir sollten nicht vergessen, Sgillin ist weder ein Paladin noch gehört er zum Harmonium oder dergleichen. Einen Botengang, der als gut gemeinte Tat begann, kann man ihm nicht zum Vorwurf machen, finde ich.“

Sgillin und Naghûl waren schon seit einigen Jahren sehr eng befreundet, und Morânia verstand durchaus, dass ihr Mann seinen Freund verteidigte.

Der Halbelf nickte ihm denn auch dankbar zu. „Ja, es war nur dieser eine Botengang, sonst nichts. Und wie schon gesagt, dann habe ich ewig lang nichts mehr von ihr gehört und sie schon fast vergessen. Aber vor ein paar Monaten, kurz nach unserem Besuch in der Blutgrube, sprach mich ein Straßenjunge an und steckte mir einen Zettel zu. Es war eine „Einladung“ von ihr. Während ihr bei Toranna in der Leichenhalle wart, ging ich zum vereinbarten Treffpunkt, wo sie bereits auf mich wartete. Sie hatte einen neuen Auftrag, nämlich einem Händler und Schmuggler mitzuteilen, dass er sie an seinen Profiten teilhaben lassen sollte. Ohne sie läuft in Sigil anscheinend nichts im Schmugglergeschäft. Ich sollte ihm einen Besuch abstatten und ihn darauf hinweisen, dass er Abgaben an sie zu zahlen hat. Daraus wurde aber nichts, weil in der Zwischenzeit die Sache mit der Prophezeiung immer konkreter wurde. Ich war also bisher nicht bei diesem Kerl. Irgendwann fand ich dann wieder einen Zettel in meiner Tasche, auf dem sie mich abermals zu sich zitierte.“

„Wahrscheinlich nicht sehr erfreut über deinen nicht erfüllten Auftrag“, stellte Lereia mit einem Naserümpfen fest.

„Ganz im Gegenteil.“ Sgillin breitete die Hände aus. „Das schien sie überhaupt nicht mehr zu interessieren. Sie hat nach anderen … Dingen gefragt.“ Bei diesen Worten senkte er den Blick, was Morânia aufs Neue beunruhigte.

Jana schüttelte verärgert den Kopf. „Du hättest zum Harmonium gehen sollen! Kiyoshi hätte dir sicher geholfen!“

Der junge Soldat nickte ernst, doch Sgillin schüttelte geknickt den Kopf. „Hätte ich das getan, wäre Lereia jetzt wahrscheinlich tot.“

Die junge Frau wurde noch eine Spur blasser als ihr heller Teint es ohnehin schon war. „Wie ..? Ich ... Wieso … “ Sie rang sichtlich nach Worten und ihre Stimme zitterte ein wenig.

Der neben ihr sitzende Naghûl legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. „Sie hat dich also erpresst?“, wandte er sich dann an Sgillin.

„Ja, natürlich“, erwiderte der Halbelf ernst.

„Das passt leider zu ihr ...“, murmelte Morânia. Sie vergrub kurz das Gesicht in den Händen, weil sie die Antwort auf ihre nächste Frage vielleicht lieber gar nicht hören wollte. Doch sie musste sie stellen. „Und nach was für Dingen hat sie dich gefragt?“

Jana schien ihre Gedanken zu teilen, sprach es aber direkter aus. „Nach der Prophezeiung hat sie gefragt, nicht?“

Sgillin schüttelte den Kopf. „Nein, sie hat mich nicht nach der Prophezeiung gefragt. Sie wollte wissen, warum ich mich ständig mit gewissen Bundmeistern treffe.“

„Mist“, zischte Naghûl, und auch Morânia spürte, wie ihr ein wenig das Herz sank.

Natürlich, sie hatten gewusst, sie würden diese Treffen nicht auf Dauer verbergen können. Hatten bewusst entschieden, sie nicht allzu heimlich abzuhalten. Irgendjemand hätte es ja doch bemerkt und die Sache wäre nur umso verdächtiger gewesen. Daher die Entscheidung, diese Treffen als bundpolitische Zusammenkünfte zu tarnen, als eine lose Kooperation einiger Bünde, wie sie in Sigil immer wieder vorkam. Dass die Kryptisten noch mit ins Boot geholt worden waren, hatte umso besser gepasst, weil es dadurch durchaus so wirken konnte, als hätte man eine gewisse Vermittlungshilfe zwischen Athar und Harmonium gebraucht. So mochte man einige Neugierige täuschen können … jedoch nicht eine Frau wie Shemeshka. Aber dass sie so direkten Zugriff auf einen von ihnen ausübte …

„Am Anfang hab ich noch versucht, um die ganze Sache herumzureden“, erklärte Sgillin. „Aber leider bin ich kein so guter Lügner, dass ich sie hätte hinters Licht führen können.“

„Da tut sich auch ein guter schwer“, tröstete Naghûl ihn.

Kiyoshi hingegen musterte Sgillin streng. „Und was habt Ihr der Oni gesagt, Sgillin-san?“

„Ich musste mit einem Teil der Wahrheit herausrücken“, erwiderte der Halbelf. „Dabei hatte ich auch den Hintergedanken, von ihr Informationen zu erhalten, an die wir auf normalem Wege vielleicht nicht herangekommen wären.“

Jana stellte den Tee wieder ab, griff sich mit beiden Händen an die Stirn und ächzte leise. „Du hast ihr aber ... nichts von uns verraten, oder?“

„Sie weiß ohnehin schon über uns Bescheid, Jana.“ Naghûl seufzte tief. „Auch wenn Sgillin kein Wort verraten hat.“

Lereia nickte zustimmend. „Sie hat uns sicher zusammen gesehen.“

„Ich habe aber trotzdem nichts von euch erzählt“, versicherte Sgillin. „Auch nicht von dem, was wir sind. Aber von ... der Prophezeiung.“ Er senkte den Kopf. „Es ging nicht anders …“

Naghûl vergrub sein Gesicht in den Händen und Lereia fuhr sich verzweifelt durchs Haar und starrte in das langsam herunter brennende Feuer.

Morânia versuchte bewusst, ruhig und tief zu atmen. „Es ging nicht anders? Wir sollten das unter allen Umständen geheim halten, Sgillin!“

„Ich hatte keine Wahl“, verteidigte der Halbelf sich. „Entweder ich erzähle ihr etwas oder sie reißt mich in Stücke.“

Lereia jedoch ließ sich durch seine Erklärungen nicht beschwichtigen. „Seit wann bist du in Sigils Verbrecherkreisen unterwegs?“, verlangte sie zu wissen.

So aufgebracht hatte Morânia sie bisher nie erlebt. Auch sie selber war einigermaßen fassungslos über Sgillins Geschichte.

Der Halbelf sah seine Gefährtin an. „Meinst du, mir wäre das leicht gefallen, hm?“

„Nein, aber wieso hast du nichts gesagt?“, entgegnete sie ungehalten. „Wir haben fünf mächtige Bünde in unseren Rücken. Gut, zu dem Zeitpunkt damals erst vier, aber dennoch genug!“

„Ja, mag sein.“ Sgillin hob die Schultern. „Aber ich wollte vermeiden, dass wir - und vor allem du - trotz der vier mächtigen Bünde irgendwann ein Messer im Rücken haben.“

Noch immer aufgewühlt ob der ganzen Geschichte schüttelte Morânia den Kopf. „Ambar! Terrance! Erin! Sarin!“ Sie hatte die rechte Hand gehoben, um es Sgillin demonstrativ unter Zuhilfenahme ihrer Finger vorzuzählen. „Vier Bundmeister! Mächtige und fähige Bundmeister! Sgillin, du wärst doch nicht allein gewesen. Sie hätten dich schützen können!“

„Da hat Morânia allerdings recht“, kam Naghûl einem Einwand des Halbelfen zuvor. „Sie hätten sicher bewirken können, dass sie dich in Ruhe lässt.“ Er wirkte ein wenig resigniert.

„Sie hätten uns alle schützen können“, fügte die Bal‘aasi seufzend an. „Shemeshka ist mächtig, aber nicht allmächtig. - Moment ... Sgillin? Jetzt sag uns bitte ganz genau, was du ihr alles erzählt hast.“

„Na ja, es war nicht so ganz ohne Hintergedanken“, erklärte der Halbelf. „Wir sind bei der Prophezeiung zu diesem Zeitpunkt ziemlich im Dunklen getappt. Und Shemeshka war für mich auch eine Informationsquelle. Ich hatte gehofft, von ihr Dinge zu erfahren, die wir sonst nicht erfahren hätten. Zum Beispiel auch über die Morde.“

„Aha“, warf Kiyoshi nun scharf ein. „Ihr hattet also doch nicht nur Angst? Dachtet Ihr, Ihr könntet auf eigene Faust Geschäfte mit der Oni machen?“

„Nein, ich wollte Informationen beschaffen“, entgegnete Sgillin, der sich nun offenbar mehr und mehr in die Ecke gedrängt fühlte.

Kiyoshi jedoch ließ nicht locker, sondern schien im Gegenteil die defensive Haltung des Waldläufers erst recht als Aufforderung zu verstehen, das Verhör fortzusetzen. Er beugte sich ein wenig vor. „Was habt Ihr der Oni erzählt?“

„Nicht viel“, versicherte Sgillin. „Nur, dass es diese Prophezeiung gibt und dass wir deswegen öfter mit den Bundmeistern gesprochen haben.“

„Weiß die Oni von der Deus Machina?“, machte Kiyoshi weiter. „Oder nur von den Erwählten?“

„Sie weiß von der Deus Machina, aber nichts von den Erwählten.“ Ehe Kiyoshi etwas sagen konnte, hob der Halbelf die Hand. „Von der Deus Machina wusste sie aber schon vorher, muss ich betonen. Und sie weiß, dass die Prophezeiung mit der Göttermaschine zusammenhängt.“

„Dann müssen wir so oder so mit ihr reden“, stellte Jana fest.

Sgillin hob die Brauen. „Davon würde ich dringend abraten.“

„Aber wenn sie etwas weiß, das wir nicht wissen?“, hielt Jana dagegen. „Über die Prophezeiung? Und sie ist sowieso hinter uns her. Eben hieß es noch, vier mächtige Bünde stünden hinter uns.“

„Das stimmt, aber wir werden gar nichts mit Shemeshka machen“, betonte Morânia mit Nachdruck, um Janas abenteuerliche Pläne im Keim zu ersticken. „Das ist Sache unserer Bundmeister.“

„Wenn sie bei den Gnadentötern im Verlies verrottet, wird sie reden“, stellte Kiyoshi mit der ihm eigenen Mischung aus Gelassenheit und planarer Weltfremdheit fest.

„Mein Freund“, wandte Naghûl diplomatisch ein, „Wäre es Sarin möglich, Shemeshka wegzusperren, dann hätte er das längst getan.“

„Aber ich finde, Kiyoshi hat recht“, erwiderte Jana. „Er könnte sich von seinem Bundmeister doch die Erlaubnis holen, hinzugehen und sie zu verhaften.“

Morânia spürte, wie das Verhalten der Hexenmeisterin sie mehr und mehr anstrengte, ja aufbrachte. Dass der in Sigil noch so neue Kiyoshi nicht korrekt einordnen konnte, wer Shemeshka war und warum man sie eben nicht so leicht aus dem Verkehr ziehen konnte, das war verständlich und verzeihlich. Doch Jana lebte bereits seit in paar Jahren im Käfig und sollte es besser wissen. Dass sie es nicht tat – oder sich, schlimmer noch, vielleicht bewusst dumm stellte – ärgerte die Bal'aasi ebenso sehr wie die Tatsache, dass sie Kiyoshi damit auf leichtsinnige und gefährliche Gedanken bringen mochte. „Jana, sei bitte nicht so einfältig“, sagte sie daher gereizt.

„Ich bin nicht einfältig!“ Die Hexenmeisterin zog eine Grimasse und verschränkte trotzig die Arme.

„In diesem Punkt offenbar schon“, erwiderte die Bal'aasi knapp.

Naghûl lehnte sich zurück, stützte sich mit den Ellenbogen im weichen Gras ab und warf Jana einen genervten Blick zu.

Sgillin, obgleich er offenbar erleichtert gewesen war, für einen Moment nicht Ziel des allgemeinen Unmuts zu sein, beschloss, die Aufmerksamkeit nun doch wieder auf sich zu lenken. „Allerdings ... hatte die ganze Sache auch etwas Gutes“, meinte er. „Ich, beziehungsweise wir, haben ein paar neue Verbündete.“

„Moment!“ Lereia unterbrach den Halbelfen und wirkte nun ungewöhnlich energisch. „Ich möchte jetzt ein paar Dinge konkret wissen: Was ist nach dem Tausch mit Shemeshka passiert? Wie seid ihr verblieben? Und wen meinst du mit neue Verbündete?“ Für ihre Verhältnisse war sie recht unbeherrscht und aufgebracht.

„Beim Tausch wurde alles ziemlich konfus“, erklärte Sgillin rasch. „Shemeshkas Verbündete hätten sie fast umgeschnitten - also, in meinem Körper natürlich. Und ich konnte Panik in ihren Augen erkennen. Als der Tausch wieder rückgängig gemacht wurde, war sie kurz davor, mich in Stücke zu reißen. Aber: Sie scheint zu glauben, dass ich diese Fähigkeit nach Belieben einsetzen kann. Anscheinend, weil ich die ganze Zeit über das Gegenteil behauptet habe.“

„Moment …“ Naghûl horchte auf. „Du hast ihr vor dem Tausch verklickert, dass du das nicht beeinflussen kannst?“

„Nein, während des Tauschs“, erklärte Sgillin. „Sie wusste vorher nichts von der Fähigkeit.“

Morânia nickte. „Ich verstehe. Das ist möglicherweise gut. Etwas, das wir zu unserem Vorteil nutzen könnten … Und was passierte dann?“

„Kurz bevor Shemeshka auf mich losstürmen wollte, hat eine vermummte Gestalt die Tür geöffnet und mich ins Freie gezogen. Ich bin ihr eine ganze Zeit lang gefolgt, bis tief in den Stock hinein. Dort hat sie sich dann zu erkennen gegeben … und es war Rianna.“

„Aha“, bemerkte Lereia trocken. „Na, dann ist ja alles klar.“

Naghûl rieb sich den Nacken. „Wer war das nochmal?“

„Rianna gehört zu den Klingenengeln“, erklärte Sgillin bereitwillig. „Das ist eine ... na ja, sie nennen sich Bande … im Stock, die aber im Gegensatz zu den meisten anderen nicht für Terror sorgt, sondern versucht, die Bewohner zu schützen. Sie setzen sich für die Bedürfnisse der Ärmsten ein.“

„Wenn das die Wahrheit ist, ist ihre Motivation zumindest lobenswert“, meinte Lereia nachdenklich.

„Ja, du hast sie mal erwähnt.“ Der Tiefling nickte und warf einen Blick zu Jana hinüber. „Kannst du das bestätigen?“

„Hm.“ Die Hexenmeisterin, die seit dem kurzen Wortgefecht mit Morânia geschwiegen hatte und noch immer verstimmt wirkte, schien kurz zu überlegen. „Ja, sagt mir was. Diese Klingenengel haben zumindest einen nicht üblen Ruf.“

„Und warum war sie da, um dir zu helfen?“, wollte Morânia wissen.

Sgillin hob die Schultern. „Ich war Rianna schon vorher mal begegnet, auch kurz nach einem Treffen mit Shemeshka. Sie hat mir damals den Tipp mit dem Halbelfen-Magier gegeben. Sie hatte einen der Stockwürgermorde beobachtet.“

„Ja, da fiel der Name, richtig.“ Naghûl nickte, sich offenbar erinnernd.

„Rianna hat mich verfolgt, als ich zu Shemeshka ging und hat mich dann rausgeholt, als es brenzlig wurde“, führte Sgillin seine Erklärung noch etwas aus. „Sie sagte, ihr und ihren Leuten hätte es gefallen, dass wir die Stockwürgermorde aufgeklärt hätten, weil sich sonst keiner dafür interessiert habe. Ihre Anführerin, Krystall, auch eine sehr sympathische Person, hat mich dann quasi bei ihnen aufgenommen.“

„Du … bist nun ein Stockschläger?“ Naghûls Nachfrage klang etwas zögernd, seinem Tonfall war zu entnehmen, dass er noch nicht entschieden hatte, wie er zu der Sache stehen sollte.

„Nein, natürlich nicht“, beeilte Sgillin sich zu versichern. „Das sind keine Schläger. Aber ich bin ein Klingenengel. Also, auch eher inoffizielles Mitglied.“

Lereia hatte sich noch einmal Tee nachgeschenkt und musterte ihren Gefährten nun nachdenklich. „Wenn die Klingenengel wirklich das sind, was sie vorgeben, sind sie vielleicht kein Bund, aber auch keine schlechte Institution und passen zu dir ... Aber alles andere, das mit Shemeshka, gefällt mir ganz und gar nicht.“

„Verstehe ich“, erklärte Sgillin seufzend. „Aber bei den Klingenengeln hat mein Bauchgefühl gestimmt. Sie haben das Herz am richtigen Fleck, auch wenn sie sich vielleicht manchmal am Rande der Legalität bewegen.“

„Na ja, das tut der ganze Stock“, meinte Naghûl auf einen scharfen Blick von Kiyoshi hin.

Morânia nickte ernst. „Ich hoffe, du schätzt sie richtig ein.“

Ihr Mann pfiff leise durch die Zähne und schüttelte den Kopf. „Ich denke immer noch, du hättest zu den Sinnsaten gehen sollen.“

Zum ersten Mal seit Beginn des Gespräches setzte Sgillin wieder das für ihn typische, schelmische Grinsen auf. „Hieß es nicht immer, suche nicht den Bund, sondern der Bund sucht dich?“

Naghûl schnitt ihm eine kurze Grimasse. „Aber weder Shemeshka noch die Klingenengel sind ein Bund, du Nase.“

Auch Morânia konnte zum ersten Mal seit einer ganzen Weile wieder schmunzeln. „Und eigentlich heißt es: Frage nicht, was dein Bund für dich tun kann. Frage, was du für deinen Bund tun kannst.“

Jana grinste ebenso ein wenig, stockte dann aber und warf Sgillin einen alarmierten Blick zu. „Meine Güte … Wissen die jetzt etwa auch von der Prophezeiung, die Klingenengel?“

Sgillin schüttelte den Kopf. „Nein, von der Prophezeiung wissen sie nichts. Aber Rianna hat sowohl meinen Tausch in der Blutgrube mitbekommen als auch den mit Shemeshka.“

Naghûl blickte, teils gespielt theatralisch, teil ernst gemeint gen Himmel. „Sgillin, du verbreitest geheime Nachrichten schneller als SIGIS ... bei der Dame. Also gut … Im Moment will ich erst einmal alles verdauen. Ich lasse dich dann wissen, ob ich sauer bin oder nicht. Aber eines ist gewiss: Toll finde ich es nicht und ich kann auch nicht alles nachvollziehen.“

Die anderen nickten zustimmend, dann fiel Morânia etwas ein, an das sie in all der Aufregung bisher nicht gedacht hatte. Das aber nichtsdestoweniger bedeutungsschwer war. „Bei Lathander ...“, murmelte sie. „Was wird Sarin mit Sgillin machen, wenn er davon erfährt?“

Naghûl seufzte. „Die Bundmeister werden ihn mittlerweile fünfteilen.“

„Die sind jetzt aber nicht hier, die Bundmeister“, warf Jana ein. „Und sie brauchen es auch nicht unbedingt zu wissen, finde ich. Zumindest nicht sofort.“

Morânia setzte schon zu einer Erwiderung an, doch unerwartet war es Sgillin, der ihr zuvorkam. „Klar müssen sie es erfahren“, meinte er.

Die Bereitschaft, seinen Fauxpas den Bundmeistern ganz offen mitzuteilen, überraschte Morânia, ließ den Halbelfen aber auch in ihrer Achtung steigen. Nicht, dass sie eine schlechte Meinung von Sgillin gehabt hätte. Seine Unerfahrenheit in Sigil gepaart mit seinem zutiefst chaotischen Wesen hatte ihn in diese Lage gebracht. Sie war nicht begeistert darüber, aber nach der ersten Aufregung konnte sie ihm doch auch ein gewisses Verständnis entgegenbringen – zumindest in Teilen. So nickte sie Sgillin dankend zu und wandte sich dann an Jana.

„Ich weiß nicht, welches Verhältnis du zu deinem Bundmeister hast“, erklärte sie so sachlich es ihr möglich war. „Aber ich verschweige meiner Bundmeisterin keine Informationen dieser Tragweite.“

„Nein, das geht ganz und gar nicht“, schloss Naghûl sich ihrer Meinung an.

„Was mich angeht, ich werde meinem Herrn und Fürsten, dem ehrenwerten Bundmeister Sarin-gensui, mit Sicherheit keine Informationen verschweigen“, erklärte auch Kiyoshi ernst.

Lereia nickte. „Ich möchte das auch nicht vor Ambar verheimlichen.“ Bedrückt fügte sie noch etwas leiser an. „Ich würde jetzt wirklich gerne mit ihm sprechen.“

Abwehrend hob Jana die Hände und zuckte mit den Schultern. „Wir müssen uns jetzt sowieso zuerst um Abaia kümmern.“

„Das stimmt“, meinte Morânia. „Aber wir werden wieder nach Sigil kommen und dann ... Also, vor Sarin habe ich da am meisten Angst.“

„Terrance wird ihm nichts tun“, meinte Jana leichthin. „Und Sarin kann ihm nichts tun, denn wir brauchen ihn.“

Kiyoshi warf Jana einen harten Blick zu. „Der ehrenwerte Bundmeister Sarin-gensui könnte jedoch zu der Ansicht kommen, man könnte Sgillin vorsichtshalber einsperren und herausholen, wenn man ihn für die Prophezeiung braucht.“

Lereia sah den jungen Soldaten etwas entsetzt an ob dieser Bemerkung, doch Sgillin blieb erstaunlich gelassen, ließ nur geknickt die Schultern hängen.

„So sieht es wohl aus“, meinte er. „Im schlimmsten Fall versaure ich im Knast, bis ich wieder gebraucht werde.“

„Dann könnte er wenigstens keinen Schaden mehr anrichten“, bemerkte Jana, fast gut gelaunt.

„Sehr witzig“, erwiderte der Halbelf seufzend, dann schien er sich an etwas zu erinnern. „Ach ja, eins noch.“ Er griff unter sein Hemd und zog ein Amulett hervor, das an einem dünnen Lederband hing. „Das ist das Zeichen der Klingenengel, falls ihr welchen im Stock begegnen solltet.“

Morânia beugte sich vor, um einen genaueren Blick darauf werfen zu können – und spürte, wie ihr das Blut in den Adern gefror. Das konnte nicht sein. Es musste sich um einen schlechten Witz oder einen bösen Traum handeln. Auch Kiyoshi blickte wie erstarrt auf das Amulett.

„Lederschädel“, murmelte Naghûl dumpf hinter seinen vor dem Gesicht zusammengeschlagenen Händen.

Auch Jana schien das Symbol zu erkennen, denn sie kicherte leise. Morânia allerdings fand die Situation nicht zum Lachen. Denn das Amulett, das Sgillin ihnen hinhielt, zeigte das Bundabzeichen der Anarchisten …

„Bist du irre?!“ Die Bal'aasi sprang auf und trat einen Schritt auf den Halbelfen zu.

Auch Kiyoshi hatte sich erhoben und nahm langsam seine Naginata zur Hand.

„Was ist denn?“ Sgillin wirkte aufrichtig verwirrt, stand aber vorsichtshalber ebenso auf und trat einen Schritt zurück.

„Du Dussel!“, fuhr Naghûl ihn an, als er sich ebenfalls erhob.

Es kostete Morânia einiges an Selbstbeherrschung, Sgillin nicht am Kragen zu packen und durchzuschütteln. „Ich … ich erwürg dich!“, knurrte sie, mühsam beherrscht.

„Ruhig, Schatz.“ Ihr Mann warf ihr einen besorgten Blick zu, konnte ihre kaum unterdrückte Wut offenbar sehr treffend als deutliches Alarmsignal einstufen. „Bitte bleib ruhig.“

Rasch versteckte Sgillin das Amulett wieder unter seinem Hemd, so als würde die Tatsache, dass niemand es mehr sehen konnte, die Lage entschärfen. Die Bal'aasi spürte, wie ihr das Blut in den Adern pochte. Die Anarchisten! Wie konnte er sich nur, hinter ihrer aller Rücken, gerade mit den Anarchisten einlassen?

„Wie soll ich da ruhig bleiben?“, rief sie. „Das ist doch das Letzte!“

Kiyoshis Miene war noch unbewegter als meist, doch er richtete die Naginata nun mit der Spitze gen Sgillin. „Im Namen der Gesetze Sigils muss ich Euch hiermit verhaften“, erklärte er.

Lereia sprang auf, weitete entsetzt die Augen. „Was?!“

„Er weiß es nicht besser“, versuchte Naghûl sowohl seine Frau als auch den Harmoniumsoldaten zu beschwichtigen.

Doch Morânia fühlte sich alles andere als beschwichtigt. „Ist das dein Ernst?“

„Er hat eben keinen Plan“, meinte der Tiefling und hob mit einer beschwörenden Geste die Hand gen Kiyoshi, der nach wie vor die Waffe auf Sgillin gerichtet hielt.

Jana schüttelte seufzend den Kopf. „Naghûl hat Recht, du bist ein Dussel.“

Sgillin sah hilflos und überfordert von einem zum anderen. „Was zum Geier ist mit dem Amulett?!“

Seine Verwirrung wirkte ehrlich, er schien regelrecht verzweifelt ob der heftigen Reaktionen der anderen. Morânia atmete tief durch, versuchte, sich zu erden, sich zu beruhigen und sich klarzumachen, dass der noch planlose Halbelf womöglich wirklich keine Ahnung hatte, was er hier um den Hals trug.

Naghûl seufzte tief. „Das ist das Zeichen der Anarchisten“, erklärte er seinem Freund.

Sgillin erstarrte und für eine Weile fehlten ihm die Worte – was selten genug vorkam. „Oh“, machte er dann endlich, fast tonlos.

„Ja, verdammt“, fuhr Morânia ihn an. Als er ihren wütenden Blick mit derselben Mischung aus Hilflosigkeit und Verwirrung erwiderte, die ihn schon die ganze Zeit über beherrschte, fuhr sie sich kopfschüttelnd mit den Händen übers Gesicht. „Du … hast das wirklich nicht gewusst, oder?“

„Das entbindet ihn nicht von seiner Schuld“, warf Kiyoshi trocken ein und machte keinerlei Anstalten, die Waffe zu senken.

„Natürlich wusste ich das nicht!“ Nun schlug die Verunsicherung des Halbelfen in Ärger um. „Sigil regt mich langsam auf. Du kannst nicht mal nen Furz lassen, ohne gleich mit irgendeinem Bund Stress zu bekommen.“

Auf diese Bemerkung hin musste Naghûl kurz lachen und auch Morânia spürte einen Anflug von Erheiterung, als Sgillin einen durchaus wahren – und manchmal auch wunden – Punkt des Käfigs traf.

„Stimmt schon“, erwiderte sie daher. „Gut erfasst.“

Jana, die das Ganze als einzige einigermaßen gelassen zu nehmen schien, grinste breit. „Dann bleib doch vielleicht einfach auf der Materiellen, wie wär das?“

Sgillin warf ihr einen angesäuerten Blick zu. „Woher soll ich wissen, dass das von den Anarchisten ist? Ich bin nicht aus Sigil! Und dann wird man gleich immer als Dussel oder sonst was beschimpft, wenn man irgendeine von den zwölf Milliarden Sigil-Regeln nicht kennt.“

Lereia, die den Schlagabtausch zwischen den anderen offenbar genutzt hatte, um wieder ein wenig ins Gleichgewicht zu finden, hob eine Hand. „Ich möchte Sgillin in diesem Punkt verteidigen. Ich bin auch eine Planlose, wie es die Sigiler so schön sagen, und ich finde es oft sehr ungerecht, wie man als solche behandelt wird. Wir haben uns diese Geschichte nicht ausgesucht und bisher keine Zeit gehabt, uns in alles einzuleben.“

Morânia seufzte. Lereia hatte ja recht mit ihrem Einwand. Sie und Sgillin waren noch neu in der Stadt der Türen und konnten viele Dinge nun einmal nicht wissen. Der Käfig war ein äußerst komplexes, vielschichtiges Konstrukt, und all seine Regeln und Mechanismen zu durchschauen, konnte nicht innerhalb weniger Monate gelingen. So hob sie entschuldigend die Hände. „Es tut mir leid. Für mich ist das alles so selbstverständlich, dass ich mir schwer vorstellen kann, dass jemand das nicht weiß. Aber du hast recht, Lereia.“

„Das hat weniger damit zu tun, dass er das Symbol nicht erkannt hat“, erklärte Jana. „Mehr, dass er es überhaupt soweit hat kommen lassen. Trotzdem war das gerade nicht nett und tut mir leid.“

Morânia blickte zu dem Halbelfen, der nun wieder etwas besänftigter wirkte, und ihre Stimme war ruhiger, wenngleich nicht weniger ernst, als sie fragte. „Sgillin, was weißt du über die Anarchisten? Weißt du irgendwas über sie?“

Der Waldläufer atmete tief durch. „Ja, ich weiß, dass die Anarchisten die Bünde zerschmettern wollen und auch schon Leute umgebracht haben. Sie sind eigentlich eine Terror-Organisation.“

Kiyoshi nickte streng. „So ist es.“

„Zumindest viele von ihnen.“ Morânia seufzte. „Als Kryptistin sehe ich mich jedoch in der Pflicht, anzumerken, dass es auch Anarchisten gibt, die nicht Bomben legen und Leute töten. Ich finde zwar, dass der Bund aufgrund dieser gewaltbereiten Mitglieder dennoch hoch problematisch bleibt, aber der Vollständigkeit halber sage ich es.“

„Was machen die übrigen?“, fragte Lereia vorsichtig.

„Ein anderer Teil unterstützt die Armen und Schwachen, gibt ihnen Geld, Nahrung und so weiter. Auch diese Anarchisten wollen das System der Bünde zerstören, aber ohne Gewalt.“

Kiyoshi blickte ernst zu Sgillin. „Falls Euch das nicht bekannt sein sollte: Auf Anarchie steht in Sigil der Tod.“

„Leider stimmt das“, erklärte Morânia auf Lereias erschrockenen Blick hin. „Das ist also eine brenzlige Sache hier. Es ist ein Paradoxon des Käfigs: Die Anarchisten gelten als einer der fünfzehn Bünde, wollen aber selber keiner sein und was sie machen ist strafbar.“

Sgillin weitete erschrocken die Augen, als Kiyoshi ihm die möglichen Konsequenzen seiner Handlungen darlegte, und Naghûl klopfte seinem Freund begütigend auf die Schulter.

„Tut mir leid wegen dem Lederschädel und dem Dussel“, meinte er. „Es war der Ärger im ersten Moment. Aber eines verstehe ich trotzdem nicht: Wenn man sich so verloren vorkommt, warum wendet man sich dann nicht gleich an die Leute, die man kennt? An seine Freunde? Oder kann man uns nicht vertrauen?“

Sgillin entspannte sich nun wieder und lächelte schwach. „Doch, natürlich.“

„Da wiederum gebe ich dir recht.“ Lereia nickte ernst zu Naghûls Worten.

Erschöpft rieb der Halbelf sich nun die Schläfen. „Vom Regen in die Traufe, von Shemeshka zu den Anarchisten ... oh Mann, diese Stadt ist nichts für mich. Das wird großartig, wenn ich das den Bundmeistern beichte: Also bei Shemeshka bin ich zwar mittlerweile raus, aber ich hab jetzt Freunde bei den Anarchisten ...“

Lereia atmete tief durch. „Ich hätte da einen Vorschlag. Und Kiyoshi, könntet Ihr bitte Eure Waffe herunter nehmen? Ich bin sicher, dass Sgillin nicht weglaufen wird.“

Der junge Soldat zögerte kurz, nickte dann aber knapp und stellte seine Naginata wieder neben sich auf dem Boden ab.

„Erzähl uns von deinem Vorschlag“, meinte Morânia zu Lereia und nickte ihr aufmunternd zu.

„Wir haben heute viel gehört und viel zu verdauen“, erklärte die junge Frau. „Wir sollten uns jetzt unserer Aufgabe im Elysium zuwenden. Wenn wir anschließend nach Sigil zurückkehren, wird Sgillin mich in mein Haus begleiten und so lange dort bleiben, bis wir ein Treffen mit all unseren Bundmeistern vereinbaren.“

Morânia lächelte. „Das klingt gut, Lereia.“

„Ja, finde ich auch“, stimmte Jana zu.

Kiyoshi überlegte eine Weile, nickte aber schließlich. „Nun gut. Wir müssen erst diese wichtige Mission für den Kami beenden. Ihr müsst Euch aber dennoch nach wie vor als verhaftet betrachten, Sgillin-san.“

„Klar.“ Sgillin nickte und klang nicht einmal spöttisch dabei. „Natürlich.“

„Und vor allem eins.“ Nun hob Lereia mahnend einen Zeigefinger. „Keine Lügen, keine Geheimnisse. Wir müssen mit offenen Karten spielen in unserer Runde.“

„Da kann ich Lereia nur voll und ganz beipflichten“, stellte Morânia fest, und Naghûl, Jana und Kiyoshi nickten zu ihren Worten.

Die junge Frau wirkte erleichtert ob der Zustimmung und des Zuspruchs der Gruppe. Dann sah sie zu ihrem Gefährten. „Versprichst du uns - versprichst du mir - dass du in Zukunft alles mit uns teilst? Und wenn die Bundmeister uns etwas sagen, wir uns auch daran halten?“

Sgillin nickte. „Ja, natürlich. Ich hab mir bei der Sache mehr als genug die Finger verbrannt.“

„Gut.“ Nun wirkte Lereia wieder so ruhig und beherrscht wie gewohnt, auch wenn Morânia sich nur zu gut vorstellen konnte, dass es in ihrem Inneren noch ganz anders aussah. „Sgillin, über uns beide sprechen wir nach dieser Sache hier. Wie auch Naghûl muss ich erst einmal nachdenken.“

Der Halbelf schloss kurz die Augen und nickte. Er wirkte sehr bedrückt – nicht verwunderlich nach allem, was soeben geschehen war. Danach sprachen sie nicht mehr viel, sondern breiteten still und nachdenklich ihre Decken und Schlafsäcke rund um das Feuer aus. Es war bereits fast herunter gebrannt, doch die Nächte des Elysiums waren so mild, dass sie das Feuer auch vielmehr zum Aufbrühen des Tees benötigt hatten denn als Wärmequelle. Morânia hatte befürchtet, sie würde viel zu aufgekratzt sein, um zu schlafen. Doch sie hätte die beruhigende Macht ihrer Heimatebene besser kennen sollen. Selbst in dieser Lage glättete das Elysium die Wogen auf dem aufgewühlten Ozean, der ihre Seele war, und schon bald versank sie in den warmen Tiefen eines ruhigen und erholsamen Schlafes.

 

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gespielt am 3. August 2012

 

 

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