„Natürlich kommen Dinge zurück, um dich heimzusuchen.
Sie wandern einfach den Ring von Sigil entlang und enden wieder dort, wo sie begonnen haben.“
Einheit-der-Ringe, Deva
Dritter Dametag von Savorus, 126 HR
Rhys Hufe klapperten leise auf dem Marmorboden und ihre weite, schwarze Hakama wehte sacht um ihre Beine, als sie durch die Gänge und Säle der Festhalle eilte. Sie hielt fünf größere Papierbögen in den Händen und war ungewöhnlich sorgenvoll an diesem Tag. Dies fiel offenbar auch Erin auf, als die Bundmeisterin der Kryptisten den Saal betrat, den Lady Montgomery für dieses Treffen bereitgestellt hatte.
„Oh, Rhys, Ihr macht mir aber keinen besonders glücklichen Eindruck, wenn ich das so sagen darf“, stellte die Bundmeisterin der Sinnsaten fest, als sie sich erhob und auf ihre Kollegin zukam.
Erin war wie immer wie eine Erscheinung der Oberen Ebenen selbst. Sie trug ein Kleid im vedischen Stil, das schlicht, aber dennoch elegant war. Das weiße Unterkleid aus feinstem, celestischem Mondleinen war so leicht und fließend, dass es fast wie Nebel oder eine Wolke erschien. Die Tunika aus roter Seide, die sie darüber trug, war mit dünnen Goldfäden aufwändig bestickt. Erins kupferfarbenes Haar war von mehreren dünnen Zöpfen durchflochten und kunstvoll hochgesteckt, wobei einige Strähnen, die wie zufällig einzeln herausfielen, ihrer Erscheinung etwas Lockeres und Verspieltes verliehen. Rhys legte die Papierseiten auf dem Tisch in der Mitte des Saales ab und reichte Erin beide Unterarme, die Handflächen nach oben geöffnet. Mit einem warmen Lächeln legte Erin ihre Unterarme auf die von Rhys.
„Der Segen der Dame, liebe Freundin“, sagte Lady Montgomery und sah dann zum Tisch.
Dort hatten Sarin und Terrance gesessen, sich aber bei Rhys Eintreten erhoben. Rhys trat auf den Bundmeister der Athar in seiner kostbaren, dunkelblauen Robe zu und verneigte sich.
Es war deutlich mehr als ein einfaches Kopfnicken, es war eine wirkliche Verbeugung. Obgleich sie denselben Rang in der Gesellschaft Sigils einnahmen, widersprach es Rhys Vorstellung der Etikette und des Anstandes, einen so mächtigen Hohepriester mit einem einfachen Nicken zu begrüßen.
„Ich grüße Euch, Bundmeisterin Rhys“, sagte Terrance freundlich und neigte den Kopf.
Derartige Respektsbekundungen waren für Terrance offenbar in Ordnung, so lange niemand ihm die Hand küsste. Rhys wusste, er mochte diese gegenüber Hohepriestern übliche und weit verbreitete Geste nicht. Und das obgleich er sie aus seiner Vergangenheit als Patriarch von Conclave Fidelis doch mehr als gewohnt sein musste. Oder gerade deswegen? Sie wandte sich an Sarin und reichte ihm den rechten Arm. Der Bundmeister des Harmoniums verneigte sich leicht, nahm ihre Hand und deutete einen Kuss an. Rhys gefiel seine Ritterlichkeit. Sein Vor-Vorgänger Delazar hätte sich niemals einfallen lassen, die Damen unter den Bundmeistern derart zu begrüßen.
Nun gut, bei Pentar tat Sarin das auch nicht, aber die konnte man selbst mit dem guten Willen der Kryptisten nicht als Dame bezeichnen. Der Paladin, der wie bei den meisten offiziellen Anlässen seine rot-goldene Rüstung trug, zog einen der Stühle zurück, damit Rhys Platz nehmen konnte.
„Verratet uns doch bitte, warum Ihr uns in einer für Euch so untypischen Eile zusammengerufen habt“, sagte er.
Rhys sah sich kurz im Raum um. „Wir sollten warten, bis Bundmeister Ambar da ist.“
Sarin runzelte missbilligend die Stirn. „Falls Ihr damit sagen wollt, dass Bundmeister Ambar wieder einmal zu spät ist ... Ihr habt Recht, er ist unpünktlich wie immer.“
Terrance schmunzelte in sich hinein, sagte aber weiter nichts dazu, während er wieder Platz nahm. Auch Lady Erin setzte sich und blickte mit deutlicher Neugierde auf die fünf Papierbögen, die vor Rhys auf dem Tisch lagen. Zu ihrer Rettung öffnete sich wenige Minuten später die Tür und Ambar trat ein. Der Halbelf war elegant gekleidet, mit schwarzen Wildlederstiefeln, roter Weste und einem dunkelgrünen Gehrock.
„Ich bin ein wenig zu spät“, bemerkte er in seiner unbekümmerten Art, „Ich bitte, meine Nachlässigkeit zu entschuldigen.“ Er ging zu Rhys und küsste ihr die Hand, während Sarin leise seufzte.
„Ihr seid so gut wie immer zu spät, mein lieber Ambar.“
Der Bundmeister der Göttermenschen umrundete den Tisch, um auch Lady Erin mit einem Handkuss zu begrüßen. „Es gibt leider nicht viel, das ich in diesem Fall zu meiner Verteidigung vorbringen kann“, bemerkte er gespielt schuldbewusst, „Ich darf doch hoffen, ich werde deswegen nicht gleich verhaftet?“
Erin lachte und Ambar zwinkerte ihr kurz zu.
„Ha, ha“, erwiderte Sarin kopfschüttelnd, aber mit der Andeutung eines Schmunzelns.
Der Halbelf klopfte Terrance auf die Schulter. Es gab sonst niemanden in ganz Sigil, der den mächtigen Hohepriester des Großen Unbekannten auf derart lockere Art begrüßte, doch Terrance und Ambar waren gut befreundet und der Bundmeister der Athar nahm offenbar keinen Anstoß daran. Gegenüber Sarin deutete Ambar eine förmliche Verneigung an, ehe er Platz nahm und zu Rhys sah.
„Geschätzte Kollegin, Eure Nachricht hatte einen so dringlichen Unterton, den ich von Euch gar nicht gewohnt bin. Was ist los?“
Rhys deutete auf die fünf Papierseiten, die vor ihr lagen. „Jana hatte eine Vision. Da sie sehr gut zeichnen kann, hat sie die Bilder, die sie sah, auf Papier festgehalten und mir übergeben, als die Erwählten sich im Großen Gymnasium trafen. Unsere Mitglieder sind ja zu einer wichtigen Mission ins Elysium aufgebrochen, daher habe ich mich bereit erklärt, Euch diese Zeichnungen zu zeigen.“ Sie breitete die Bögen nun einzeln auf dem Tisch aus. „Und wir sollten sie uns genau ansehen, denn es geht um uns.“
Rhys lehnte sich zurück und beobachtete die anderen Bundmeister eingehend, als sie sich die Zeichnungen ansahen. Überraschung und ein gewisses Entsetzen zeichnete sich auf den Gesichtern von Sarin, Erin und Ambar ab. Nur Terrance blieb gelassen - wie Rhys wusste, hatte Jana ihm die Bilder bereits gezeigt.
„Möchte sich jemand dazu äußern?“ fragte Rhys sachlich.
„Ob sich jemand dazu äußern möchte?“ Ambar hob den Kopf und sah die Bundmeisterin der Kryptisten kopfschüttelnd an. „Klingt, als sollten wir zu einem Gesetzesentwurf in der Halle der Redner Stellung nehmen. Bei der Dame, Rhys, ich habe keine Ahnung, wie ich mich zu dem hier ... äußern soll.“ Er deutete auf die Zeichnung, die ihn selbst darstellte.
Terrance faltete die Hände und legte sie vor sich auf dem Tisch ab, während er sich zurücklehnte. „Da Jana mir diese Bilder schon gezeigt hat und ich dadurch weniger überrascht bin als die anderen, mache ich gerne den Anfang.“
Seine tiefe Stimme klang ruhig, er war wie immer eine Insel der Gelassenheit in einem Ozean aufgewühlter Gefühle. Es stand in einem bemerkenswerten Gegensatz zu dem Motiv der Zeichnung, die ihn zeigte: Mit zerrissener Robe und Blut im Gesicht, an Lippen und Schläfen, befand er sich auf Händen und Knien. Er war mit Ketten an Händen und Füßen an den Boden gefesselt, vor ihm etwas, das ein dunkler Altar sein konnte. Sarin riss seinen Blick von der Zeichnung los und sah zu Terrance. „Jetzt bin ich gespannt. Ist es etwas aus Eurer Vergangenheit?“
„Zum Teil, wie mir scheint.“ Terrance deutete auf die Zeichnung. „Der Altar kommt mir bekannt vor. Es ist etwa zwanzig Jahre her, daher kann ich es nicht mit völliger Sicherheit sagen, aber ich halte ihn für den Altar im Tempel des Chemosh in der Torstadt Verdammnis.“
„Das ist der Tempel, den Ihr entweiht habt, um Bundmeister der Athar zu werden“, stellte Rhys sachlich fest.
„Genau.“ Terrance nickte und warf dabei einen kurzen Blick zu Sarin, der wenig begeistert erschien.
„Ach ja, Ihr und Euer Bund entweiht ja gerne heilige Artefakte oder gleich ganze Tempel“, stellte der Paladin kühl fest, „Ich versuche das immer zu verdrängen, wenn wir uns treffen, aber gerade eben habt Ihr mich sehr deutlich daran erinnert.“
Terrance blieb ruhig, nur der Blick seiner dunkelblauen Augen verriet, dass Sarins Worte ihn verärgerten. „Bundmeister Sarin“, erwiderte er, „Bitte tut doch nicht so, als würde es Euch besonders treffen, dass ich den Tempel eines bösen Gottes des Untodes entweiht habe.“
Der Paladin winkte ab. „Das tut es nicht. Dass Ihr Euch gerade diesen Tempel ausgesucht habt, spricht immerhin für Euch. Ich finde diesen Brauch nur generell vollkommen ... verabscheuungswürdig.“
„Aber meine Herren“, griff Rhys vermittelnd ein, „Wir sind nicht hier, um eine bund-philosophische Debatte zu führen. Ausnahmsweise gibt es heute ein wichtigeres Thema.“
Abwehrend hob Sarin die Hände. „Ich bin schon still. Bitte, Terrance, fahrt fort.“
„Es ist im Grunde alles gesagt.“ Der Bundmeister der Athar hob die Schultern. „Ich nehme an, dass sich diese Szene im Chemosh-Tempel in Verdammnis abspielt, den ich vor fast zwanzig Jahren entweiht habe.“
Ambar beugte sich vor und deutete auf die Zeichnung. „Aber das hier ... ist damals nicht geschehen, oder? Es ist also nicht die Vergangenheit, die wir hier sehen?“
„Nein“, antwortete Terrance, „Ich war, dem Großen Unbekannten sei Dank, bisher noch nie in einer derartigen Lage. Janas Vision zeigt hier also wahrscheinlich die Zukunft, auch wenn es mir nicht gefällt, was ich sehe.“
„Ist es wahr, was man sagt?“, fragte Erin und musterte den Bundmeister der Athar gespannt, „Dass es den Priestern des Chemosh bisher nicht gelungen ist, den Tempel ihrem Gott zurückzugeben?“
Ein Lächeln huschte über Terrances Lippen, in seinem Blick lag eine merkwürdige Mischung aus Bescheidenheit und Befriedigung, als er antwortete: „Ja, es ist wahr.“
„Und wie, bei allen Höllen, habt Ihr das angestellt?“ Sarins Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass ihm die gegebene Antwort nicht behagte. „Ich meine, Chemosh hat viele und mächtige Priester und Ihr wart doch seit dieser Zeit nie mehr in Verdammnis, oder? Warum gelingt es denen trotz aller Bemühungen nicht, den Einfluss Eurer Entweihung zu beseitigen?“
Terrances Lächeln blieb so ruhig und bescheiden wie bisher. „Der Glaube ermöglicht sehr vieles, Sarin.“
Der Bundmeister des Harmoniums lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und musterte Terrance. Ein gewisses Unbehagen konnte er dabei nur schwer verbergen. Ambar führte den Gedankengang weiter.
„Um diesen Tempel wieder Chemosh zu weihen, mein Freund ... Würde man da Euch persönlich benötigen?“
Er sah Terrance besorgt an, als dieser nüchtern nickte. „Ich nehme es an. Vielleicht mein Blut. Vielleicht auch mein Leben. Ganz genau kann ich es nicht sagen.“ Er blickte auf seine Hände, eher er sie wieder auf der Tischplatte faltete.
„Das klingt nicht sehr gut, Terrance“, ließ Lady Erin sich vernehmen, „Und was wollt Ihr nun tun?“
„Was sollte ich groß dagegen unternehmen?“ Der Bundmeister der Athar blieb ruhig. „Möglicherweise sieht Jana eine festgeschriebene Zukunft, der wir ohnehin nicht entfliehen können. Und es wird einfach geschehen.“
„Nein, nein“, entgegnete Ambar ungewöhnlich energisch, „Damit finde ich mich nicht so einfach ab. Wir werden nicht irgendetwas untätig auf uns zukommen ... oder uns überrollen lassen!“
Die Bemerkung des Halbelfen kam Terrance offenbar gerade recht, um auf ein anderes Thema abzulenken. „Und an was denkt Ihr konkret, mein Freund?“ Der Bundmeister der Athar deutete auf die Zeichnung, die Ambar zum Motiv hatte. „Könnt Ihr uns etwas hierzu sagen? Oder dazu, was man dagegen unternehmen könnte?“
Ambar seufzte, als er merkte, dass sich alle Aufmerksamkeit nun auf ihn richtete. Er warf noch einen kurzen Blick auf die Zeichnung, dann lehnte er sich zurück. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, was das darstellen könnte“, erklärte er. „Es sieht unangenehm aus und gefällt mir nicht. Aber ich kann mir keinen Reim darauf machen.“
Rhys sah sich das entsprechende Blatt nochmals genauer an, ehe sie auf ihre sachliche Art bemerkte: „Offenbar habt Ihr Schmerzen. Eurer Haltung nach zu urteilen seid Ihr möglicherweise auch gefesselt. Und was diese dunkel verhüllte Gestalt da in der Hand hat ... Es könnte sich um ein sehr dünnes Messer oder auch eine lange Nadel handeln. Vielleicht werdet Ihr gefoltert.“
„Danke Rhys“, erwiderte Ambar wenig erfreut, „Ich habe es ähnlich interpretiert wie Ihr. Aber Eure so wundervoll sachliche und prägnante Beschreibung hat es mir noch ein Stück deutlicher vor Augen geführt.“
Auch Sarin musterte das Bild aufmerksam. „Das ist genauso bedenklich wie die Vision, die Jana von Terrance hatte. Sagt, Bundmeister Ambar, habt Ihr in letzter Zeit irgendwelche Drohungen erhalten?“
Der Halbelf musste nun doch wieder grinsen. „Ihr meint solche, die über den üblichen Unsinn hinausgehen, mit dem jeder Bundmeister ständig konfrontiert ist?“
Sarins Lächeln zeigte, dass er genau wusste, wovon Ambar sprach. „Ja, ganz genau.“
Zur allgemeinen Überraschung wurde Ambar wieder ernster und zögerte kurz. „Nein“, erwiderte er dann, „Nein, keine.“
Sarin musterte ihn mit forschend erhobenen Brauen und der Bundmeister der Göttermenschen richtete sich in seinem Stuhl auf. „Was? Überprüft Ihr etwa, ob ich lüge? Sarin, Ihr habt kein Recht ...“
„Nein.“ Der Paladin hob abwehrend die Hände. „Nein, habe ich nicht. Ich bitte Euch, Ambar, das hättet Ihr doch bemerkt.“
Die grünen Augen des Halbelfen waren ungewohnt ernst. „Hätte ich?“
„Ja“, antwortete Sarin aufrichtig, „Ihr habt es bisher nur nie gespürt, weil ich es noch nie versucht habe. Ich weiß, dass es mir nicht zusteht, andere Bundmeister Sigils wie inhaftierte Verdächtige zu behandeln. Daher maße ich mir auch nicht an, es zu tun.“
Ambar entspannte sich wieder. „Tut mir leid, Sarin. Ich wollte Euch nichts unterstellen. Das Ganze ist nur ... Vergessen wir es, einverstanden?“
Der Bundmeister des Harmoniums schien nicht verärgert zu sein. „Ist schon gut. - Ihr könnt also zu der Szene nichts sagen? Kein Anhaltspunkt, worum es überhaupt gehen könnte, so wie bei Terrance?“
Ambar seufzte kopfschüttelnd. „Leider nein. Ich wünschte, ich könnte mir einen Reim darauf machen. So völlig im Dunkeln zu tappen, macht die Sache noch unheimlicher. Aber ich habe keine Ahnung, was diese Szene mir sagen oder was sie darstellen soll.“
Die Bundmeister schwiegen kurz, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft, dann tippte Erin Montgomery sachte Sarin an.
„Und Ihr?“ Sie deutete auf seine Zeichnung. „Habt Ihr einen Anhaltspunkt? Ihr seid auch in einer Lage zu sehen, die mir nicht ganz typisch für Euch erscheint.“
„Da habt Ihr wohl Recht, Lady Erin.“ Sarin warf einen Blick auf die Zeichnung, die zeigte, wie er vor einer älteren Frau auf dem Boden kniete und den Saum ihres Kleides küsste. Seine beiden Säbel lagen vor ihm. „Auch, was mich angeht, ist es kein Ereignis aus meiner Vergangenheit. Aber ich habe keine Idee, was die Szene zeigen soll.“
Ambar legte den Kopf leicht schief, als er das Bild betrachtete. „Irgendwie wirkt es eher wie eine freiwillige Geste.“
„Zumindest ist Sarin im Gegensatz zu Euch und Terrance weder gefesselt noch verletzt“, stimmte Rhys zu, „Aber es könnte natürlich auch eine in der Vision nicht sichtbare Art von Zwang dahinter stecken.“
Der Bundmeister des Harmoniums stützte einen Ellbogen auf die Tischplatte. „Spontan möchte ich sagen, dass ich eine derartige Geste nicht freiwillig vollziehen würde. Aber ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Wer weiß, was die Zukunft bringt?“
„Was ist mit Lady Juliana?“, fragte Terrance.
Sarin hob den Kopf. „Was meint ihr?“
„Wäre diese Geste ihr gegenüber vorstellbar? Auf freiwilliger Basis? Beziehungsweise, könnte sie die Frau in der Vision sein?“
Erin beugte sich vor, um die Zeichnung noch einmal genauer zu betrachten. „Hm ... Jana hat sehr gut gezeichnet, aber die Gesichtszüge sind nicht eindeutig genug, um das sagen zu können, denke ich.“
Sarin warf erneut einen längeren Blick auf das Bild, dann hob er die Schultern. „Schwer zu sagen. Möglicherweise wäre ich, unter bestimmten Umständen, bereit, das bei Juliana zu tun. Aber ob sie die Frau ist, die in der Vision erscheint, wird nur Jana beantworten können. Am besten wäre es wohl, wenn ich ihr bei Gelegenheit ein Bild von Lady Juliana zeige und sie danach frage.“
„Ja.“ Rhys nickte. „Alles andere bringt uns wohl nicht weiter. Euer Teil der Vision ist der einzige, in dem eine erkennbare andere Person zu sehen ist. Die Gestalt bei Ambar ist vermummt, da werden wir nicht viel weiterkommen. Aber wenn Jana uns sagen könnte, wer die Frau ist, vor der Ihr hier kniet, wäre das sicher hilfreich.“
Sarin wandte sich an den Bundmeister der Athar. „Mit Eurer Erlaubnis, Terrance, werde ich Jana dazu befragen.“
„Bitte“, erwiderte der Hohepriester, „Aber seid bitte sanft und macht ihr keine Angst. Sie ist ohnehin nicht ganz ... stabil.“
„Macht ihr keine Angst?“ Sarin hob die Brauen. „Was soll das heißen?“
„Kommt schon.“ Terrance lächelte milde. „Ihr wisst genau, dass Ihr auf viele Leute eine einschüchternde Wirkung ausübt. Ich verstehe natürlich, dass Euer Amt das oft erfordert. Seid einfach taktvoll, ja?“
„Selbstverständlich bin ich das“, entgegnete Sarin und blickte dann zu Erin und Rhys. „Aber wenden wir uns doch von Euren Zweifeln an meinem Taktgefühl ab und hin zu den beiden Damen in unserer Runde.“ Er zog das Pergament, welches Erin darstellte, ein wenig näher zu sich, um noch einmal einen Blick darauf zu werfen. Dann blickte Sarin zur Bundmeisterin der Sinnsaten „Habt Ihr uns etwas zu sagen, Mylady?“
Erins volle Lippen formten ein amüsiertes Lächeln, als sie in einer Geste der Unschuld beide Hände vor dem Dekolleté kreuzte. „Sarin, der Tonfall, in dem Ihr das sagt und die Art, wie Ihr mich dabei anseht, machen es mir schwer, mich nicht wie in einem Verhör zu fühlen.“
Der Paladin nahm ihren ironischen Tonfall auf, als er antwortete. „Verehrte Erin, ich verspreche Euch, sollte es je so weit kommen, werde ich genauso zuvorkommend und höflich sein wie jetzt.“
Rhys Blick glitt still, aber stetig zwischen den beiden hin und her. Es war nicht zu übersehen, dass Erin dem Bundmeister des Harmoniums manchmal mit einer gewissen Koketterie begegnete, die sich in einer schwer fassbaren Grauzone zwischen unverbindlichem Necken, freundschaftlicher Spielerei und subtiler Annäherung bewegte. Sarin wiederum reagierte auf die schöne Frau mit einer galanten Ritterlichkeit, die nichts an gesellschaftlicher Etikette zu wünschen übrig ließ. Diese Art des Umgangs zwischen den beiden, das war Rhys bewusst, war nur möglich, weil Erin und Sarins Frau Faith gut befreundet waren. Dennoch hatte es in Sigil bereits zu ein paar Gerüchten geführt. Auf der anderen Seite wurde im Käfig seit jeher getrascht, was das Zeug hielt. Es reichte, dass ein Mann wie Sarin und eine Frau wie Erin sich vor einer Sitzung in der Halle der Redner kurz privat unterhielten, um zu tuscheln.
Die Bundmeisterin der Sinnsaten sah nun ebenfalls noch einmal auf die Zeichnung. „Es sieht nach … einem ereignisreichen Abend aus“, bemerkte sie schließlich mit einem Anflug von Ironie.
„Ja.“ Terrance lächelte amüsiert. „So könnte man es auch ausdrücken.“
Seufzend blickte Erin ihn an. „Im Ernst, Terrance, ich habe keine Ahnung, was hier zu sehen ist. Ich halte einen Dolch, ja. Mein Kleid ist befleckt, das stimmt. Aber ist es vielleicht nur Wein? Oder doch Blut? Meines? Ich scheine jedoch nicht verletzt zu sein. Fremdes Blut?“ Sie hob ihre zarten Schultern. „Falls ja, was könnte mich dazu treiben? Ich wage zu behaupten, ich hätte einen guten Grund, sollte ich einen Dolch gegen jemanden richten.“
„Das denke ich auch“, unterstützte Ambar sie, „Und Gründe hierfür könnte die Zukunft durchaus bringen, bei dem, in was wir da geraten sind.“
Sarin warf Erin ein warmes Lächeln zu. „Ambar hat Recht. Ich halte Euch für eine Frau, die derartige Schritte nicht grundlos ergreifen würde.“
Rhys beugte sich ebenfalls noch einmal über die Zeichnung. „Ihr wirkt erleichtert auf dem Bild. Oder eher traurig? Hm, schwer zu sagen … Aber etwas sagt mir, dass es dabei um etwas Altes geht. Eine Angelegenheit aus Eurer Vergangenheit, nicht der Zukunft.“
„Wie kommt Ihr darauf?“ fragte Erin erstaunt.
Rhys lächelte sacht. „Nur ein unbestimmtes Gefühl. Macht meine Verbundenheit mit der Kadenz der Ebenen dafür verantwortlich.“
„Und was sagt die Kadenz der Ebenen hierzu?“ Sarin drehte ihr das Blatt zu, das sie mit verbundenen Augen im Schnee zeigte.
Rhys Miene blieb unbewegt. „Dass dies im Gegenzug etwas ist, dass sich allein auf die Zukunft bezieht.“
„Könnt Ihr das vielleicht ein wenig näher ausführen?“ fragte Terrance sachlich.
Wieder beugte sich die Bundmeisterin der Kryptisten kurz vor. „Ich kann noch anfügen, dass ich normalerweise nicht so angezogen bin, schon gar nicht bei Schnee. Daher halte ich es für eine Ausnahme- und Extremsituation.“
Ambar musste aufgrund dieser Bemerkung laut lachen und Sarin warf ihm einen tadelnden Blick zu. Der Halbelf räusperte sich.
„Verzeihung, aber … Also bitte, das war doch wirklich lustig.“
Auch Erin schmunzelte, während Rhys unbewegt zu Ambar blickte.
„Es war ein völlig ernst gemeinter Beitrag zu dem entsprechenden Thema.“ Das kurze Lächeln, das schnell wie ein Schatten über ihre Lippen huschte, konterkarierte ihre Behauptung jedoch.
„Ernsthaft, Rhys“, bemerkte Sarin, „Wenn Ihr dazu irgendeine Ahnung habt, dann solltet Ihr uns davon erzählen. Wir sollten versuchen, einander so gut wie möglich zu unterstützen. Keiner hier am Tisch fällt in die Kategorie von Konkurrenten, die ich gerne über den Styx wandern sehen möchte.“
Rhys wurde wieder ernst. „Das habt Ihr schön gesagt, Sarin, und ich glaube Euch. Aber ich habe wirklich keinerlei Anhaltspunkt. Janas Vision ist mir rätselhaft. Ich hoffe, dass die Kadenz der Ebenen mir bald Aufschlüsse darüber gibt. Aber mehr kann ich nicht sagen.“
„Nun gut“, bemerkte Terrance, „Dann können wir wohl vorerst wirklich nicht mehr dazu herausfinden. Der Altar des Chemosh und eine uns noch unbekannte Frau … das sind die einzigen Anhaltspunkte.“
„Versuchen wir herauszufinden, wer die Frau ist“, meinte Erin, „Fragen wir Jana bei Gelegenheit noch einmal nach möglichen Details dieser Vision.“
Und so endete dieses ungewöhnliche Bundmeistertreffen in der Städtischen Festhalle zwar ohne tiefer gehende Erkenntnisse, aber mit einem Gefühl der Verbundenheit. Und wenngleich dieses Gefühl auch ausgelöst sein mochte durch wenig erfreuliche Visionen, so schätzte Rhys dennoch die Tatsache, dass diese Ereignisse sie näher zusammenbrachten. Denn eines Tages, das war ihr klar, würden sie diesen Zusammenhalt dringend brauchen.




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