He! Wie komm ich von hier in die nächste Stadt?“ - getarntes Scheusal im Elysium

Wenn du es verdienst, Dussel.“ - Flynn, Faktor der Hüter

 


 

Zweiter Leeretag von Savorus, 126 HR

Der himmlische Fluss Oceanus, einer der größten planaren Verbindungswege, war gigantisch. Auf der einen Seite sahen die Reisenden noch gerade so das Ufer, von dem sie sich auch schon weit entfernt hatten - auf der anderen Seite aber dehnte sich nichts als Wasser hin. Wäre da nicht die deutlich sichtbare Strömung gewesen, man würde sich gewiss auf einem Meer vermuten, nicht auf einem Fluss. Das Schiff mit den azurblauen Segeln hatte vor etwa einer Stunde abgelegt und schaukelte nun sanft über die Wellen. Einmal segelte ein anderes Schiff vorbei, elegant und schlank, aus Goldholz, mit seidenen Segeln. Die Passagiere waren hauptsächlich Elfen und Aasimar und winkten freundlich herüber. Ein wenig später sprangen neben dem Bug plötzlich mehrere große Fische hoch. Morânia rklärte ihren Reisegefährten, dass es Delphonen waren, die man auch Liederhaie nannte. Sie sahen aus wie Haie, hatten aber bunte Haut, oft bedeckt mit anmutigen Mustern. Sie lebten in allen großen Gewässern der Oberen Ebenen und sangen mit wunderschönen Stimmen von vielen Geheimnissen des Multiversums. Auch diese Delphonen sangen eine hinreißende Melodie, die die Reisenden sofort in ihren Bann zog - Lereia und Sgillin ein wenig zu sehr, denn ihr Blick wurde abwesend und bald waren sie wie in einem Tagtraum gefangen. Morânia versicherte der besorgten Jana, dass dieser Zustand nicht gefährlich war und nach ein paar Stunden von selbst verging. Lereia und Sgillin würden lediglich ein paar schöne Träume haben. Allerdings überwog inzwischen die Zahl der bewusstlosen oder schlafenden Gruppenmitglieder die der wachen.

Daher erhob sich Morânia von den Sitzkissen, wo auch sie eine Zeitlang dem Delphonen-Gesang gelauscht hatte, ging hinüber zu Kiyoshi und prüfte seinen Zustand.

Er war noch immer so heiß, als ob er extrem hohes Fieber hätte, und die Schuppen an seinen Handgelenken hatten sich nun bis auf die gesamten Arme und Hände ausgebreitet. Jana sah Kiyoshi fasziniert an.

„Ob das ungesund ist?“, murmelte sie leise.

Morânia musste schmunzeln. „So wenig wie meine Hörner, vermute ich.“

„Aber du hattest deine Hörner schon immer, oder nicht?“ Jana schüttelte zweifelnd den Kopf. „Ist es nicht vielleicht ... ist er nicht zu alt für solche Veränderungen?“

„So etwas kann auch später geschehen“, beruhigte Morânia sie. „Es ist zum Beispiel nicht ungewöhnlich, dass Berührte ihre Merkmale erst während des Heranwachsens zeigen. Es kann aber auch noch später geschehen.“

Jana nickte verstehend und auch Naghûl war nun herüber gekommen, beugte sich ebenfalls zu Kiyoshi.

„Er ist sehr heiß“, stellte er fest. „Aber das liegt wahrscheinlich am Drachenblut, das jetzt durchkommt. - Hoffe ich.“

In diesem Moment riss Kiyoshi plötzlich die Augen auf, und seine drei Gefährten fuhren überrascht bis erschrocken zurück. Nicht nur seine Haut hatte sich verändert, auch seine Augen – und dies auf sehr auffällige Weise. Die Iris schien verschwunden zu sein, beziehungsweise waren Iris und Augapfel nun offenbar eins – und vollkommen gelb, bis auf die Pupille. Diese wiederum war nicht mehr rund, sondern schlitzförmig - ein weiteres Merkmal seines Drachenblutes. Kiyoshi setzte sich langsam auf, wirkte aber noch etwas verwirrt und sprach ein paar Worte in einer fremden Sprache. Es mochte sich um seine Muttersprache aus seiner Heimat Kamigawa handeln.

„Du warst eine Weile weg“, erklärte Jana ihm.

Er nickte ernst und sah sich um, schien ein wenig verwirrt, als er feststellte, dass er sich auf einem Schiff befand. „Verzeiht meine Unwissenheit“, sagte er, „aber darf ich fragen, wo wir uns befinden?“

Morânia berichtete ihm in Kürze, was während seiner Bewusstlosigkeit geschehen war und erklärte ihm, dass sie nun den himmlischen Fluss Oceanus befuhren. Der junge Soldat ließ den Blick seiner nunmehr gelben Augen über die Wellen schweifen.

„Oceanus.“ Er nickte. „Ich danke Euch vielmals, ehrenwerte Morânia-sama. Aber sagt mir, steht uns eine erneute Begegnung mit dem Bebilithen bevor?“

„Hoffentlich“, meinte Jana. „Denn wir müssen ihn unbedingt finden.“ Sie hatte eine kleine Schatulle aus ihrer Tasche geholt, die sie nun öffnete und nahm eine weiße Blüte daraus hervor. Sie betrachtete sie von allen Seiten, scheinbar um zu überprüfen, ob sie unversehrt und in gutem Zustand war.

„Eine sehr schöne Blüte“, stellte Morânia fest. „Was ist das für eine Blume?“

„Sie stammt von unserem heiligem Baum“, erklärte Jana lächelnd. „Mein Bundmeister hat sie für mich gepflückt, nur er kann den Baum länger berühren, ohne zu sterben. Faszinierend, nicht? Ein Baum, der fast jeden töten kann, der ihn berührt.“

Morânia nickte sacht. Das wurde in Sigil oft und gerne erzählt, aber außerhalb des Bundes der Athar waren viele sich nicht sicher, ob es sich dabei nur um ein Gerücht oder um die Wahrheit handelte. Sie fasste die Blüte genauer ins Auge: Sie war fast handtellergroß und in der Form einem Lotus nicht unähnlich, wenn auch mit breiteren Blättern. Sie strahlte in einem hellen, reinen Weiß, und die gelben Staubgefäße in ihrem Inneren schienen selbst hier im Tageslicht schwach zu leuchten. Morânia spürte eine gewisse Faszination, aber auch Unbehagen. Der Bois Verdurous, der Heilige Baum der Athar, war ihr noch nie geheuer gewesen.

„Dann ... ist es wahr?“, fragte sie Jana, fast zögernd. „Dass nur Terrance ihn berühren kann?“

„Zumindest haben das alle gesagt“, meinte die Hexe. Sie sah von der Blüte auf, grinste ein wenig und zuckte mit den Schultern. „Ich war ehrlich gesagt nicht mutig genug, um den Wahrheitsgehalt im Selbstversuch zu ergründen.“

Morânia lächelte. „Das war wahrscheinlich weise. Der Baum ... also, der ganze Tempel .. verzeih, wenn ich es so offen sage, aber sie sind mir immer etwas unheimlich gewesen.“

„Ich kann dich ja mal herumführen“, erwiderte Jana grinsend. „Du wirst das bestimmt erhellend finden.“

„Ja, ganz sicher.“ Morânia musste bei der Vorstellung ein wenig lachen. „Deine Freunde werfen mich sicher sofort hochkantig raus.“

„Meine Damen, bitte keine Grundsatzdiskussionen“, warf Naghûl ein. „Wir haben eine Mission und keine Missionierung vor uns.“

Jana schmunzelte erheitert. „Ich würde doch deine Frau nicht vom Glauben abbringen wollen, Naghûl. Zumindest nicht, bevor das hier durchgestanden ist.“

„Keine Sorge“, erwiderte die Bal'aasi und breitete kurz die gefiederten Schwingen aus. „Weißt du, wir sind ja im Elysium. Selten ist mein Gott mir näher.“ Sie hob die Arme, legte den Kopf zurück und rief dann: „Gelobt sei der Morgenfürst! Gelobt sei sein Licht! Gepriesen sei Lathander, der Fürst des Elysiums, jetzt und in alle Ewigkeit.“ Als sie die Arme wieder sinken ließ, zwinkerte sie ihrem Mann kurz zu. Die Vorlage war zu gut gewesen, um sie ungenutzt zu lassen.

Naghûl seufzte und ließ gespielt geknickt den Kopf etwas hängen. „Wie naiv von mir ...“

Sowohl Morânia als auch Jana mussten lachen, doch Kiyoshi wahrte eine todernste Mine.

„Keine Missionierung? Wie enttäuschend“, meinte er. „Und ich war so sehr darauf aus, euch allen das Licht des Harmoniums näher zu bringen.“

„Also, was das Harmonium will, ist ja im Grunde sehr in Ordnung“, meinte Morânia. „Vielleicht seid Ihr manchmal etwas ... restriktiv.“ Sie hob die rechte Hand und führte Daumen und Zeigefinger aneinander. „Nur ein ganz klein wenig.“

„Und ein wenig zu religiös“, fügte Jana an. „Ein wenig.“

Naghûl grinste. „Und ein bisschen - aber wirklich nur ein bisschen - zu ernst.“

„Also, das mit dem witzig sein ist schwerer, als ich dachte.“ Kiyoshi atmete tief durch und seufzte.

Morânia musste schmunzeln. „Schon gut, wir verstehen uns. Mein Bund strebt ja auch sehr nach Harmonie. Mehr von innen heraus als von außen, aber trotzdem ... Und Euer Bundmeister ist wirklich ein guter Mann. Also, er ist Paladin, er muss gut sein.“ Sie zwinkerte bei diesen Worten zu Jana hinüber.

Naghûl beschloss offenbar, die in dieser Debatte unterrepräsentierte Athar ein wenig zu unterstützen. „Ach ja, und was will eigentlich dein Bund?“, neckte er Morânia. „Eigentlich weiß doch keiner, was die Kryptisten wollen, außer vielleicht die Kryptisten selber.“

„Jetzt aber mal halblang, Herr Sinnsat“, erwiderte sie lachend.

Naghûl spitzte etwas die Lippen und wirkte zufrieden über seinen kleinen Seitenhieb, doch Jana seufzte leise.

„Also, wenn uns jetzt nicht bald eine gute Tat über den Weg läuft, dann bleiben uns leider nur Grundsatzdiskussionen.“

Morânia lächelte. „Aber die Debatte - oder auch die gepflegte Diskussion ab und an - über unsere Philosophien gehört nun einmal zu den Ebenen wie Himmel und Höllen.“

„Schon gut.“ Jana nickte. „Ich muss mich daran wohl noch ein bisschen gewöhnen. Manchmal bin ich da zu empfindlich.“

„Noch, Jana“, erwiderte Naghûl gutmütig. „Aber das bekommst du schon in den Griff. Noch ein paar Jahre Bundleben und deine Haut wird dicker. Ging uns allen so.“

Ernst betrachtete Kiyoshi seine geschuppten Arme. „Bei mir scheint das mit der dicken Haut beunruhigend schnell zu gehen.“

Seine Bemerkung ließ Morânia schmunzeln. Ihr fiel auf, dass Kiyoshis Bemerkungen oft gerade dann lustig waren, wenn er es nicht beabsichtigte. Wenn er dagegen bewusst Humor einsetzen wollte, ging es meistens nach hinten los. Sie warf einen Blick auf die messingfarbenen Schuppen. „Es sieht auf jeden Fall beeindruckend aus.“

Naghûl nickte zustimmend. „Das Hornige steht Euch, mein Freund.“

In diesem Moment gab der Kapitän der Mannschaft ein Zeichen, die Fahrt zu verlangsamen und Morânia erhob sich, um einen Blick über die Reling zu werfen.

„Ah.“ Ihre Miene hellte sich auf. „Da kommt unsere gute Tat, wie es aussieht.“

Es kam eine kleinere Sandbank in Sicht, bewachsen nur von einigen wenigen Palmen und kaum eine Insel zu nennen. Dort befanden sich zwei Personen, ein Mann Anfang dreißig und ein etwa zwölfjähriges Mädchen, beide weder ärmlich noch prunkvoll, sondern in praktische, seetaugliche Gewänder gekleidet. Der Mann winkte zum Schiff herüber und bereits aus der Entfernung konnte Morânia erkennen, dass Teile eines zerstörten Floßes oder Bootes auf dem Sand lagen. Der Kapitän ließ die Mannschaft sofort zur Sandbank steuern und dort den Anker auswerfen. Doch weder er selbst noch die Besatzung gingen an Land. Stattdessen sah der Avariel zu seinen Passagieren herüber.

„Meine Freunde, ich nehme an, dies ist Eure Aufgabe.“

Naghûl nickte. „Dann lasst uns den beiden mal helfen.“

Er selbst, Kiyoshi, Jana und Morânia gingen von Bord, während Sgillin und Lereia weiterhin friedlich in den weichen Kissen schlummerten, verzaubert vom Lied der Delphonen, den bewusstlosen Deva in Fuchsgestalt an ihrer Seite. Kiyoshi verbeugte sich mit gefalteten Händen vor den beiden Schiffbrüchigen, während Naghûl ihnen freundlich zuwinkte.

„Sharess zum Gruße“, rief er. „Können wir Euch behilflich sein?“

Das Mädchen, das nahe am Wasser gesessen und mit einer Krabbe gespielt hatte, sprang auf und winkte ihnen fröhlich zu. Der Mann, der neben ihr stand, lächelte warm.

„Ich grüße Euch, geschätzte Reisende. Meine Tochter und ich sind auf dem Weg in das Reich von Peraine. Leider ist uns durch eine unglückliche Strömung unser Floß an diesen Steinen hier zerschellt. Ob Ihr uns möglicherweise helfen könntet, es zu reparieren? Wir haben nur leider kein Werkzeug mehr, es liegt am Grunde des Oceanus.“

Naghûl nickte. „Ich denke, wir können da ein wenig improvisieren.“

Die beiden lächelten erleichtert, doch Jana sah hilflos von Naghûl zu Morânia und Kiyoshi.

„Ich glaube nicht, dass ich gut darin bin, Dinge zu reparieren. Erst recht nicht, wenn sie schwer sind …“

„Ach, keine Sorge“, bestärkte Morânia sie. „Du kannst uns ja auch einfach Dinge zureichen. Sehen wir erst einmal nach, was es noch auf dem Schiff gibt, das uns helfen könnte.“

„Oh ja, nehmen wir das Schiff auseinander.“ Jana wirkte prompt wieder deutlich fröhlicher. „Das ist etwas, das ich kann.“

Der Mann warf ihr einen zweifelnden Blick zu, lächelte dann aber höflich. Morânia verbiss sich ein Grinsen, als sie auf das Schiff zurück gingen, um den Laderaum aufzusuchen. Manchmal war Jana wirklich ein wenig eigen. Unter Deck fanden sie einige massive Holzdielen, Seile, Nägel und Werkzeug, und der Kapitän stellte ihnen alles freundlich zur Verfügung. Die beiden Schiffbrüchigen halfen ihnen, die Sachen vom Schiff zum Strand zu tragen. Kiyoshi blickte von den Brettern und Werkzeugen zu den Überresten des Floßes.

„Ist jemand unter uns ein Schreiner?“, fragte er.

Morânia, Naghûl und Jana schüttelten den Kopf, doch der Mann nickte.

„Ein wenig verstehe ich mich darauf.“

„Wenn Ihr uns anweist, dann können wir gerne die entsprechenden Arbeiten ausführen“, schlug der Soldat vor.

Der Gestrandete nickte und erklärte sogleich, welche Arbeitsschritte der Reihe nach nötig waren, um das Floß zu reparieren. Morânia folgte diesen Anweisungen so gut als möglich und auch Kiyoshi schwang fleißig den Hammer. Die Bal'aasi hatte den Eindruck, dass er – obgleich kein Zimmermann – doch eine profunde Erfahrung in handwerklichem Arbeiten besaß. Jana hingegen stand daneben und wirkte reichlich überfordert mit den Erklärungen des Mannes, gab sich aber zumindest Mühe, nicht im Weg zu stehen. Naghûl, ebenfalls nicht sonderlich handwerklich begabt, verrichtete eher Handlangerarbeiten oder ließ eine große, grüne Hand die Dielen und Stämme halten, damit die anderen besser arbeiten konnten. Nach zwei bis drei Stunden war das Floß dann tatsächlich wieder instand gesetzt. Die beiden Schiffbrüchigen bedankten sich herzlich.

„Wir haben gerne geholfen“, erwiderte Morânia lächelnd.

Naghûl nickte. „Stimmt. Gute Fahrt, Freunde! Aber puh, jetzt hab ich Durst.“

Morânia musste lachen, weil ihr Mann rein körperlich gesehen nicht wirklich viel gearbeitet hatte. Die schweren Tätigkeiten hatte er der magischen Hand überlassen, der Schelm, und nun gab er sich wie ein erschöpfter Zimmerer nach abgeschlossenem Hausbau. Seine Ader fürs Theatralische erstreckte sich eben in alle Bereiche des Lebens, dachte sie erheitert bei sich.

Das Mädchen winkte ihnen, als sie wieder an Bord gingen. „Peraines Segen sei mit Euch!“, rief es ihnen nach.

Jana grüßte zurück, den religiösen Segenswunsch souverän ignorierend. „Fahrt vorsichtiger, hört ihr?“

„Wir geben uns Mühe“, versprach der Mann.

Als das Schiff wieder ablegte, lehnten sich die Passagiere an die Reling und beobachteten, wie die beiden nun nicht mehr Schiffbrüchigen auf das Floß stiegen und ebenfalls losfuhren. Jana sah Morânia hoffnungsvoll an.

„Und nun kommen wir … weiter?“

„So ist es“, erklärte die Bal'aasi und fügte auf den besorgten Blick der Hexe hin an: „Keine Sorge, es funktioniert wirklich. Komm, setzen wir uns wieder, du wirst schon sehen.“

Naghûl und Kiyoshi hatten bereits wieder neben den beiden Träumern und dem Deva Platz genommen, und der Tiefling hatte mit seinem Ewig Kühlen Bierkrug von der Eisebene Wasser aus dem Oceanus geschöpft, das er nun genüsslich trank. Jana umschlang ihre Knie und grinste.

„Wenn wir in Sigil doch nur auch so reisen könnten.“

Morânia lachte. „Das wäre schön. Und kein böses Wesen würde vorwärts kommen.“ Sie blickte zu Kiyoshi. „Der Traum Eures Bundmeisters.“

Der nickte ernsthaft und Jana kicherte ein wenig.

„Also, wie funktioniert das jetzt?“, fragte sie dann. „Sind wir gleich einfach ... da?“

„So in der Art.“ Morânia nickte. „Wartet ab, ihr werdet es gleich sehen.“

Die Reise wurde fortgesetzt, und die Fahrt ging auf den ersten Blick unverändert weiter: Der Wind war lau, die Sonne schien warm, aber nicht brennend, und das Schiff segelte sacht auf den Fluten des Oceanus. Doch nach etwa einer halben Stunde rief der Kapitän aus:

„Wir sind soeben in Mishakals Reich eingefahren, mein Freunde. Wir befahren nicht mehr den Oceanus, sondern den Fluss Niloa.“

Jana richtete sich auf und drehte sich neugierig zur Reling. Noch während man sich fragen mochte, wie der Kapitän ihren neuen Standort so schnell bestimmen hatte können, sahen sie, dass der Fluss plötzlich um ein Vielfaches schmaler war: Man konnte wieder beide Ufer sehen. Links erstreckte sich ein üppiger Wald, rechts ein freundliches Hügelland. Auch Morânia, Naghûl und Kiyoshi traten neben Jana an die Reling. Bald sahen sie am Ufer ein kleineres Steingebäude in Sicht kommen ... aber etwas stimmte nicht. Keine Seele war zu sehen. Die Erde am Ufer war aufgerissen und zerwühlt.

Naghûl runzelte die Stirn. „Was ist denn da los?“

„Vielleicht sollten wir uns das ansehen ...“, meinte Morânia besorgt.

Die anderen schienen ihr mulmiges Gefühl bei dem Anblick zu teilen, denn Naghûl nickte sogleich und packte seinen Krug weg, um ihn gegen seinen Stab einzutauschen. Kiyoshi setzte seinen Helm auf und zückte die Naginata, während Jana dem Kapitän zuwinkte.

„Wir müssen hier an Land“, rief sie ihm zu.

Der Avariel nickte und gab den Befehl zum Anlegen.

Besorgt warf Jana einen Blick gen Ufer. „Glaubt ihr, wir müssen … gegen das Ding kämpfen?“

„Leider durchaus möglich“, meinte Morânia seufzend, froh, ihre Rüstung doch noch nicht abgelegt zu haben und nun schnell kampfbereit zu sein. „Sehen wir mal nach.“

Das Schiff konnte relativ nah am Ufer ankern, so dass sie kein Beiboot verwenden mussten, sondern die Landungsbrücke ausgeklappt wurde. Naghûl und Jana murmelten einige kurze Beschwörungen und legten ein paar Schutzzauber über die Gruppe, ehe sie von Bord gingen. Vorsichtig näherten sie sich dem Haus und sahen, dass die Erde im Umkreis aufgewühlt war, als hätte ein sehr großes Wesen sie mit klauenartigen Beinen aufgekratzt. Von dem Gebäude her - es schien ein Gasthaus zu sein - drangen keinerlei Geräusche an ihr Ohr, kein Gelächter, keine Stimmen. Weiter hinten waren Stallungen zu erkennen, doch weder hörten sie Pferde noch konnten sie einen Stalljungen erspähen. Es war geradezu totenstill, aber ein leichter, übler Geruch hing in der Luft.

Jana rümpfte die Nase. „Hier stinkt es nach ... ich weiß nicht ... Ekelerregend.“

„Schwefel.“ Morânia sah sich wachsam um. „Es riecht nach Scheusal ...“

Kiyoshi nickte ernst und die Bal'aasi hatte den Eindruck, dass der Gestank ihm nicht fremd war. Als sie noch näher an das Gebäude heran kamen, bemerkten sie, dass die Tür aus den Angeln gerissen war. Der Türrahmen war zu einem klaffenden Loch vergrößert worden, indem etwas Großes einfach die Mauer eingerissen hatte.

„Bei der Gnade des Morgenfürsten ...“, flüsterte Morânia.

Sie und Kiyoshi gingen nun mit gezogenen Waffen ein Stück vor, während die beiden Hexenmeister sich hinter ihnen hielten, bereit, ihre arkanen Kräfte einzusetzen. Dann hörten sie ein Geräusch hinter der Hausecke … Morânia fasste den Griff ihres Schwertes Himmelsfeuer fester und vernahm Naghûl hinter sich die ersten Worte einer Beschwörung murmeln. Sie hob schon ihre Klinge, als eine Gestalt hinter dem Gebäude hervortrat – doch es handelte sich lediglich um eine verängstigte, ältere Frau. Sie wirkte vollkommen aufgelöst und zitterte am ganzen Leib. Da Bebilithen keine Gestaltwandler waren, handelte es sich hier offenbar tatsächlich nur um eine harmlose Einwohnerin des Elysium, die das Glück gehabt hatte, mit dem Leben davon gekommen zu sein. Rasch steckte Morânia das Schwert weg und trat mit beruhigend erhobenen Händen ein paar Schritte auf die Frau zu.

„Keine Angst“, sagte sie. „Wir kommen nicht in böser Absicht und wollen helfen. Mein Name ist Morânia. Wer seid Ihr?“

„Elinda“, brachte die Frau hervor. „Ich … bin die Wirtin ...“

Die Bal'aasi nickte sacht. „Ich verstehe. Elinda, bitte sagt uns: Hält sich hier ein Bebilith auf? Ein Scheusal?“

„Nein ...“, antwortete die Wirtin bebend. „Nein, aber es war eines hier. Ja, ein schreckliches Monster! Es griff uns an ...“

„Ist jemand verletzt?“, fragte Naghûl. „Können wir etwas für Euch tun, bevor wir dieser Bestie folgen?“

Elinda kämpfte vergeblich gegen die Tränen, die in Strömen über ihre Wangen liefen. „Die meisten ... die meisten sind tot ...“, brachte sie schluchzend hervor. „Sie liegen … abgeschlachtet drinnen im Gastraum. Aber hier drüben … sind noch zwei verschüttet.“

Sie deutete mit zitternder Hand auf einen Haufen von Steinen und zerbrochenen Balken unweit des zerstörten Eingangs. Morânia spürte, wie eine Mischung aus Trauer und Wut ihr die Kehle zuschnürte. Ein solches Blutbad, verursacht durch ein Scheusal, hier im Elysium … Wo alle in Frieden, Ruhe und Sicherheit leben sollten, hier, mitten im Paradies. Es war nicht nur schrecklich und unvorstellbar, es war auch ein Frevel gegen alles, was diese Ebene ausmachte, gegen die Essenz und Seele des Guten selbst. Doch im Moment war keine Zeit zum Trauern, kein Platz für diese Gefühle. Es galt, den Verschütteten zu helfen, über alles andere konnte sie später nachdenken.

Auch Naghûl nickte entschlossen. „Gut, wir müssen sie bergen! Vielleicht leben sie noch.“

So eilten sie zu der Stelle, wo einzelne Steine, Holzbalken, aber auch größere Mauerstücke auf einem Haufen lagen, dort, wo der Bebilith die Tür aus den Angeln gerissen und ein ganzes Stück der Mauer zerstört hatte. Das Loch in der Wand gab den Blick ins Innere des Gebäudes frei, und der Anblick des Gastraumes ließ sie alle erschaudern: Tische und Stühle waren nicht nur umgestoßen, sondern teilweise zertrümmert, überall lagen Scherben und Speisereste verteilt. Es war wie erst kürzlich im Großen Gymnasium, doch mit dem Unterschied, dass es hier mehrere Opfer gegeben hatte … Morânia erkannte vier Körper auf dem Boden, die alle reglos in großen Blutlachen lagen.

„Ihnen ist nicht mehr zu helfen“, erklärte Elinda unter Tränen. „Zu viel Blut verloren … dazu das Gift des Scheusals …“

Sie hatte recht. Morânia wusste das, auch wenn der Gedanke schwer zu akzeptieren war. Es verhielt sich genau wie bei Jalkim, und für diese Leute konnten sie nichts mehr tun. Für die beiden Verschütteten hingegen schon. So schob sie alle weiteren, schrecklichen Gedanken von sich, griff nach einem der Steine und warf ihn beiseite. Dann einen anderen, dann den nächsten … Sie fokussierte sich darauf, wenigstens den beiden Personen unter den Trümmern noch zu helfen. Auch die anderen packten wortlos mit an. Kiyoshi strich mit der Hand über eine Tätowierung, die einen Koi-Karpfen zeigte und begann, so gestärkt, ebenfalls große Steine beiseite zu heben. Jana nahm sich einen Spaten, der bei den Ställen herumlag, um ihn als Hebel einzusetzen. Naghûl schien nicht wirklich zu wissen, wo er sinnvoll anpacken sollte und beschwor stattdessen eine magische, grüne Hand, die größere Balken anhob und zur Seite trug. Bald war tatsächlich ein leises Stöhnen unter den Trümmern zu hören.

„Macht weiter“, sagte Naghûl. „Ich versuche, die Person mit der magischen Hand heraus zu ziehen.“

Als noch mehr Steine entfernt wurden, kam ein Elf zum Vorschein - er hatte Glück gehabt und lag in einer Lücke im Schutt. Zwar war er verletzt, doch nicht so schwer, dass er in unmittelbarer Lebensgefahr schwebte. Nachdem Naghûls magische Hand ihn herausgezogen hatte, kümmerte Jana sich darum, sein Bein notdürftig zu schienen, während Kiyoshi und Morânia unermüdlich weiter Steinbrocken beiseite räumten. Endlich kam auch die zweite verschüttete Person zum Vorschein: eine zierliche Felidale mit hellgrauem Fell. Auch sie hatte großes Glück gehabt und lediglich mittelschwere Verletzungen davon getragen. Morânia legte beiden, dem Elf und der Guardinal, die Hände auf und rief Lathander um seine Gunst an. Die heilende Energie strömte warm durch ihre Handflächen, das von Jana bereits geschiente Bein des Elfen und die eingeklemmte Schulter der Guardinal heilten soweit, dass sie die beiden guten Gewissens in Elindas Obhut würden zurücklassen können. Gerade als Morânia noch einige beruhigende Worte an die Felidale richten wollte, spürte sie, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten. Eine scheusalhafte Aura war ganz in der Nähe plötzlich spürbar. Und kurz darauf vernahm sie auch schon von der Hausecke her ein Knacken. Es war, als bewege sich dort etwas Großes … dann ein Klackern, wie von Mandibeln. Sofort richtete sie sich auf und zog ihr Schwert, Kiyoshi war mit gezückter Naginata bereits an ihrer Seite. Noch ehe Jana oder Naghûl einen weiteren Schutzzauber sprechen konnten, waren schon lange, spinnenartige Beine zu sehen und der Bebilith kam um die Ecke gekrochen. Ohne zu zögern schickte Naghûl ihm einige magische Geschosse entgegen und Morânia rannte auf das Scheusal zu, um es gar nicht erst in die Nähe von Elinda oder den Verwundeten gelangen zu lassen. Der Chitinpanzer des Dämonen zischte und dampfte, als Naghûls arkane Energie einschlug, doch seltsamerweise bewegte der Bebilith sich nicht, machte keine Anstalten, seinerseits anzugreifen. Morânia verlangsamte ihren Schritt dennoch nicht, war kurze Zeit später bei dem Monstrum, Kiyoshi an ihrer Seite. Doch als sie das Schwert hob und der junge Soldat mit seiner Naginata ausholte, wich das Scheusal zurück, ja es hob abwehrend die beiden Vorderbeine schützend vor sich.

Nicht“, vernahm die Bal'aasi plötzlich eine Stimme in ihrem Kopf. „Bitte nicht … weh tun Abaia …“

Sie hielt inne. Dass Bebilithen der Sprache nicht mächtig waren, sondern stattdessen telepathisch kommunizierten, war ihr bekannt. Sie hatte nur noch niemals zuvor mit einem von ihnen „gesprochen“. Die Worte in ihrem Bewusstsein klangen merkwürdig verzerrt, unschön wie man es bei einem Scheusal erwarten würde - und dennoch irgendwie … hilflos. Sie warf einen sehr kurzen Seitenblick zu Kiyoshi, ohne dabei den Dämon wirklich aus den Augen zu lassen.

„Habt Ihr das auch gehört?“, fragte sie leise.

Der junge Mann nickte ernst, und da von hinter ihr keine weiteren magischen Geschosse auf den Bebilith zurasten, vermutete Morânia, dass auch Jana und Naghûl die Stimme vernommen hatten. Wachsam musterte sie das Scheusal.

Bitte …“, hörte sie die Stimme nun erneut in ihren Gedanken. „Abaia kein Feind.

Morânia ließ langsam das Schwert sinken. „Abaia? Ist das dein Name?“

Ja. Name“, kam die telepathische Antwort. „Abaia verwirrt. Abaia sucht Engel.

Sofort fasste die Bal'aasi den Schwertgriff wieder fester. „Warum?“, fragte sie energisch. „Was willst du von dem Deva?“

Abaia will helfen.“ Das Monster hob erneut die Vorderbeine, es wirkte fast wie eine friedfertige Geste, als wolle es unterstreichen, nicht angriffslustig zu sein. „Der Deva … schwach. Abaia will helfen. Versteht nicht, warum. Aber will es.

Morânia wagte einen vorsichtigen Blick nach hinten, zu Naghûl. Sie erkannte an seinem Gesichtsausdruck, dass er dasselbe vermutete wie sie: Der Funke des Engels schlug nun anscheinend stärker durch, begann das Verhalten, ja die Gesinnung des Bebilithen zu beeinflussen. Sie bemerkte auch, dass seine scheusalhafte Aura schwächer war als damals in der Abyss, schwächer als sie es von Dämonen im Allgemeinen gewohnt war. Die heilige, celestische Energie begann offenbar, die höllische zu überlagern.

Bitte“, vernahm sie nun wieder die Stimme in ihrem Kopf. „Abaia will helfen.

„Einen Versuch ist es vielleicht wert“, meinte Naghûl.

Morânia nickte langsam. „Wenn der Funke den Bebilithen wirklich beeinflusst … Ja, vielleicht will und kann er Ybdiel tatsächlich helfen.“

„Der Deva befindet sich noch auf dem Schiff“, sagte Jana. „Sollten … wir ihn holen?“

Sie rang einige Sekunden mit sich, dann gab die Bal'aasi sich einen Ruck.

„Ja. Wagen wir den Versuch. Naghûl, würdest du den Korb mit Ybdiel vom Schiff holen? Wir anderen behalten solange den … behalten Abaia im Auge.“

Naghûl nickte und ging rasch zum Ufer hinunter, wo das Schiff vor Anker lag, während Morânia und Kiyoshi weiterhin dicht bei dem Bebilithen stehen blieben. Jana stellte sich schützend vor die Verwundeten und die noch immer am ganzen Körper zitternde Elinda. Die Bal'aasi ließ den Dämon nicht aus den Augen. Obgleich sie als Enkelin einer Deva und Paladin des Lathander an die Macht des Guten glaubte wie kaum jemand sonst, so wusste sie doch auch, dass Hoffnung und Glaube einen zwar tragen und bestärken, aber niemals blind machen sollten. Abaia mochte durch den Funken positiv beeinflusst sein, es im Moment auch ehrlich meinen. Aber er war dennoch ein Scheusal, das sich nur allmählich verändern würde, falls es überhaupt von Dauer war. Dann kehrte Naghûl zurück, trug vorsichtig den Korb, in dem der in einen Schneefuchs verwandelte Engel lag. Er stellte ihn sanft im weichen Gras ab und trat dann – nicht ohne zu zögern – einen Schritt zurück. Morânia und Kiyoshi postierten sich links und rechts von ihm, während Jana bei Elinda blieb.

„Da ist er“, sagte Morânia zu dem Bebilithen. „Das ist der Deva. Er wurde verwandelt, damit wir ihn besser transportieren können. Sein Name ist Ybdiel.“

Der Dämon näherte sich langsam, fast scheu, wie es schien. „Ybdiel …“, hörten sie die telepathische Stimme in ihren Gedanken.

Naghûl nickte zustimmend und sie ließen Abaia herankommen, angespannt, wachsam, aber bereit, der Sache eine Chance zu geben. Der Bebilith näherte sich langsam dem am Boden stehenden Korb und hob vorsichtig eines seiner spinnenartigen Vorderbeine. Dann berührte er den Deva ganz sacht - und plötzlich gab es einen hellblauen Lichtblitz, in dem Abaia verschwand. Es dauerte eine Sekunde, bis Morânia begriff, dass auch Ybdiel nicht mehr da war. Der Bebilith hatte einen Teleportationszauber ausgelöst und war mit dem Deva verschwunden.

 

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gespielt am 14. Juli 2012

- Die Spieler von Sgillin und Lereia waren an diesem Abend nicht da, also schliefen die beiden durch das Lied der Delphonen ein.
- Peraine ist eine Göttin aus dem deutschen Rollenspielsystem DSA (Das Schwarze Auge), die ich schamlos in mein Planescape-Setting eingebaut habe. Weil Planescape das so schön hergibt. ;-)
- Der Fluss Niloa und die anderen Orte, die bald auftauchen werden, befinden sich eigentlich in Principality, dem Reich einer unbekannten Gottheit. Aber ich habe sie für diese Geschichte in Mishakals Reich verlegt.

 

 

 


 

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