„Die bizarren Aktivitäten der Xaositekten in den letzten Monaten können nun verstanden werden. Der erste Hinweis kam von den Chaoten selbst, als sie das Projekt nicht mehr als "die Überraschung!" bezeichneten, sondern als "die Speiche". In Verbindung mit der schieren Größe der Konstruktion scheint es, dass die Xaositekten beschlossen haben, die Stadt der Türen mit mehreren Speichen zu versehen, gleich einem riesigen Wagenrad. Die erste Speiche ist jetzt fast 200 Fuß lang. Warum die Xaositekten plötzlich beschlossen haben, ein Projekt dieser Größenordnung in Angriff zu nehmen, ist ein Rätsel, wahrscheinlich sogar für sie selbst. Die mit dem Projekt beauftragten Göttermenschen hingegen bleiben gelassen. Faktor Ombidias erklärte auf Nachfrage von SIGIS hin, man werde sich des Projektes annehmen, so lange der Auftraggeber – in diesem Fall wohl Bundmeister Karan selbst – es weiter verfolgen wolle.“
Meldung in SIGIS
Zweiter Leeretag von Savorus 126 HR
Etwas nervös trommelte Yelmalis mit den Fingerspitzen auf die Schreibtischplatte, während er den Blick über seine neuen Gefährten schweifen ließ, die sich in seinem Studierzimmer versammelt hatten. Mit Ausnahme von Tarik, der Zeichner ließ bislang noch auf sich warten. Der Yuan Ti Sekhemkare, gekleidet in ein elegantes grün-goldenes Wams, lehnte am Fenster und blickte auf die Straßen des Gerichtsdistriktes hinunter, vielleicht in der Hoffnung, die Ankunft des verspäteten Tieflings zu erspähen. Dilae hingegen saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Sofa – sie hatte anständigerweise ihre Stiefel ausgezogen – und blätterte beiläufig in seinem Kodex der Astral-Projektion und Transformativen Thaumaturgie. Da er vermutete, dass sie weder als Klerikerin der Eilistraee noch als intuitive Magiewirkerin, die sie als Bardin war, etwas von diesen beiden Fachgebieten verstand, musste er annehmen, dass sie das Buch vorwiegend der kunstvollen Illustrationen wegen ansah. Obgleich sie offenbar sorgsam mit dem dicken Folianten umging, war ihm dennoch nicht ganz wohl dabei, denn es handelte sich um eine alte, inzwischen vergriffene und daher recht kostbare Ausgabe. Trotzdem machte die Dunkelelfe ihn weniger nervös als Garush. Die Amazone stand an einem seiner Regale und hatte seinen Thermometrischen Lokator herausgenommen, den sie nun in den Händen hin und her drehte, während sie das Gerät stirnrunzelnd musterte.
Er räusperte sich entschuldigend. „Garush, könntest du … das bitte wieder hinlegen?“
Die Amazone hob eine Braue und schob ihre Hauer ein wenig nach vorne. „Hast du Angst, ich mach was kaputt?“
„Ja“, erwiderte er zu schnell und biss sich sogleich auf die Lippen. „Also, nein, aber das sind empfindliche Geräte und …“ Er holte tief Luft. „Also, ehrlich gesagt, doch.“
„Hm.“ Die Halborkin hob die Schultern und nickte. „Berechtigte Sorge.“
Zu Yelmalis Erleichterung stellte sie den Thermometrischen Lokator wieder zurück und schien auch keinen Anstoß an seiner Bemerkung genommen zu haben. Das immerhin musste er der Amazone zugestehen: Man konnte mit ihr so direkt reden wie sie auch selber auf andere zutrat. Sie entfernte sich vom Regal und umrundete dabei Yelmalis Monodronen-Vertrauten F-45, der nun heran trippelte, um mit einem seiner Flügel den Lokator wieder an die exakt richtige Position auf dem Brett zu schieben. Die Amazone beobachtete den kugeligen, kleinen Modron kurz kopfschüttelnd, dann wanderte der Blick ihrer gelben Augen ungeduldig zur Tür.
„Wo bleibt denn jetzt dieser Zeichner?“, fragte sie schnaubend.
Sekhemkare verzog ein wenig die Lippen, was Yelmalis inzwischen als eine Art Grinsen zu interpretieren gelernt hatte. „Vielleicht muss er sich erst vorstellen, wie er den Weg zu uns findet.“
Obgleich der Luftgenasi die Philosophie der Zeichner zugegeben exzentrisch fand, so hatte er dennoch das Gefühl, Tarik in seiner Abwesenheit gegen den Spott des Yuan Ti in Schutz nehmen zu müssen. Doch ehe er etwas entgegnen konnte, kam Dilae ihm zu Hilfe.
„Nicht sehr nett, Sek“, stellte sie tadelnd fest, ohne dabei jedoch von den Illustrationen im Kodex der Astral-Projektion aufzusehen.
„Mit nett sein ist noch keiner reich geworden“, erwiderte der Yuan Ti trocken.
Yelmalis schüttelte den Kopf. „Weil das ja auch alles ist, was im Leben zählt.“
„Wirf mal einen Blick in den Stock“, hielt Sekhemkare dagegen. „Dann siehst du ja, ob es was zählt oder nicht.“
Abwehrend hob der junge Magier die Hände. „Ja, natürlich ist das Leben hart und unschön, wenn man gar nichts hat. Ich meinte damit, dass Geld nicht alles ist, was zählt.“
„Das hab ich auch nicht gesagt, oder?“ Die Zunge des Yuan Ti schnellte kurz zwischen seinen Lippen hervor. „Natürlich gibt es noch andere Dinge.“
„Jetzt bin ich gespannt“, warf Garush mit einem Anflug von Sarkasmus ein.
„Macht“, erwiderte Sekhemkare ohne zu zögern. „Einfluss. Ansehen. Wissen, wenn du willst, Herrschner. Eben alles, was man erringen kann und einem wichtig ist. Und dann sollte man sich auch weder schämen, danach zu streben noch, es erreicht zu haben.“
„Da gehe ich mit“, warf Dilae ein. „So lange man das nicht auf unmoralischem Weg tut.“
Die Amazone knurrte leise. „Euer philosophisches Gelaber bringt den Zeichner auch nicht her.“
„Er hat übrigens einen Namen“, warf Yelmalis ärgerlich ein. „Und der ist Tarik.“
„Ja, von mir aus. Tarik.“ Garush runzelte die Stirn und musterte den Luftgenasi irritiert. „Bei der Dame, was bist du denn heute so zickig?“
Yelmalis spürte, wie ihm kurz die Luft weg blieb. „Zickig? Also, jetzt geht’s aber … Ich bin zickig?“ Er stemmte die Arme in die Seiten. „Ihr seid hier in meinem Haus und bringt alles in Unordnung. Ihr habt meinen kompletten Vorrat an Nussbrot gegessen, so dass ich nachher noch einmal zum Markt muss, weil morgen mein Bruder zum Frühstücken kommt und ich nun nichts mehr im Haus habe. Ihr macht euch über meinen Vertrauten lustig und du hast soeben die Feinjustierung meines Thermometrischen Lokators verstellt. Aber ich bin zickig?“
Nun sah Dilae von dem Kodex der Astral-Projektion und Transformativen Thaumaturgie auf. „Oh, tut mir leid mit dem Brot. Du hättest doch was sagen können.“
„Die eine Scheibe, die du gegessen hast, war nicht so das Problem“, erwiderte der Genasi seufzend.
„Ah.“ Sie nickte erleichtert und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Buch zu, während Garush die Schultern hob.
„Entschuldigung, ich hatte Hunger. Und dass deine Geräte da so empfindlich sind, konnte ich ja nicht ahnen. Aber über deinen Monodron hab ich kein Wort gesagt.“
„Nein, das war Sekhemkare“, räumte Yelmalis ein.
„Ich habe nur vorgeschlagen, dass du den Modron zum Brot holen schickst“, entgegnete der Yuan Ti. „Und angefügt, wenn er so hohl ist wie die meisten Monodronen, könnte er sich auch gleich selbst als Brotkasten verwenden, damit es frisch bleibt. Das sollte übrigens ein Scherz sein, Herr Anwalt.“
„Die Anmerkung war übrigens nicht korrekt“, ließ sich F-45 nun vernehmen. „Das Innere von Monodronen ist keineswegs hohl, sondern enthält zahlreiche verschiedene Komponenten. Jeder Modron verfügt über eine Mischung aus biologischen und mechanischen Teilen, deren Ausmaß von seiner Stellung in der Modronen-Gesellschaft abhängt. Niederrangige Modronen haben mehr mechanische Komponenten integriert als höherrangige Modronen. Jedoch kann ich mit Sicherheit sagen, dass kein Modron, egal welchen Ranges, sich als Brotkasten eignet.“
Dilae musste lachen, als F-45 in seiner speziellen Art auf Sekhemkares vorherige Bemerkung einging. „Also, ich finde dich total süß, F-5“, sagte sie.
„Erste Korrektur: Mein Name ist F-45“, erwiderte der Monodron höflich. „Zweite Korrektur: Meine äußere Hülle besteht aus einer Kupfer-Eisen-Legierung und wird daher nicht süß, sondern metallisch und leicht bitter schmecken.“
Yelmalis schmunzelte, als Dilae seinem Vertrauten begeistert über seine runde Außenhülle strich. Doch ehe er etwas dazu sagen konnte, klopfte es. Endlich, das musste Tarik sein. Erleichtert ging der Magier in den Flur, um zu öffnen, und tatsächlich stand der Tiefling vom Zeichen des Einen vor der Tür. Yelmalis hatte den Eindruck, dass der Zeichner ein wenig aufgewühlt wirkte, bat ihn aber erst einmal freundlich herein und führte ihn in das Studierzimmer, in dem die anderen warteten.
Garush schob prompt ihre Hauer ein wenig nach vorn. „Ah, auch schon da.“
„Ja, ich weiß, ich bin zu spät“, entschuldigte Tarik sich. „Es tut mir auch leid, aber ich bin soeben gerade noch mit dem Leben davongekommen, daher ...“
Sofort klappte Dilae den Kodex zu und musterte den Tiefling besorgt. „Meinst du das im bildlichen oder wörtlichen Sinn?“
„Oh, ich meine es leider sehr wörtlich“, erwiderte Tarik seufzend. „Ich wollte gerade im Gildenhallenbezirk zur nächsten Kutschenstation gehen, als plötzlich ein Bebilith auf mich zukam! Und ich sage euch, er sah nicht aus, als würde er die Gesetze Sigils kennen – oder gar respektieren.“
Yelmalis weitete die Augen. „Ein echter Bebilith? Bei der Dame.“
„Ja, ich bin auch ziemlich erschrocken.“ Tarik fuhr sich durch das schwarze Haar und wirkte noch immer ein wenig derangiert. „Er war gerade mal zwei, drei Schritte von mir entfernt. Doch zum Glück griff er mich nicht an, sondern bewegte sich ziemlich zielstrebig auf das Große Gymnasium zu.“
„Und was hast du gemacht?“, wollte Garush wissen.
Der Tiefling hob die Schultern. „Ich bin in die andere Richtung gerannt, was sonst?“
„Was?“ Die Amazone knurrte ein wenig. „Hast du nicht versucht, ihn aufzuhalten?“
Dilae hustete etwas ob dieser Frage und auch Sekhemkare sah die Halborkin zweifelnd an.
Tarik runzelte die Stirn. „He, ich bin bei den Zeichnern, nicht beim Harmonium und nicht bei den Gnadentötern. Nein, ich habe nicht versucht, ihn aufzuhalten. Bin ich denn irre?“
„Du hast genau das Richtige getan“, meinte Yelmalis mit kopfschüttelndem Blick zu Garush. „Niemand, der bei Trost ist, hätte sich alleine mit dem Vieh angelegt.“
Die Amazone brummte nur und winkte ab, während Yelmalis Tarik einen Stuhl anbot, den der Tiefling dankend annahm. Der Luftgenasi schenkte ihm ein Glas Wasser ein, dann nahm er ihm gegenüber Platz und Dilae legte den Kodex der Astral-Projektion und Transformativen Thaumaturgie zur Seite - sehr behutsam zu Yelmalis Erleichterung. Auch Garush und Sekhemkare traten näher.
„So“, meinte Yelmalis. „Jetzt wo wir alle da sind, sollten wir zu dem Thema kommen, dessentwegen wir uns treffen.“
„Ja.“ Die Halborkin nickte knapp. „Die Hüterin und der Verkünder – wer auch immer das sein soll.“
Sie warf dabei einen vielsagenden Seitenblick zu Tarik, der entschuldigend die Hände hob.
„Tut mir leid, ich kann nur nochmals betonen, dass ich das auch nicht weiß. Meine Träume zeigen mir gewisse Dinge, aber sie sind kein Nachschlagewerk und kein Informationsschreiben, dem ich einfach alles entnehmen kann. Ich kann nur sagen, dass ich einen menschlichen Mann und eine Lupinal gesehen habe und dass wir offenbar auf die Eisebene müssen.“
Sekhemkare ließ ein leises Zischeln hören. „Dass es gerade die Eisebene sein muss, begeistert mich nicht gerade.“
„Kann ich verstehen.“ Dilae nickte verständnisvoll. „Aber mit Planarer Toleranz und einer Kiste Feuertränke sollte es schon klappen.“
„Sagt ihr Warmblüter so leichthin“, entgegnete der Yuan Ti mit einem Geräusch, das bei Echsenvölkern wohl ein Seufzen sein mochte. „Aber ja … wird schon werden.“
„Gut“, meinte Garush. „Dann lasst uns mal unseren kleinen Ausflug planen: Was brauchen wir an Ausrüstung? Welches Portal nehmen wir? Und wann brechen wir auf?“
Yelmalis öffnete seine Schreibtischschublade und holte einen Bogen Papier heraus, um Notizen zu machen, während die anderen bereits begannen, wild durcheinander zu reden. Alle mit Ausnahme von Tarik, der ihm ein wissendes Lächeln zuwarf. Der Zeichner schien intuitiv zu verstehen, warum Yelmalis angespannt war und was ihn an der Situation unter Stress setzte. Vielleicht, weil er sehr empathisch veranlagt war, vielleicht auch, weil es ihm ähnlich erging. Doch wie auch immer es sich verhalten mochte, Yelmalis war froh, in Tarik jemanden gefunden zu haben, der ihn offenbar verstand.




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