„Wenn du deinen Sohn liebst, schicke ihn in die Welt.“
Kamigawaer Sprichwort
Vierter Gildentag von Zehent, 126 HR
Es war der späte Nachmittag des vierten Gildentages von Zehent und somit nicht verwunderlich, dass die Bibliothek der Kaserne recht leer war. Zwischen den hohen Regalen, die sich unter dem Gewicht der Folianten und Oktaven voller Gesetze und Regeln aber auch Anleitungen zu Personal- und Gesprächsführung sowie Werken über Nachtwirtschaft und Forensik bogen, saß einsam an einem Tisch ein junger Soldat in voller Rüstung und blickte auf ein mit kunstvollen Zeichen beschriftetes Papier herab, welches er in seinen mit messingfarbenen Schuppen besetzten Händen hielt. Mit einer Hand spielte er immer wieder mit dem Siegel aus weißem Wachs, welches unten an dem Papier an einem Faden aus himmelblauer Seide baumelte. Kiyoshi schien völlig allein zu sein in seinem kleinen, abgeschiedenen Eck dieser Welt des Wissens und Lernens, in dem er sich ausschließlich mit diesem Schriftstück beschäftigte, es immer wieder und wieder las. Schließlich atmete er tief ein und ein Seufzen entsprang seiner Brust. Er legte das Blatt auf den Tisch, fasste sich mit einer Hand an die Stirn und blickte in die Ferne, durch die Bücherregale hindurch auf einen Ort, den es nur in seinem Geist zu geben schien. Er war so in sich versunken, dass er die schweren, metallisch klingenden Schritte, die durch die Bibliothek hallten, erst wahrnahm, als diese fast schon an seinem Tisch angekommen waren.
„Soldat Kiyoshi“, polterte eine volle, tiefe Stimme durch die Hallen der Bibliothek.
Kiyoshi zuckte zusammen, riss den Kopf herum und blickte in das Gesicht von Dekurio Nallart, seinem Ausbilder in den praktischen Belangen des Harmoniums. Der junge Mann schnellte aus dem Stuhl hoch, wandte sich dem Zwerg zu und nahm Haltung an. Er salutierte, indem er seine Faust auf die Mitte des Brustpanzers schlug und erwiderte in neutralem Tonfall: „Sohn des Dwozurt Nallart-sensei.“
Der Zwerg blickte zu seinem Schützling hoch und die Winkel des Schnurrbartes hoben sich ein wenig, der einzige Hinweis im Gesicht des Veteranen, der auf ein Lächeln schließen ließ. „Na, dann zeig doch mal deine Ermittlungsfähigkeiten. Was hat sich verändert, Soldat?“
„Verzeiht meine Unwissenheit, Sohn des Dwozurt Nallart-sensei, aber ich bin mir nicht sicher, was Ihr damit meint.“
„Dann musst du genauer hinhören, Soldat.“ Es war die Art und Weise, in der der Zwerg das letzte Wort betonte, die Kiyoshi den benötigten Hinweis gab.
„Ich habe also meine Grundausbildung bestanden, Sohn des Dwozurt Nallart-sensei?“, fragte Kiyoshi, wieder in neutralem Tonfall, der keinerlei Emotionen zeigte.
„Genau so ist es, Soldat. Ein Grund zur Freude, würde man meinen, vielleicht sogar für eine Feier. Was meinst du?“
„Da habt Ihr gewiss Recht, Sohn des Dwozurt Nallart-sensei.“
Der Zwerg musterte den frischgebackenen Soldaten eingehend, blickte dann auf das Schriftstück, das hinter ihm auf dem Tisch lag. „Du wirkst nicht besonders begeistert, Soldat. Was ist das da?“, fragte er mit einem Nicken seines Kopfes in Richtung des Tisches.
Kiyoshi drehte sich um und nahm das Papier auf, um es seinem Ausbilder zu zeigen. „Das ist ein Marschbefehl aus meiner Heimat Kamigawa. Darin wird mein Treueverhältnis zu Ittosai Musashi-tenno aufgelöst, ich ehrenvoll aus seiner Armee entlassen und als letzter Befehl werde ich auf Dauer Bundmeister Sarin-heika unterstellt.“
„Na, dann auch dazu herzlichen ...“ Der Zwerg wurde leise und blickte Kiyoshi in die Augen. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. „Aber das ist nicht alles, oder? Das Ganze hat eine tiefer gehende Bedeutung, richtig?“
Kiyoshi schlug die Augen nieder. „In der Tat, Sohn des Dwozurt Nallart-sensei. Es ist sozusagen gleichbedeutend damit, dass Kamigawa nicht mehr meine Heimat ist.“
Der Zwerg blickte einen Moment ruhig zu Kiyoshi hinauf und nickte dann langsam. „Ich verstehe, Soldat. Wurzeln sind wichtig und gerade fühlt es sich an, als ob dir jemand den Boden unter den Füßen wegziehen würde, ist es das?“
„Eure Worte sprechen von großer Weisheit, Sohn des Dwozurt Nallart-sensei. In der Tat fühle ich mich ein wenig orientierungslos, so als hätte man die letzte Bindung zwischen mir und dem Boden gekappt.“ Kiyoshis Schultern sanken langsam nach vorne, die Augenbrauen des sonst so reglosen Gesichts senkten sich und seine Lippen begannen ein wenig zu zittern.
Dekurio Nallart schlug ihm kräftig von der Seite gegen den rechten Oberarm. „Kopf hoch, Soldat. Du gehörst jetzt zum Harmonium, dem besten Haufen anständiger Männer und Frauen im Multiversum. Wir sind jetzt deine neue Heimat, deine neue Familie. Und egal, was da kommt, wir lassen dich nicht im Stich, sondern stärken dir den Rücken, den Arm und wenn es sein muss, stehen wir mit dir an der Seite gegen alles, was da kommen mag. Und du gehörst jetzt zu Sarins Leuten, dem besten Bundmeister im ganzen Käfig. Allein das ist ein Grund zum Feiern. Komm mit, wir gehen in die Limbus Bar, trinken, reden über deine alte Heimat und stoßen gemeinsam auf deine neue Heimat an.“ Er warf dem Soldaten einen aufmunternden Blick zu und schenkte ihm eines seiner seltenen Lächeln.
„Verzeiht, Sohn des Dwozurt Nallart-sensei, aber ich trinke keinen Alkohol.“
„Das macht überhaupt nichts. Nachdem ich deine alte Heimat nicht so gut kenne, musst du eben etwas mehr reden, während ich dann etwas mehr trinken muss. Wir kriegen das schon hin, wir zwei. Und jetzt mitkommen, das ist so etwas wie ein Befehl.“
Beide verließen die Bibliothek und die Kaserne in Richtung der Limbus Bar und völlig vergessen blieb das Kamigawaer Schriftstück auf dem Tisch zurück, umgeben von all den anderen Schriftstücken, die einmal das Leben einzelner verändert hatten.
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Dieses Kapitel wurde von Kiyoshis Spieler geschrieben.




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