Sigil wird ein Käfig bleiben, bis wir auch den letzten der sogenannten Bünde beseitigt haben. Erhebt euch und zerbrecht eure Ketten!“

einundneunzigste Proklamation der Anarchisten

 


 

Dritter Untertag von Zehent, 126 HR

 

Krystall stand am Fenster ihres kleinen Hauses in der Gasse der Gefährlichen Ecken und blickte dem Halbelfen nach, der sich langsam durch den hellgrauen Nebel entfernte, der an diesem Tag dicht und kühl über der Stadt der Türen hing. Er hatte Bogen und Köcher bei sich, und sein langes, schwarzes Gewand bewegte sich im Dunst der schmalen Straße wie einer der Schatten, die nun gegen Abend aus allen Ecken krochen.

Rianna trat neben sie und folgte ihrem Blick. „Und?“, fragte die junge Halbelfe erwartungsvoll. „Hab ich eine gute Wahl getroffen, Krystall?“

Die Anführerin der Klingenengel lächelte. „Das würde ich sagen, ja.“

Rianna hatte vor einigen Wochen, eher zufällig bei einem kurzen Aufenthalt in der Blutgrube, bemerkt, dass Sgillin und seine Freunde sich der Sache mit den Stockwürger-Morden angenommen hatten. Sie hatte dem Halbelfen daher erzählt, wie sie den Schattendieb bei einem der Morde beobachtet hatte - und ihn somit auf dessen Fährte gelenkt. Die Morde waren eine schlimme Sache gewesen – und wie immer hatte sich im Stock keiner wirklich darum gekümmert. Außer zwei Gruppen, die offenbar ein Interesse an der Aufklärung und Beendigung der Sache gehabt hatten. Aber da die Halborkin in einer der Gruppen zum Roten Tod zu gehören schien, hatte Krystall beschlossen, sich von diesen Leuten fern zu halten. Die andere Gruppe war vielversprechender gewesen – bis sich herausgestellt hatte, dass einer von ihnen ein Dickschädel war. Doch da hatte Rianna bereits Kontakt zu Sgillin aufgenommen. Aber wie auch immer Krystall zu der Wahl seiner Freunde stehen mochte, die Morde hatten kurze Zeit später aufgehört. Der Schütze mochte also durchaus etwas damit zu tun gehabt haben, dass diese unschöne Sache beendet worden war. Daher hatte sie Rianna beauftragt, ihn ein wenig im Auge zu behalten. Das hatte die Halbelfe getan - und beobachtet, wie er sich mit Shemeshka getroffen – und offenbar den Körper mit ihr getauscht hatte. Rianna hatte geahnt, was passiert war, da sie einen ähnlichen Vorfall an dem Abend in der Blutgrube miterlebt hatte. Beobachtet hatte, dass Sgillin dort scheinbar mit einem Minotauren-Kämpfer den Körper getauscht hatte. Daher war sie so schnell sicher gewesen, dass es sich bei Shemeshka um denselben Vorgang gehandelt hatte. Die Arcanaloth war außer sich vor Wut gewesen. Sie hätte Sgillin gewiss mit ihren eigenen Zähnen und Krallen zerfetzt, hätte Rianna nicht ihre erste Verwirrung und die Hilflosigkeit ihrer Tieflingsdiener genutzt, um Sgillin durch eines der Fenster auf die Straße zu holen und mit ihm zu fliehen. Eine waghalsige Aktion, wenn man bedachte, mit wem sie es zu tun gehabt hatten, und Krystall bewunderte Riannas Mut. Die Halbelfe war verwegen und tapfer, manchmal bis hin zur Unvorsicht, das war Sgillins Rettung gewesen. Sie hatte ihn durch das Gewirr der Stock-Gassen bis zu Krystalls Haus gebracht. Dann hatte er vor ihr gestanden und ihr davon erzählt, dass er und seine Freunde tatsächlich die Morde beendet und die Drahtzieher dahinter ausfindig gemacht hatten. Dass er Shemeshka von der Prophezeiung erzählt hatte, war natürlich nicht so ideal. Doch Krystall konnte es verstehen, vor dem Hintergrund, dass die Verbrecherkönigin seine Gefährtin recht unverhohlen bedroht hatte. Natürlich, er hätte seine Kontakte zu mehreren der Bünde Sigils nutzen können – Kontakte zu Bundmeistern offensichtlich, allein der Gedanke war an sich ungeheuerlich. Umso mehr als einer dieser Bünde das Harmonium war. Diese Leute hätten gewiss die Mittel gehabt, ihn und auch seine Freundin zu schützen. So ablehnend, ja teils feindselig sie den Bünden auch gegenüberstand, ihre Macht und ihren Einfluss konnte Krystall nicht leugnen. Diese waren ja gerade der Grund für ihre Abneigung. Doch Sgillin war neu in Sigil und hatte die Lage gewiss nicht so treffend einschätzen können, zumal unter dem Druck, unter dem er gestanden hatte. Sie war wegen der Sache mit den Morden durchaus beeindruckt gewesen, wie sie vor sich zugeben musste. Und hatte Sgillin daher angeboten, den Klingenengeln beizutreten. Hatte ihm erklärt, dass sie keine brutalen Schläger waren, die nur die Schwachen ausnahmen, die sich nicht wehren konnten. Dass sie andere Ziele hatten, reiche Kaufleute vor allem, und dass sie die Beute mit den Armen des Stocks teilten. Sie waren meist um die zehn bis zwölf Leute, die Zahl der Mitglieder schwankte natürlich. Mal kam jemand neu dazu, manchmal verließ jemand die Bande – manchmal wurde jemand verhaftet oder auch getötet. Natürlich hatten sie auch ein paar weitere Freunde und Verbündete, die den Klingenengeln halfen und auch von ihnen unterstützt wurden: Straßenkinder, Prostituierte, der eine oder andere Dieb, der für sich selbst arbeitete. Sgillin hatte zugestimmt, das neueste Mitglied der Bande zu werden. Sie hatte ihm das Amulett gegeben, mit der Aufforderung, es nicht öffentlich zu tragen und niemandem zu zeigen. Die Revolutionsliga hatte sie nicht erwähnt – noch nicht. Sie hatte die Befürchtung, dass die anderen Sgillin schon zu sehr beeinflusst hatten, dass er sich von ihnen distanzieren könnte, wenn er wusste, dass sie eine anarchistische Zelle waren. Nicht dass die Anarchisten sich selber als Bund gesehen hätten so wie die anderen Bünde – vielleicht mit Ausnahme der Freien Liga. In ihren Augen war jede Zelle unabhängig und alle Anarchisten lediglich eine sehr lose verbundene Gruppe von Leuten, die eine grundlegende Ansicht gemeinsam hatten: dass die Bünde zu viel Macht besaßen und schon lange korrumpiert waren. Dass dieses System aufgebrochen und abgeschafft werden musste, um Platz für etwas Neues, Besseres zu schaffen. Doch hier endeten die Gemeinsamkeiten auch schon. Während Zellen wie die Klingenengel zwar von den Reichen nahmen, um es den Armen zu geben, so wollten sie dabei jedoch niemanden töten, keinesfalls Unschuldige, aber auch keine hochrangigen Bundmitglieder, Goldenen Lords oder reichen Kaufleute. Doch am anderen Ende standen Zellen, die Gewalt, Zerstörung, ja auch Morde als legitimes Mittel zum Erreichen dieser Ziele ansahen. Von ihnen fühlte Krystall sich ebenso weit entfernt wie von den Dickschädeln oder dem Roten Tod. Wenn Sgillins Platz bei den Klingenengeln sich gefestigt hatte, wenn sie einander besser kennen gelernt hatten, nach ein oder zwei gemeinsamen Raubzügen, würde sie ihm die ganze Wahrheit enthüllen, so beschloss Krystall für sich. Sie war überzeugt, den Halbelfen für ihre Sache gewinnen zu können, egal was seine Freunde dazu denken mochten. Er schien der Typ Mann zu sein, der seine eigenen Wege ging. Rianna hatte eine Weile schweigend neben ihr gestanden und beobachtet, wie Sgillin im Nebel der Gasse verschwand. Doch nun riss sie Krystall aus ihren Gedanken.

„Und du denkst … er ist einer dieser Erwählten dieser seltsamen Prophezeiung?“

„Du hast gesehen, was er mit Shemeshka gemacht hat“, erwiderte sie. „Und du weißt, was auf dem Pergament steht, das wir gefunden haben. Ich fürchte, wir können das nicht einfach ignorieren.“

Rianna nickte ernst. „Wahrscheinlich nicht. Aber willst du wirklich mit den anderen deswegen Kontakt aufnehmen?“

„Wollen ist vielleicht zu viel gesagt“, entgegnete Krystall seufzend. „Aber das Blut dieser Goblinfrau hat die Klingenrebe Blüten treiben lassen! Ich meine, hast du von so etwas schonmal gehört? Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, ansonsten würde ich das auch nicht glauben, das kann ich dir versichern. Und wenn eine Adlatin der Staubmenschen sich mit so einem hibbeligen Wesen trifft, dann muss es dafür einen wirklich guten Grund geben. Einen Grund, der offenbar auch diesen Minotaurus und die Medusa mit einschließt.“

„Dir ist klar, wie verrückt das klingt, oder? Selbst für Sigil.“ Rianna ließ sich auf Krystalls Bett fallen und starrte an die niedrige Holzdecke. „Aber falls er nun wirklich einer dieser Erwählten ist … Sollte er dann nicht irgendwie lieber dauerhaft zu uns kommen? Statt mit den anderen da rumzuhängen, von denen einer auch noch ausgerechnet ein Dickschädel ist?“

Krystall ließ sich neben ihr auf dem Bett nieder und schmunzelte. „Na, das ist doch gerade das Tolle daran. Er hat offensichtlich sogar Kontakt zu den Bundmeistern seiner Freunde. Was könnte uns Besseres passieren?“

Die Halbelfe setzte sich wieder auf und musterte Krystall wachsam. „Du hast aber nicht am Ende vor …?“

„Nein!“, entgegnete die Anführerin der Klingenengel sogleich energisch. „An unserem Kodex ändert sich nichts: keine unnötige Gewalt, keine sinnlose Zerstörung und auf keinen Fall Tote. Aber ich denke, ein solches Ass im Ärmel zu haben, kann für uns trotzdem ziemlich nützlich sein. Auch wenn ich im Moment noch nicht genau weiß, was ich damit machen möchte – es zu haben ist viel Wert.“

Rianna grinste. „Stimmt allerdings.“ Sie warf noch einmal einen Blick zum Fenster. „Na dann – ein Glas Rum, um auf unseren vielversprechenden Neuzugang anzustoßen?“

Krystall löste ihr Rapier vom Waffengurt und legte es aufs Bett. „Klingt nach einer Idee. Hol doch mal die anderen dazu, damit ich ihnen davon erzählen kann. Ich schenke derweil schonmal ein.“ Sie hielt noch einmal inne. „Also, ich erzähl ihnen von unserem neuen Mitglied. Das mit der Prophezeiung bleibt erstmal unter uns, ja?“

„Gute Idee.“ Rianna nickte. „Umso mehr, weil alle, die davon wissen, eine Zielscheibe sein könnten. Für Shemeshka und wer weiß, für wen sonst noch.“

 

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basierend auf dem Rollenspiel mit Sgillins Spieler am 3. Juni 2012

 

 

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