Portale … diese gesegneten kleinen Löcher im Gewebe der Ebenen.

Sie sind des Diebes bester Freund, des Ebenenreisenden Lebensgrundlage und eines Archivaren Alptraum.“

Addean, Tieflings-Händler

 


 

Zweiter Leeretag von Savorus, 126 HR

Nachdem bei der Versammlung im Berronar's beschlossen worden war, dass die Erwählten die Hüterin und den Verkünder suchen sollten, hatten alle sich noch ein paar Tage Zeit für die Reisevorbereitungen genommen. Die Fratze im Stock, die in der Alten Sprache zu Kiyoshi gesprochen hatte, hatte gesagt: Findet sie unter den Himmeln des Himmels. Findet sie, wo das Land in den Wellen nur ist wie die Sterne am Himmel. Findet sie, wo Tränen wie Juwelen sind. Sie hatten den letzten Teil dahingehend interpretiert, dass es sich um die nur im Elysium vorkommenden Edelsteine namens Himmelstränen handelte und daher diese Obere Ebene zum Ziel ihrer Reise erklärt.Am vielversprechendsten war ihnen ein Portal zum Sternregenatoll erschienen, und der Schlüssel war sogar – bezeichnenderweise – eine Himmelsträne. Leider befand sich das Portal jedoch im Stock, so dass sie für den Beginn ihrer Reise unauffällige, bescheidene Kleidung in gedeckten Farben gewählt hatten und nichts, was auch nur annähernd elysisch aussah. Morânia und Naghûl hatten sich mit Sgillin und Lereia nahe des Großen Gymnasiums getroffen und gingen dann erst einmal zur Kaserne, um Kiyoshi einzusammeln. Nicht nur lag dies auf dem Weg, es fühlte sich auch noch niemand so recht wohl dabei, den jungen Harmoniumsoldaten alleine durch den Stock zu besagtem Portal gehen zu lassen. Die Concierge Lady Diana schien sogleich im Bilde, worum es ging und ließ sie von einer Triaria namens Jostos zu Kiyoshis Quartier im oberen Stockwerk geleiten. Morânia sah sich auf dem Weg dorthin interessiert um, denn im Gegensatz zu ihrem Mann Naghûl war sie noch nie im Obergeschoss der Kaserne gewesen. Bei der richtigen Tür angekommen klopfte Sgillin an und kurz darauf öffnete ihnen der junge Materier auch schon. Er war in für den Stock taugliche Gewänder gekleidet und hatte einen Rucksack mit Gepäck bei sich, bereit zum Aufbruch. Gerade, als er die Tür hinter sich schloss, hörten sie rasche, energische Schritte den Gang herunterkommen. Es war niemand geringeres als Bundmeister Sarin selbst, und Morânia, Naghûl, Lereia und Sgillin verneigten sich rasch, während Kiyoshi sofort Haltung annahm und salutierte. Der Paladin schien weder von ihrer Anwesenheit noch wegen ihres Aufzuges überrascht, wusste also offenbar, dass sie auf dem Weg zur nächsten Mission waren. Mission. Morânia musste innerlich ein wenig schmunzeln, denn bis vor Kurzem hätte sie sich wahrlich nicht vorstellen können, auf einer solchen Art von Mission zu sein. Natürlich war sie dies streng genommen nicht für das Harmonium, sondern für ihren eigenen Bund – aber in Sarins Gegenwart fühlte es sich dennoch ein wenig so an.

„Der Segen der Dame“, grüßte er sie nun mit einem knappen Nicken. „Bereit zum Aufbruch?“

Naghûl nickte. „Ganz genau, auf dem Weg direkt in das Paradies, Bundmeister.“

Der Paladin hob die Brauen. „Was sagt mir nur, Naghûl, dass Ihr damit nicht Arcadia meint?“

Sein Tonfall jedoch war durchaus freundlich und nicht ohne eine gewisse Selbstironie, so dass Naghûl nur etwas spitzbübisch grinste und unschuldig die Schultern hob. Kiyoshi hingegen schien die Ironie nicht ganz verstanden zu haben, denn er blickte seinen Bundmeister ernst an.

„In das Elysium, ehrwürdiger Herr und Gebieter“, erklärte er dienstbeflissen.

Sarin schüttelte mit einem leichten Schmunzeln den Kopf. „Hüterin und Verkünder, ich weiß. Aber gut, dass ich Euch vor Eurem Aufbruch noch antreffe. Ich habe etwas für Euch.“

Interessiert sahen Morânia und die anderen zu, wie er Kiyoshi einen kleinen Beutel aus weichem Leder überreichte, bestickt mit einigen Ornamenten, die jene der von ihm oft getragenen Gewänder spiegelten. Der junge Soldat nahm die Gabe mit beiden Händen entgegen und verneigte sich.

„Ich danke Euch, ehrwürdiger Bundmeister“, sagte er und blickte dann etwas ratlos auf den Beutel in seinen Händen.

„Darin befindet sich ein Amulett“, erklärte Sarin. „Es verbirgt die Gesinnung einer Person, sollte es nötig werden. Nicht, dass ich sagen will, ich hätte Befürchtungen …“ Er winkte mit einem kurzen Seufzen ab. „Nun ja, ehrlich gesagt habe ich doch Befürchtungen. Ich bete natürlich, dass bei dieser Mission alles gut geht. Aber wer kann schon wissen, was Euch bevorsteht?“

Morânia nickte anerkennend. Ein durchaus kluges Geschenk, wenngleich kein selbstverständliches. Derartiger Schmuck war selten und teuer und selbst in Sigil nicht an jeder Ecke des Großen Basars zu bekommen. Kiyoshi verneigte sich abermals. „Ich danke Euch, ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui“, erklärte er. „Ein wahrhaft fürstliches Geschenk.“

„Na, wenn Ihr mich schon Euren Daimyo nennt …“, versetzte der Paladin mit einer leicht gehobenen Braue. „Allerdings bin ich normalerweise nicht so vertraut mit den Truppen. Also behaltet das bitte für Euch, ja?“

„Euer Wunsch ist mir Befehl, ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui“, erwiderte Kiyoshi ohne zu zögern.

Sarin nickte, ehe er noch einmal in die Runde zu den übrigen Erwählten sah. „Dann viel Erfolg bei Eurer Mission.“

„Danke, Herr“, erwiderte Morânia und neigte dabei leicht den Kopf. „Und Euch den Segen der Dame.“

„Mögen die Kami stets mit Euch sein“, fügte Kiyoshi an.

Der Bundmeister nickte knapp, nun wieder distanzierter, militärischer, drehte sich um und entfernte sich den Gang hinunter. Obgleich sie Sarin hoch schätzte als Paladin, der er war, verspürte Morânia dennoch eine gewisse Erleichterung, als er sich zum Gehen wandte. Trotz der Allianz ihrer Bünde und auch nach dem Treffen im Berronar's hatte sie in seiner Gegenwart das leise, unbestimmte Gefühl, sie könnte etwas ausgefressen haben oder müsste sich für etwas verantworten. Dies obwohl sie einen Grafentitel auf der Materiellen geführt hatte und einem Orden vorgestanden war – und dennoch. Wie er das nur schaffte. Es sprach gewiss für seine innere Stärke, seine Ausstrahlung und eine natürliche Autorität, die ihn umgab. Doch natürlich lag es auch an seinem Bund und der Macht, die dieser in Sigil hatte. Eine Macht, die in falschen Händen sehr gefährlich werden konnte – wie man vor knapp zehn Jahren schmerzlich gesehen hatte. Ein Glück, dass diese Macht nun wieder bei jemandem lag, dem sie – und daran bestand für sie kein Zweifel – nur Ehrenvolles und Aufrichtiges zutraute. Sie schickte ein kurzes Gebet zu Lathander, dass es noch lange so bleiben mochte.

„Also dann“, meinte Naghûl. „Sammeln wir Jana ein und dann nichts wie ab ins Elysium.“

Die anderen nickten und so machten sie sich auf den Weg in Richtung Ausgang. Naghûl und Lereia gingen voran, führten ein lockeres Gespräch über eine neue Ausstellung in der Festhalle, die der Sinnsat der jungen Frau nahebringen wollte – da passierte es. Naghûl und Lereia gingen gerade unter einem der steinernen Bögen hindurch, die in regelmäßigen Abständen die langen Gänge der Kaserne abstützten – und plötzlich verschwanden sie in einem goldenen Lichtwirbel.

„Verdammt!“, rief Morânia erschrocken aus.

Ein Portal. Einer von beiden musste unerwartet und unbeabsichtigt ein genau hier befindliches Portal geöffnet haben. Ob es nun ein zufällig mitgeführter Gegenstand gewesen war, ein gerade in diesem Moment gesprochenes Wort oder gar ein Gefühl oder Gedanke – egal. Aber der Schlüssel hatte das Portal geöffnet und Naghûl und Lereia waren hindurch gegangen.

Entsetzt blieb Sgillin stehen. „Was zum … Lereia!“

Morânia zögerte keine Sekunde. Wenn hinter dem Portal nichts Gefährliches war, umso besser. Aber wenn doch, durfte sie ihren Mann und die junge Lereia keinesfalls dort alleine lassen.

„Hinterher!“, rief sie und stürzte sich hindurch.

Sie verspürte das altbekannte, schon seit Langem völlig vertraute Ziehen in ihrem Inneren, eine gewisse Wärme, die sie nur sekundenlang durchströmte und die kurze Dunkelheit, wie immer wenn man ein Portal durchschritt. Dann sah sie auch schon vor sich Lereia und Naghûl – und hörte hinter sich Sgillin und Kiyoshi, die offenbar ebenso wenig gezögert hatten. Sie standen in einem düsteren, offenbar nicht allzu großen Raum, in dem sie die anderen aufgrund der mangelnden Beleuchtung nun nur noch schemenhaft erkennen konnte.

„Was ist passiert?“

Das war Lereias Stimme, mit einem deutlichen Anflug von Nervosität. Kein Wunder, dachte Morânia bei sich. Unerwartet durch ein Portal zu stolpern ohne den Zielort zu kennen – das war selbst für erfahrene Ebenenreisende ein Alptraum.

Sgillin tastete sich an Morânia vorbei zu Lereia vor. „Geht es dir gut?“ fragte er besorgt.

„Ich glaube schon“, erwiderte die junge Frau, wenn auch mit etwas zittriger Stimme. Sie schien sich an Sgillins Arm festzuhalten. „Wir … haben ein Portal geöffnet, oder?“

„Ja …“, erwiderte Morânia, nicht ohne einen leisen Fluch nachzusetzen.

Unterdessen hatte Naghûl ein wenig phosphoreszierendes Moos aus seiner Gürteltasche geholt und einen Lichtzauber auf seinen Stab gesprochen. Sofort wurde der etwa fünf mal fünf Schritt große Raum in ein warmes Licht von der Helligkeit einer Fackel getaucht. Sie sahen sich um und erkannten, dass es nicht gerade ein sehr einladender Ort war. An beiden Seiten des Zimmers standen einfache Betten, doch die Laken darauf waren rau und wirkten nicht allzu sauber. Weiter hinten konnten sie einen Tisch mit mehren Stühlen sehen, grob und wenig kunstvoll aus sehr dunklem Holz gefertigt. Darauf standen in einem Halter eine dicke rote Kerze und eine verbeulte Blechschüssel. Die Wände waren schwarz und rot gestrichen, so dass der Raum düster und aggressiv wirkte.

Ernst sah Kiyoshi sich um. „Wo sind wir?“

„Es sieht nicht besonders freundlich aus ...“, murmelte Lereia leise.

Während Naghûl den Raum noch raunend inspizierte, spürte Morânia bereits, wie etwas unangenehm und unmissverständlich an ihr Innerstes rührte. Ein Gefühl, so unangenehm wie das Kratzen von Fingernägeln über eine Schiefertafel, nur auf geistiger Ebene, mental, seelisch oder sogar noch tiefer gehend, falls das möglich war. Sie verzog das Gesicht.

„Ich spüre Unheil und Abscheulichkeit aus jeder Ecke hier rinnen … Ich bin sicher, es ist eine der Höllen.“ Sie fluchte erneut auf Abyssal, herzhaft und aus tiefster Seele, was sie nur tat, wenn sie wirklich, wirklich gereizt oder frustriert war.

Naghûl legte ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm. „Liebes, bitte …“

„Ist doch wahr!“ entgegnete Morânia heftig. „So ein verdammter Manedreck! Rattenpisse!“

Doch dann zügelte sie sich, atmete mehrmals tief durch, um sich wieder zu mäßigen. Sie wusste, dass derartige Ausbrüche nicht hilfreich waren, vor allem wenn in den Ebenen so unerfahrene Materier bei ihnen waren. Wäre da nur nicht dieses schreckliche Gefühl gewesen, das sie reizte wie Dutzende von Stechmücken, die nach ihrem Blut gierten … Sie sah zu Lereia hinüber, die verängstigt wirkte und einen Schritt zurück ging – vor wem war nicht ganz klar. Es schien eher, als würde sie vor der Ebene selbst zurückweichen wollen.

„Ich würde am liebsten meine Tiergestalt annehmen“, erklärte sie leise. „Vielleicht ist das unauffällig und interessiert hier keinen.“

„Dafür bist du ein zu hübsches Tier“, entgegnete Naghûl bedauernd.

Morânia musste ihm beipflichten. „Ja, nicht dass die dein Fell wollen ...“

„Es wäre glaubwürdiger, wenn wir dich als Sklavin ausgeben“, meinte Naghûl und fügte dann mit einem entschuldigenden Räuspern an: „Tut mir leid.“

„Oh …“ Lereia schluckte ein wenig, nickte dann aber tapfer. „Also gut, aber verkauft mich nicht.“

„Ganz sicher nicht“, versprach Sgillin und drückte ihre Hand.

„So viel kann keiner zahlen“, versicherte Morânia und legte der jungen Frau kurz beruhigend die Arme um die Schultern.

Sie war selbst noch immer aufgewühlt ob der mehr als unsicheren Situation, bemühte sich aber, dies Lereia nicht merken zu lassen, wollte versuchen, ihr ein wenig Zuversicht zu geben. Die junge Frau lächelte schwach, aber dankend. Kiyoshi, der bei der Ankunft recht blass um die Nase und noch schweigsamer als sonst gewesen war, schien sich nun wieder etwas gefangen zu haben – oder spielte dies zumindest einigermaßen überzeugend vor. Er sah zu Naghûl.

„Welche Rollen habt Ihr für uns anderen vorgesehen, ehrenwerter Naghûl-san?“

Morânia blickte mit einem Schmunzeln zu ihrem Mann, der nun seufzend die Schultern hob.

„Ich habe im Moment noch gar nichts vorgesehen“, erwiderte er. „Ich weiß ja noch nicht einmal, wo genau wir sind.“

In diesem Moment spürte die Bal'aasi abermals etwas, doch diesmal war es nicht der giftige Stachel einer höllischen Ebene, sondern etwas deutlich Reineres, Wärmeres … Sie zuckte dennoch ein wenig zusammen.

„Diese Umgebung spürt sie wohl …“, bemerkte sie leise. „Das scheint sie … zu wecken.“

Sie spürte, wie Licht und Wärme sie durchflossen, ein süßes, angenehmes Gefühl der Geborgenheit und gleichzeitig grenzenloser Freiheit. Genau wie vor Kurzem im Haus der Visionen … Sie sah, wie Sgillin sich ihr zuwandte und hörte auch seine Frage: „Morânia? Alles klar?“ Doch sie hatte bereits keine Kontrolle mehr über sich. Diese hatte nun wieder die Celestin, die ihre Seele mit ihr teilte. Morânia sah alles, hörte alles, aber es war, als sei sie nur noch eine Beobachterin, die die anderen Anwesenden wie durch eine Glasscheibe wahrnahm.

„Ich bin die Botin“, hörte sie sich selber sagen, und auch dieses Mal hallte ihre Stimme nach wie eine bronzene Glocke. „Fragt und Euch wird geantwortet.“

Lereia warf den anderen einen panischen Blick zu. „Wir haben nichts vorbereitet ...“ Doch da keiner der Männer vor Überraschung zu reagieren vermochte, wandte die junge Frau sich wieder an Morânia. „Haben wir bereits andere Auserwählte getroffen außer uns sechs?“

„Ja“, antwortete die Botin durch den Körper der Bal'aasi.

Lereia schien über die nächste geeignete Frage nachzudenken, doch da schaltete sich Naghûl ein.

„Sind wir hier auf Baator?“, fragte er rasch.

„Nein“, gab die Botin ohne zu zögern zur Antwort.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, nur als Zuschauerin im eigenen Körper zu sein, keinen Einfluss mehr nehmen zu können – und dennoch war es seltsamerweise nicht beängstigend. Es war eher, als fahre sie über ruhige Wasser in einem Boot, gesteuert von jemandem, dem sie blind vertraute.

Nun trat auch Sgillin wieder in ihr Blickfeld. „Ist auf dieser Ebene einer der Auserwählten?“, wollte er wissen.

„Nein“, kam die prompte Antwort.

Morânia konnte erkennen, wie Naghûl dem Halbelfen bei dieser Frage einen scharfen Blick zuwarf, und Sgillin schien zu verstehen: Fragen zu ihrer derzeitigen Lage mochten im Moment Priorität genießen.

„Ist ein Rückreiseportal in der Nähe?“, setzte Sgillin daher rasch nach.

Doch im selben Moment war es wieder vorbei. Morânia spürte, wie das Licht und die Wärme sich aus ihr zurückzogen und sie hatte wieder die Kontrolle über ihren Körper. Sie verspürte jedoch einen leichten Schwindel und ließ sich vorsichtshalber auf dem nahen Bett nieder.

„Ah.“ Kiyoshi nickte ernst. „Immer nur drei Fragen.“

„Verdammt …“, murmelte Morânia leise. Wenn sie die Botin doch nur länger hätte halten können, wenn sie mehr Fragen beantwortet hätte.

Lereia nahm neben ihr auf dem Bett Platz. „Nicht verdammt“, sagte sie sanft. „Du hast uns geholfen.“

Sie hat uns geholfen“, erwiderte die Bal'aasi lächelnd. „Aber danke dir.“

„Leute, ich hätte da eine Bitte“, unterbrach Naghûl ihr Gespräch. „Sollten wir rein zufällig irgendwann wieder in einer Hölle feststecken, könnten wir uns darauf einigen, Fragen zu stellen, die uns wieder heraus helfen, ja?“

„Ich habe keine einzige Frage gestellt“, bemerkte Kiyoshi sachlich.

Sgillin hob entschuldigend die Hände. „Hab ich ja versucht, ich war nur zu spät dran.“

„Du hast recht, Naghûl“, erklärte Lereia ruhig, aber Morânia konnte eine gewisse Verärgerung dennoch heraushören. „Aber dann ergreife du bitte nächstes Mal gleich das Wort. Meine Erfahrungen mit Ebenen sind begrenzt und ich dachte, es wäre vielleicht am wichtigsten, etwas zur Prophezeiung zu fragen.“

Morânia nickte ihr verstehend zu und drückte kurz ihre Hand. Ihrem Mann warf sie einen kurzen, begütigenden Blick zu, es dabei zu belassen. Alle waren aufgeregt und nervös. Fehler passierten, aber es hatte keinen Sinn, sich gerade jetzt und hier deswegen zu streiten. Naghûl lenkte auch sogleich ein und schwieg dann kurz, um nachzudenken.

„Also, wir sind nicht auf Baator“, grübelte er. „Was heißt, dass man uns irgendeine wilde Geschichte hier vielleicht eher abkaufen würde. Wären wir zum Beispiel in der Grauen Einöde ...“

„Dann wären wir den meisten egal …“, erwiderte Morânia mit einem Anflug von Galgenhumor. „Das wäre doch auch was.“

„Stimmt“, meinte Naghûl. „Außer dem Arcanaloth, der aus uns Suppe machen will.“

Morânia nickte und musste etwas lächeln. In Situationen wie diesen verstand Naghûl es oft, durch einen lockeren Spruch und seinen ihm eigenen Humor die Lage zumindest ein wenig zu entspannen. Einer der vielen Gründe, warum sie ihn liebte. Doch dann wurde er wieder ernster.

„Gehen wir mal von der Abyss aus“, meinte er. „Einfach mal den schlimmsten Fall annehmen. Hm, spricht jemand außer Morânia und mir Abyssal?“

Die anderen drei verneinten und Lereia seufzte leise.

„Als Sklavin muss ich ja nicht sprechen können …“, murmelte sie entmutigt und Morânia drückte einmal mehr tröstend ihre Hand.

„Also gut“, fuhr Naghûl unterdessen bewusst sachlich und so ruhig wie möglich fort. „Ich werde als erstes das Portal hier analysieren. Dann können wir entscheiden, was wir weiter machen. In Ordnung?“

Kiyoshi, Sgillin und Lereia signalisierten ihre Zustimmung und auch Morânia nickte.

„Und ich werde zur Sicherheit meine Aura verschleiern.“ Sie legte das Gesicht in die Handflächen, ganz wie ein Kind, das nicht gesehen werden möchte, und konzentrierte sich darauf, einen mentalen Schild um sich herum aufzubauen, eine Barriere, die ihre wahre Gesinnung zumindest vor flüchtigeren Blicken oder niedrigeren Scheusalen verbarg. Als sie spürte, dass der Schutz sich erfolgreich über sie gelegt hatte wie ein warmer, goldener Schleier, sah sie wieder auf und verfolgte nun das Tun ihres Mannes. Dieser hatte einen kleinen Spiegel und eine Lupe zur Hand genommen und sprach gerade einige Worte auf Orkisch:

„Bunaho taogoh Moan mon kt raoh, uokphan Ozr rah. Toh har koghorrn kt gohthorn, gu moako rah Hoago kt Rok.“ Angestrengt blickte er durch die Lupe in den Spiegel, dann verlegte er sich aufs Fluchen, diesmal auf Abyssal: „Tsangooppga Pootaboomba! Mdlaoop Mbaenoosan Oomgnamb!“

„Bitte, Liebster …“ Diesmal war sie es, die ihn zu beschwichtigen suchte.

„Das war doch so klar ...“, knurrte Naghûl gereizt und stopfte Lupe und Spiegel wieder zurück in die Tasche.

„Ich ahne Schlimmes …“, murmelte Sgillin.

Naghûl fluchte weiter, wenngleich nun in der Handelssprache. „Hier ist nichts! Verflixte Rattenpisse! Ein mist-verdrecktes Einwegportal! Oder vielleicht war es auch ein temporäres Portal … aber das macht es nicht besser. Oder ein wanderndes, dann könnte es wieder auftauchen. Irgendwann. Ach, verdammte Aaskriecherscheiße!“

Lereia, die wieder aufgestanden war, wechselte nervös von einem Bein auf das andere und Sgillin hob erstaunt die Brauen.

„Na na na“, meinte er, durch Naghûls Ausbruch eindeutig ebenso beunruhigt wie die anderen. „Solche verbalen Entgleisungen von euch beiden sind mir ja völlig fremd. Oder übt ihr nur schonmal für hier unten?“

„Wir sind in der Abyss …“, entgegnete Morânia seufzend. „Daran liegt das.“

Lereias Augen flackerten angstvoll auf. „Woher weißt du das, Morânia? Dass es wirklich die Abyss ist?“

Die Bal'aasi verzog ein wenig den Mund. „Alles, was hier ekelhaft und verdorben ist, stößt mich als Paladin und die Celestin in mir ab. Aber es kitzelt mein Succubus-Erbe … Ich spüre geradezu den Drang … unbeherrscht zu werden.“

Lereia atmete tief durch. „Also gut, fassen wir zusammen …“ Sie war offenbar sehr bemüht darum, die Fassung zu wahren und ruhig zu wirken. „Wir können momentan nicht zurück nach Sigil und wissen auch nicht, wann es wieder möglich ist. Das heißt, wir müssen uns eine Geschichte überlegen, diesen Raum verlassen und ein anderes Portal suchen.“

„Ich könnte in die Schatten gehen und mich mal draußen umsehen“, schlug Sgillin vor.

„Das finde ich zu gefährlich“, wandte seine Gefährtin sofort ein. „Wenn dich jemand entdeckt, hast du dich sofort verdächtig gemacht.“

Morânia erkannte an Naghûls Gesichtsausdruck, dass er sich inzwischen eine Geschichte zurecht gelegt hatte, und tatsächlich nickte er entschlossen.

„Also gut … Ich bin ein Händler mit irgendwelchen konfusen Geschäftsideen. Lereia ist meine Sklavin und trägt meinen Kodex.“ Er holte ein dickes Buch aus seiner Tasche und drückte es der jungen Frau in die Hand. „Ihr anderen seid Söldner, die ich angeheuert habe. Sgillin macht einen auf geheimnisvoll und Kiyoshi spielt den stummen Schlitzer. Genau, ich werde euch einfach nur Schlitzer und Schleicher nennen. Und Morânia ist eine wilde Kämpferin namens … hm, wie nenne ich dich denn? Blutige Barbara?“

Sgillin musste trotz ihrer heiklen Lage lachen und obwohl Morânia ihren Mann wegen des Namens nur knuffen wollte, kam etwas ganz anderes über ihre Lippen:

„Ich geb dir gleich ne blutige Nase, du Witzbold.“ Ja, diese Ebene hatte einen schlechten Einfluss …

Doch Naghûl nahm es mit Humor und grinste nur. „Ja, guter Name.“

In diesem Moment holte Kiyoshi das Amulett hervor, das Bundmeister Sarin ihm in geradezu prophetischer Voraussicht mitgegeben hatte. Er hielt es Morânia entgegen. „Hier, ehrenwerte Morânia-sama“, sagte er. „Dies braucht Ihr vielleicht nun nötiger als ich.“

„Danke, Kiyoshi“, erwiderte die Bal'aasi herzlich. „Aber ich habe meine Aura verschleiert und bin somit zumindest einigermaßen geschützt. Die Frage ist, ob unter euch anderen eher die mit einer guten oder die mit einer rechtschaffenen Gesinnung in Gefahr sind. Man hasst hier das eine wie das andere.“ Sie warf einen Blick zu Lereia, von der sie fürchtete, dass beides auf sie zutreffen mochte.

Die junge Frau seufzte auch prompt. „Oh weh. Andererseits, als Sklavin kann ich doch ruhig rechtschaffen guter Gesinnung sein, oder?“

Damit hatte sie recht, und somit schien die Wahl entweder auf Kiyoshi oder Naghûl zu fallen.

„Was meinst du ist gefährlicher?“ zog Morânia ihren Mann zu Rate. „Gut oder rechtschaffen? Spiel mit dem Feuer, ich weiß …“

Naghûl wiegte den Kopf. „Hm, ich fürchte, man könnte uns eher für Baatezu-Spione halten. Wenn Lereia eine Sklavin ist, nimmt es am besten Kiyoshi.“

Morânia nickte zustimmend und so legte Kiyoshi sich das Amulett um den Hals und verbarg es unter seiner Kleidung. Naghûl dagegen sah noch einmal prüfend in die Runde.

„Also, alle bereit?“

„So bereit man hier sein kann …“, erwiderte Lereia angespannt.

Naghûl nickte seufzend. „Gut, gehen wir. Das wird nun eine spannende Erfahrung …“

Morânia verkniff sich einen Kommentar zur Bundphilosophie ihres Mannes. Selbst nach einer ausgedehnten Meditation und einem Saunabesuch im Großen Gymnasium hätte sie es als fragwürdig empfunden, dies hier als interessante Erfahrung zu bezeichnen. In der gegenwärtigen Lage untersagte sie sich vorsichtshalber jegliche Bemerkung dazu. So öffneten sie vorsichtig die Tür und traten in einen längeren Korridor. Zu ihrer Erleichterung war dort niemand, so dass sie sich ein wenig umsehen und mit der Umgebung vertraut machen konnten. Die Wände waren aus dunklem Metall, vielleicht Eisen, und von jeder Seite des Ganges gingen mehrere Türen ab, die genauso aussahen wie jene, aus der sie soeben getreten waren: aus rostigem Metall und eine jede versehen mit einer Abyssalischen Ziffer. Möglicherweise handelte es sich um Unterkünfte, vielleicht für Blutkriegstruppen der Tanar'Ri oder Söldner in den Diensten der Dämonen. Weiter vorne war eine Treppe zu erkennen, die nach unten führte, und von dort hörten sie auch mehrere Stimmen.

„Hier oben ist wohl nicht viel los“, meinte Morânia leise. „Aber den Geräuschen nach zu urteilen ist da unten eine größere Menge an Personen, die trinken und herum grölen. Das sind sehr viele, die meine Tarnung eventuell durchschauen könnten. Ich habe vor allem wegen der Seele der Botin Befürchtungen ...“ Naghûl warf ihr einen fragenden Blick zu, ahnte sofort, worauf sie hinaus wollte. Sie seufzte. „Ich denke, ich bleibe erst einmal hier oben, während ihr euch unten umseht.“

Ihr Mann nickte ernst. „Ja, ist vielleicht sicherer.“

So winkte er Sgillin, Kiyoshi und Lereia mit dem dicken Buch, ihm zu folgen, während Morânia ein Stück zurück fiel. Während die anderen die Treppe hinunter gingen, blieb sie oben an der Ecke stehen und zog sich ihre Kapuze tiefer ins Gesicht, während sie vorsichtig nach unten spähte. Es handelte sich offensichtlich um eine Art Bar oder Gastraum, in dem sich eine mit dämonischen Fratzen verzierte Theke und mehrere Tische und Stühle aus schwarzem Metall befanden. Tiefrote Flammen in eisernen Feuerkörben erhellten den Raum und tauchten ihn zugleich in ein höllisches Licht. Scheusale und andere finstere Gestalten waren dort versammelt. Sie tranken und grölten, einige drangsalierten zum Spaß ein paar Manes. Mit Erleichterung stellte Morânia fest, dass niemand im Moment auf die verirrten Reisenden zu achten schien. Naghûl ging vor, Lereia mit dem Buch direkt an seiner Seite, während Sgillin und Kiyoshi sich ein Stück weiter hinten hielten. Die trockene Hitze, die ihr von unten entgegen schlug, ließ die Bal'aasi vermuten, dass es sehr heiß in der höllischen Taverne war, sicher vierzig bis fünfundvierzig Grad. Von ihrer Position aus konnte sie einen Tisch mit Blutkriegssöldnern erspähen, mehrere Tieflinge, zwei Menschen und ein Halbork saßen dort. Ein Stück daneben befand sich ein Blutbecken, und weiter hinten die Bar, hinter der ein Dretch herumlärmte. Naghûl setzte sich an einen freien Tisch in Morânias Blickfeld, auf einen Wink von ihm nahmen auch Sgillin und Kiyoshi Platz. Lereia blieb erst seitlich von Naghûls Stuhl stehen, bis er nach ihrem Handgelenk griff und sie auf seinen Schoß zog. Morânia nickte sacht. Er fand schnell in seine Rolle, eine von jenen, die er auf so manchen ihrer gemeinsamen Reisen gespielt hatte. Wann immer sie in finstere, gar höllisch geprägte Umgebungen geraten waren, hatte Naghûl stets die Rolle eines opportunistischen, geldgierigen Händlers gespielt und ihre Schwester Raralia – je nach Bedarf – entweder seine Sklavin oder seine Geliebte. Nicht selten auch beides. Sie selbst und die anderen damaligen Reisegefährten – der Zwerg Tagnar, der Githzerai Zerf und ihr halb-celestischer Mentor Astaldur – hatten sich in der Regel als Söldner ausgegeben. Morânia beherrschte die Rolle der Sklavin oder wahlweise Verführerin dank ihres Succubus-Erbes zwar durchaus, hatte sie aber, wenn möglich, lieber ihrer älteren Schwester überlassen. Nachdem die Gruppe sich unten einen Platz gesucht hatte und nun gewiss erst einmal die Umgebung sondierte, zog Morânia sich wieder ein Stück weiter in den dämmrigen Gang zurück, um von unten nicht gesehen zu werden. Ein rascher, wachsamer Blick verriet ihr, dass sie nach wie vor alleine hier oben war. Auch hinter den anderen Türen war nichts zu hören. Wo mochten sie sein? Sie erspähte ein einzelnes Fenster an der Stirnseite des Ganges und trat näher heran, um einen Blick nach draußen zu werfen. Dort war ebenso wie in der Bar unten alles in ein rötliches Licht getaucht, doch stammte dieses nicht aus Feuerschalen, sondern von den Seen, die den Ort offenbar umgaben und erst deutlich weiter hinten durch zackig aufragende, schwarze Berge begrenzt wurden. Bei näherem Hinsehen erkannte Morânia, dass es sich bei den Seen aber wohl nicht um Lava handelte – die Flüssigkeit bewegte sich anders, schimmerte ein wenig … Sollten es die geschmolzenen Eisenseen sein? Diese Reihe dampfender Tiegel lieferte das Eisen, aus dem die meisten Waffen und fast alle Festungen Pazunias, der ersten Subebene der Abyss, bestanden. Dies machte die Umgebung zu einer der am härtesten umkämpften Regionen der Ebene. Morânia ließ forschend ihren Blick schweifen. Die am nächsten liegenden Seen waren glühend rot, andere, weiter entfernte, gleißend weiß. Sie strahlten Hitzewellen aus, die stoßweise und unbarmherzig durch das lediglich mit eisernen Gitterstäben versehene Fenster drangen. Sie wusste, dass man im Umkreis von hundert Metern um die Seen Verbrennungen erleiden konnte, wenn man ungeschützt den Boden berührte oder einem zu plötzlichen Windstoß ausgesetzt war. Daher hoffte sie, dass sie die Festung nicht würden überstürzt verlassen müssen, weil Naghûl eine Weile brauchen würde, sie alle auf magischem Wege gegen das Feuer dort draußen zu schützen. Doch um welche Festung handelte es sich? Sie ließ erneut ihre Augen über die Ufer der Seen wandern und erkannte am gegenüberliegenden Ufer des größten die Umrisse einer Bastion. Nein, zu groß für eine Bastion, eher eine Stadt. In den dunklen Gebäuden glühten unzählige rot und orange erhellte Fenster wie boshafte Augen, die über die wertvollen Seen wachten. Doch einige der Türme wirkten verfallen … Das mochte die verlassene Stadt Messerschmiede sein. Sie beherbergte eine Vielzahl von Magma-Mephiten, die hier einst als Sklaven eine große Schmiede hatten betreiben müssen, aber entkommen hatten können, als ein entropisches Chaosschiff den größten Teil der Gemeinde zerstört hatte. Dämonen mieden diese Stadt, was sie zu einem der sichersten Orte auf Pazunia machte. Aber dort waren sie wohl nicht gelandet … Wahrscheinlicher befanden sie sich in der Eisenfestung Ferrug, die Messerschmiede an dem größten der Seen direkt gegenüber lag. Hier wimmelte es von Herden von Armaniten, mordenden Vrocks und zahllosen Blutkriegssöldnern, angeführt von einer eigensinnigen Marilith namens Galizsheth. Morânia seufzte leise. Natürlich waren sie hier gelandet statt bei den zwar anstrengenden, doch im Vergleich deutlich harmloseren Mephiten am anderen Ufer des geschmolzenen Sees.

„He, Schleicher“, hörte sie nun Naghûl etwas lauter von unten. „Hol doch mal was zu kippen.“

Vorsichtig näherte sie sich wieder dem Treppenaufgang und spähte aus dem Schutz der vorspringenden Ecke zu ihren Freunden hinunter. Sgillin war aufgestanden.

„Ja, Meister“, erwiderte er mit etwas tieferer Stimme als gewohnt. „Was wollt Ihr?“

„Tierblut wär recht“, erwiderte Naghûl. „Wenn möglich von einem Fleischfresser.“

Sgillin nickte und ging zur Bar hinüber, wobei er unauffällig die Umgebung sondierte. In einer Ecke prahlten ein paar Blutkriegssöldner mit den Taten in ihrer letzten Schlacht. An einem anderen Tisch saß ein Alu-Scheusal auf dem Schoß eines Incubus und flirtete heftig bis anzüglich mit ihm. Wieder in einer anderen Ecke trat ein Vrock gerade einen Mane zu Matsch. Ein zweiter Vrock schien an dem Schauspiel weniger Gefallen zu finden und wandte sich ebenfalls der Bar zu. Sgillin hielt vorsichtigen, aber nicht zu auffälligen Abstand zu dem Dämon, während er sich auf den Tresen lehnte.

„He!“, rief er zu dem Dretch-Barmann hinüber.

Das schwabbelige Scheusal drehte sich kaum zu ihm um, sondern warf ihm nur einen kurzen Blick aus seinen hervorstehenden Glubschaugen zu, während es einige Flaschen einräumte. „Hä?“

„Was hast du an Blut da?“, wollte der Halbelf wissen.

Der Dretch zeigte Sgillin ein paar Flaschen und mammelte etwas auf Abyssal. Dass er die Sprache nicht verstehen konnte, verbarg der Schütze recht gut, und deutete einfach auf zwei Flaschen Wein und eine mit Blut. Dann kehrte er zurück zum Tisch, während ein lächerlich verkleideter Mane an ihm vorbei humpelte. Kiyoshi nahm eine der Weinflaschen und schenkte sich auch etwas ein, trank aber nichts, wie Morânia auffiel. Naghûl ließ sich von Lereia etwas von dem Blut einschenken, während Sgillin zu der zweiten Weinflasche griff. Der weiter hinten im Raum lungernde Vrock hatte nun von dem Mane abgelassen, von dem nur noch ein blutiger Haufen übrig war, und ging zu einem der Tische, wo er ein Gespräch mit einem halborkischen Blutkriegssöldner begann. Alles in allem wirkte nichts an der momentanen Situation besonders auffällig oder besorgniserregend – zumindest nach Abyssalischen Maßstäben. Morânia überlegte gerade, ob sie sich doch auch hinunter wagen sollte, doch genau in diesem Moment kam es unten zu einem Tumult: Die Tür zum Barraum wurde aufgerissen und herein stolperte ein offenbar verletzter menschlicher Mann. Er war blutüberströmt und warf panisch die Tür hinter sich zu … doch ehe irgendjemand im Raum wirklich reagieren konnte, wurde die Tür geradezu aus den Angeln gesprengt. Und ein wahrer Alptraum drang ein … Das Wesen sah aus wie eine riesige, unförmige Spinne mit einem Körper von der Größe eines Ackergauls und etwa vier Meter langen Beinen. Das chitinartige Exoskelett war schwarz und violett gefärbt, die beiden Vorderbeine endeten in messerscharfen Widerhaken und aus den Reißzähnen tropfte eine stinkende Flüssigkeit. Morânias Herzschlag beschleunigte sich und ihre Hand wanderte fast unbewusst zum Schwertgriff. Ein Bebilith! Gefährliche, spinnenartige Dämonen, die auf andere Scheusale Jagd machten. Oder auch auf gewöhnliche Sterbliche, wenn sie Hunger hatten und gerade keine andere Beute fanden. Der verletzte Mann, der gerade herein gestolpert war, schien in diese Kategorie zu fallen. Morânia sah, wie ihre Freunde sofort vom Tisch aufsprangen, ebenso wie viele der anderen Gäste. Sgillin packte Lereia am Arm und zog sie mit sich Richtung Tresen und Kiyoshi griff nach seinem Yari, während Naghûl einen Schutzzauber sprach. Der verletzte Mann rannte panisch durch den Raum, aber der Bebilith war schon bei ihm. Mit einer rasiermesserscharfen Klaue spießte er ihn auf und schlug seine Kieferzangen in ihn. Das alles geschah innerhalb weniger Lidschläge und Morânia war gerade erst die Hälfte der Treppe nach unten gerannt. Der Mann in den Klauen des Bebilithen erschlaffte fast sofort. Doch plötzlich, scheinbar in dem Moment seines Todes, gab es eine Explosion von gleißendem Licht. Alle Tanar'Ri fuhren herum, wurden geblendet, die meisten flohen in Panik … einige starrten nur … Auch Morânia blieb vor Verblüffung mitten auf der Treppe stehen. Der Vrock an der Bar aber sprang nach vorne … Das gleißende Licht unterdessen schien aus dem Körper des Sterbenden herauszuschießen - und in den Bebilithen hinein. Das Scheusal erbebte und erzitterte, als das Leuchten in seinen Körper fuhr.

„Nein!“, kreischte der Vrock auf. „Er gehört mir!“

Morânia versuchte, innerhalb der wenigen Sekunden, in denen sich all dies ereignete, zu begreifen, was vor sich ging. Aus dem Augenwinkel erkannte sie, dass auch Naghûl das Spektakel erschrocken und verwirrt beobachtete. Kiyoshi, Sgillin und Lereia standen gleichfalls nur wie erstarrt da. Dann plötzlich schien der Vrock zu zerbersten, und aus seiner Hülle brach ein Mann mit alabasterner Haut und weißen Flügeln hervor.

„Nein!“, rief er verzweifelt. „Er gehört mir! Es ist meiner!“

Der Mann stürzte auf den Bebilithen zu und Morânia traute ihren Augen nicht. War das etwa …?

„Ein Deva!“ zischte ein in der Nähe des zweiten Vrocks flatternder Quasit. „Ein Deva in der Abyss!“

Und er hatte recht. Morânia spürte es mit jeder Faser ihres Seins, dass dies kein Trugbild und kein Traum war. Hier stand tatsächlich ein Engel vor ihnen – mitten in Ferrug. Ohne zu überlegen zog sie ihr Schwert und hastete die Treppe hinunter, während der Bebilith sich nun seinerseits auf den Deva stürzte. Auch Lereia spürte offenbar aufgrund ihres guten Herzens den überwältigenden Drang, dem himmlischen Wesen zu Hilfe zu eilen. Sie wollte sich offenbar von Sgillin losreißen und an die Seite des Engels eilen. Doch der Halbelf fasste sie stattdessen fester, gab sich alle Mühe, seine Gefährtin von dem Kampf zwischen Deva und Scheusal fernzuhalten. Und dieser Kampf war nun voll entbrannt: Der Engel hatte ein silbrig glänzendes Schwert gezogen und drang auf den Bebilith ein, während das gepanzerte Monstrum mit rasiermesserscharfen Klauen nach ihm schlug. Morânia war nun unten angelangt und legte die letzten Schritte bis zur Mitte des Raumes so schnell sie konnte zurück, um den Engel im Kampf zu unterstützen. Bedeutungslos war nun die erst kürzlich sorgsam verschleierte Aura, vergessen die Seele der Celestin in ihr, unwichtig jedes Risiko, das es bedeutete, hier in der Abyss eine gesegnete Waffe wie ihr Schwert Himmelsfeuer zu ziehen. Nur der Engel zählte, nur ihm zu helfen war von Bedeutung. Und Lereia fühlte offenbar denselben überwältigenden Drang. Wie im Wahn riss sie sich von Sgillin los, indem sie begann, ihren Körper zu verformen und ihre Tigergestalt anzunehmen … Naghûl ging es nicht anders, denn ohne zu zögern sprach er eine Beschwörung und schickte einen Hagel magischer Geschosse zu dem Bebilithen hinüber. Im selben Moment, als Morânia das Scheusal erreicht hatte und mit dem Schwert auf es eindrang, konnte Sgillin Lereia nicht mehr halten. Ihre Kleider lagen in Fetzen am Boden und statt der zierlichen Frau sprang eine starke, weiße Tigerin auf den Bebilithen zu. Es war das erste Mal, dass Morânia Lereia in ihrer verwandelten Form sah, und sie wünschte, sie hätte den beeindruckenden Anblick in einem weniger dramatischen Moment erleben können. So blieb ihr nur, ihrer neuen Freundin kurz zuzunicken, während sie versuchte, den Bebilithen von dem Engel abzuhalten. Auch Kiyoshi war nun an ihrer Seite, um sie zu unterstützen und Sgillin hatte einen Pfeil auf die Sehne gelegt. Doch das Scheusal war stark und ungewöhnlich aggressiv, ließ sich weder durch Waffen und Pfeile, noch durch Krallen und magische Geschosse von seiner Beute, dem Deva, abbringen. Schließlich bekam es den Engel zu fassen und schlug seine Kiefer in ihn. Er schrie vor Schmerz auf und sackte zusammen. Lereia brüllte wuterfüllt und es gelang ihr, dem Bebilithen mit einem kräftigen Satz auf den Rücken zu springen. Sie versuchte, mit ihren Krallen und Zähnen den Chitinpanzer zu durchdringen, doch ohne Wirkung. Auch Kiyoshis Yari richtete nicht allzu viel aus, doch Naghûls magische Geschosse hatten das Biest offenbar geschwächt und ein Treffer von Morânias geweihter Waffe, die sich in eines seiner Beingelenke bohrte, ließ das Monstrum wütend aufzischen. Ohne zu zögern und ohne zurückzuweichen drang Morânia weiter auf das Scheusal ein, besessen nur von dem einen brennenden Gedanken, dem Engel zu helfen. Ein weiterer Geschosshagel aus Naghûls Richtung zischte durch die Luft, und die leuchtenden Kugeln schlugen im Rückenpanzer des Bebilithen ein. Dann fanden Lereias Zähne offenbar ein Ziel, denn es knackte an der Stelle, an der sie sich in den Nacken des Monstrums verbissen hatte. Es bäumte sich auf und mit einem kraftvollen Schütteln warf es die Tigerin ab. Doch diesen Moment nutzten Morânia, Kiyoshi und auch Sgillin. Während der junge Soldat die Spitze seines Yari zwischen die Panzerplatten an Kopf und Rumpf trieb, fand einer von Sgillins Pfeilen seinen Weg in eines der vorderen Beingelenke. Morânia fand nun endlich eine Lücke, um einen Schwertstoß gegen den weicheren, weniger geschützten Unterleib des Monstrums zu führen. Angesichts dieser Attacken ließ der Bebilith tatsächlich den Deva aus seinen Klauen gleiten. Schwer angeschlagen zog er sich in Richtung Tür zurück, kletterte durch die zerstörte Mauer und entschwand. Niemand machte Anstalten, ihn aufzuhalten oder ihm gar zu folgen, zu erleichtert waren alle Anwesenden, dass das grauenhafte Monster sich zurück zog. Der Engel lag an der Stelle auf dem Boden, wo der Bebilith ihn hatte fallen lassen.

„Er … gehört … mir“, flüsterte er matt.

Morânia eilte an seine Seite und sah sich dabei wachsam um. Alle Dämonen und Söldner starrten sie und ihre Gefährten an … viele angstvoll, doch einige auch feindselig und angriffslustig. Es würde nicht lange dauern, bis sie sich aus ihrer Schockstarre lösten … Rasch scheidete die Bal'aasi ihr Schwert und beugte sich zu dem Deva hinunter. Aus saphirblauen Augen blickte er sie an.

„Helft mir …“ Seine Stimme brach.

Auch Sgillin wurde der Boden offenbar zu heiß. „Raus hier, aber schnell“, raunte er den anderen leise zu.

Morânia fasste den Engel unter einem Arm, um ihn zu sich hochzuziehen und ihn zu tragen.

„Wie?“, fragte sie eindringlich, in der verzweifelten Hoffnung, dass er sich vor seinem selbstmörderischen Auftritt mitten in der Hölle zumindest einen Fluchtplan zurecht gelegt hatte.

„Die Küche …“, erwiderte er, kaum noch vernehmbar. „Portal …“

Sofort wandte sich Naghûl zu dem nahestehenden Halbork der Blutkriegssöldner-Truppe. „Du! Sag mir, wo die Küche ist! Sofort!“

Sein bestimmender, aggressiver Tonfall überrumpelte den Kerl offenbar zusätzlich zu der ohnehin schon skurrilen Situation genügend, so dass er stotternd Auskunft gab.

„Äh … öhm … da hinten.“ Er deutete auf eine Tür hinter der Bar.

„Wenn das nicht stimmt, werd ich dich mit einhundert Flammenpfeilen an die Wand nageln!“, zischte Naghûl ihm noch zu, ehe er dann eilig den Weg zu besagter Tür einschlug und zwei der hirnlosen Manes aus dem Weg trat, die dort herum torkelten.

Lereia folgte ihm mit einem leisen Knurren, während Kiyoshi den anderen Arm des Devas nahm und ihn gemeinsam mit Morânia Richtung Küche schleifte. Sgillin deckte mit einem Pfeil auf der Sehne den Rückzug. Naghûl griff nach der Klinke, öffnete die Tür und ging hindurch, Lereia dicht hinter ihm. Doch als Morânia und Kiyoshi mit dem Engel in den Durchgang traten, erfüllte plötzlich ein goldenes Licht den Türrahmen. Irgendetwas, das der Deva bei sich trug, musste ein Schlüssel gewesen sein. Ehe die Bal'aasi es sich versah, waren sie auch schon hindurch … Morânia und Kiyoshi mit dem Deva, der dicht hinter ihnen gehende Sgillin sowie Naghûl und Lereia, die bemerkt hatten, was hinter ihnen vorging und noch von der anderen Seite aus durch das Portal gestürzt waren.

 

der Deva

Wo auch immer sie gelandet sein mochten, es war nass. Das spürte Morânia, noch ehe sie etwas sehen und sich in der neuen Umgebung orientieren konnte. Instinktiv zog sie den Engel, dessen Arm sie noch immer fest umfasst hielt, zu sich hoch, spürte aber rasch, dass sie mühelos Boden unter den Füßen fand. Sie konnte stehen, und das Wasser reichte ihr nur bis zur Brust. Der andere Ausgang des Portals war offensichtlich ein größeres Wasserbecken, in dem sie sich nun gemeinsam mit ihren Freunden und dem bewusstlosen Engel wiederfand. Der Deva hatte durch das Gift des Bebilithen endgültig das Bewusstsein verloren und hing schlaff zwischen ihr und Kiyoshi. Rasch ließ Morânia ihren Blick durch den Raum schweifen … Wände aus weißem Marmor, schlanke Säulen, die das Becken einrahmten, weiter vorne im Raum eine rot gepolsterte Liege zwischen zwei Honigpalmen … natürlich, und unter der Decke entlang verlief ein Zierfries von Halbmonden und Sonnen.

„Wir sind im Großen Gymnasium“, stellte Morânia fest. „Und zwar im luxuriösesten Baderaum …“

Diese Mitteilung beruhigte ihre Gefährten deutlich, und auch sie selber gestattete es sich, nun endlich tief durchzuatmen. Dass sie nicht nur direkt in Ferrug ein Portal aus der Abyss heraus gefunden hatten, sondern dass dieses sie auch noch direkt in ihr eigenes Bundhauptquartier geführt hatte, das war mehr als unwahrscheinlich gewesen und daher eine umso willkommenere Erleichterung. Es musste sich um ein Einweg-Portal von Seiten der Hölle aus handeln, denn ganz gewiss hätten die Kryptisten keinen ihrer Baderäume dort errichtet, wo bekanntermaßen ein Tor in die Abyss war. Aber dass es ein Portal von Ferrug aus hierher gab, das war dennoch beunruhigend. Morânia hoffte sehr, dass der Schlüssel selten und von Scheusalen fast unmöglich zu bekommen war. Dennoch würde dieser Baderaum womöglich umziehen müssen … Nacheinander kletterten sie nun tropfnass aus dem Wasserbecken und legten den Engel vorsichtig auf dem gepolsterten Diwan ab. Der Deva lebte zwar noch, lag aber in tiefer Bewusstlosigkeit. Besorgt beugte Morânia sich zu ihm hinab.

„Seltsam …“, murmelte sie. „Ein Deva … Das Gift dürfte ihn nicht derart mitnehmen. Nicht so.“

„Na ja …“, wandte Sgillin ein. „Du hast dieses Vieh doch gesehen.“

Morânia nickte. „Ja, ich weiß. Dennoch, ein Deva hat sehr starke Widerstandskräfte, gerade gegen diese Art von Giften. Ich weiß nicht …“

Lereia, noch immer in Tigergestalt, trat mit tropfendem Fell an den Diwan heran und musterte den Engel mit ihren türkisen Augen. „Was wollte er nur dort in der Abyss?“, wunderte sie sich.

„Eine sehr gute Frage“, erklang eine warme, samtige Stimme vom Eingang des Baderaums her.

Sie blickten auf – die anderen etwas erschrockener und überraschter als Morânia, die die Stimme sogleich erkannt hatte.

„Bundmeisterin Rhys.“ Naghûl verneigte sich. „Woher wusstet Ihr … nein, ich frage besser gar nicht erst.“

Rhys schmunzelte kurz, wurde dann aber wieder ernster und trat näher an den Deva heran, wobei ihre Hufe leise auf dem Marmorboden klapperten. „Hm …“ Sie ließ sich auf dem Rand des Diwans nieder, musterte den Engel eingehend und legte dann ganz sacht ihre Hand auf die seine. „Er ist bei uns, aber wer weiß, für wie lange noch?“

Morânia spürte, wie ihr das Herz sank. Ihre Bundmeisterin sagte Derartiges niemals ohne guten Grund, das wusste sie.

„Was sollen wir tun?“, fragte sie besorgt.

Rhys hob sacht eine Hand, mit der anderen strich sie dem Deva ganz zart von der Stirn bis zum Kinn. Seine Lider flatterten, dann öffneten sich seine Augen. Sie zog ihre Hand wieder zurück. „Ihr seid in Sicherheit“, sagte sie beruhigend.

Der Engel sah die Tieflingsfrau matt an, dann wanderten seine Augen umher und erblickten die Erwählten. „Danke …“, flüsterte er. „Ihr habt mir sehr geholfen. Doch ich fürchte, ich muss Eure Hilfe erneut erbitten.“

„Sprecht“, forderte Rhys ihn sanft auf.

Er versuchte, sich auf die Ellbogen aufzurichten, doch es fiel ihm sichtlich schwer. „Mein Name ist Ybdiel“, erklärte er mit rauer Stimme. „Meine Göttin schickte mich auf eine Mission. Ich sollte die Pläne eines mächtigen Dämonenprinzen aufdecken … Graz'zt … Leider führte die einzige Spur, die ich fand, in die Abyss. Ich wollte niemand anderen gefährden, daher beschloss ich, selber zu gehen. Dazu musste ich mich natürlich verbergen, verkleiden, verstecken … Doch selbst die beste Illusion und eine sorgsam verschleierte Aura können entdeckt und durchschaut werden, wenn ein anderer mächtiger ist. Meine einzige Wahl war, aufzugeben, was mir geschenkt wurde. So gab ich meinen Funken freiwillig auf.“

Erschrocken blickte Morânia den Deva bei diesen ungeheuerlichen Worten an. Aufgegeben? Er hatte das, was ihn zum Engel machte, fort gegeben?

„Den göttlichen Funken?“, fragte Lereia etwas zögerlich.

„Ja …“ Ybdiel seufzte tief. „Ich gab ihn einem guten Menschen. Er sollte ihn bewahren, bis ich meine Mission beendet hatte. Ich fand heraus, was ich suchte. Alles, ich war erfolgreich … Doch dann kam der Bebilith. Der Mann, den er tötete … er hatte meinen Funken. Ich weiß nicht, wie er in die Abyss geraten war.“ Die Stimme des Engels wurde schwächer. „Es muss ihm Schreckliches widerfahren sein. Als er starb … nahm das Monster meinen Funken in sich auf. Er konnte nicht zu mir zurückkehren. Ohne den Funken werden meine Kräfte schwinden … Ich werde aufhören, ein Engel zu sein.“

Sgillin hob vielsagend die Brauen. „Ich nehme an, wir sollen Euren Funken zurückholen, oder?“

Matt schüttelte Ybdiel den Kopf. „Wichtiger noch ist, was ich in der Abyss erfuhr. Bitte bringt mich ins Elysium. Ich muss meiner Göttin berichten …“

„Sie werden Euch dorthin bringen“, versicherte Rhys mit der ihr eigenen Ruhe. „Seid unbesorgt.“

Der Deva wollte noch etwas erwidern, doch ehe er antworten konnte, wurde er wieder bewusstlos.

Sgillin seufzte. „Da sollten wir uns wohl beeilen, ehe er hier komplett den Löffel abgibt.“

Mit einem tadelnden Kopfschütteln legte Rhys ihren Finger an die Lippen. „Schsch.“

Als der Halbelf ihr einen fragenden Blick zuwarf, fuhr sie ihm mit dem Zeigefinger sacht über die Stirn. „Wenn Handeln und Denken eines sind, ist das die eine Sache. Aber Sprechen ohne Denken nutzt keinem.“ Sie deutete auf Ybdiel. „Er hört Euch trotz allem. Wählt Eure Worte mit Bedacht, ebenso wie jede Eurer Handlungen.“

Morânia musste schmunzeln. Sie kannte die spezielle Art und Weise ihrer oft undurchschaubaren Bundmeisterin. Doch selbst Naghûl war davon noch manchmal verwirrt, und den anderen Erwählten mochte es daher nicht besser ergehen. Da Kiyoshi seine gewohnte ausdruckslose Miene aufgesetzt hatte und Lereia in Tigerform war, sah man Sgillin seine Verwunderung jedoch am deutlichsten an. Er räusperte sich.

„Ihr mögt mir meine Ausdrucksweise verzeihen“, sagte er. „Aber habe ich den Kern der Sache nicht getroffen, werte Bundmeisterin?“

„Es geht nicht nur um das Tun, auch um das Wie“, erwiderte Rhys unnachgiebig. „Und um Mäßigung.“

Sgillin sah sie etwas verwirrt an und schüttelte leicht den Kopf, entgegnete jedoch nichts mehr.

Naghûl hingegen musterte nachdenklich den Deva. „Aber welcher Göttin mag er wohl dienen?“

Rhys blickte wieder zu Ybdiel, beugte sich ein wenig herab und schien etwas zu suchen, ohne dabei den Engel zu berühren – dann schob sie ohne zu Zögern seinen linken Ärmel zurück. Auf der hellen Haut befand sich, ähnlich einer Tätowierung, ein hellblaues Symbol: eine liegende Unendlichkeitsschleife in einem Kreis.

„Mishakal“, stellte Morânia fest.

Rhys nickte sacht, während sie den Ärmel wieder zurück schob.

„Gibt es einen Weg in ihr Reich?“ fragte Lereia, fast schüchtern.

„Gewiss“, erwiderte die Bundmeisterin ruhig.

„Wenn den jemand kennt, dann Bundmeister Terrance“, stellte Naghûl mit einem Grinsen fest.

Morânia musste trotz der ernsten Situation ein wenig lachen. Die Gelegenheit war zu gut gewesen, als dass ihr Mann sie hätte vorüberziehen lassen können. Auch Rhys schmunzelte.

„Naghûl, Naghûl …“

Gespielt unschuldig hob er die Schultern, während Sgillin sich auf den Rand des Beckens setzte und seine Pfeife auspackte. Als er sie gestopft und angezündet hatte, trat Rhys neben ihn, nahm ihm mit einer einzigen, fließenden Bewegung die Pfeife aus der Hand, drückte sie ohne mit der Wimper zu zucken mit einem Finger aus und steckte sie ihm in die Gürteltasche zurück. Dann drehte sie sich wieder zu dem Deva, all das, als wäre es eine einzige Handlung gewesen.

„Bringt ihn in das Reich seiner Göttin“, wies sie die Erwählten an, als wäre die Sache mit der Pfeife gar nicht passiert. „Wir haben ein Portal hier im Gymnasium, das ihr nutzen könnt.“

Sgillin sah Rhys mit einem bedeutsamen Blick an, biss sich aber auf die Lippen und sagte nichts. Morânia hatte die Pfeifengeschichte lächelnd beobachtet und neigte nun den Kopf zu Rhys Worten. „Sicher, Bundmeisterin. Das werden wir.“

 

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gespielt am 15. Juni 2012

Janas Spieler war an diesem Abend nicht da, daher stolperte die Hexenmeisterin nicht mit den anderen aus Versehen durch das falsche Portal.

 

 

 

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