Ich denke, diesen werden wir wiedersehen.“

Bundmeister Terrance, über einen jungen Priester von Yen-Wang-Yeh

 


 

Zweiter Gildenttag von Savorus, 126 HR

Manchmal, wenn die Tage in Sigil besonders trüb und regnerisch waren, fragte Terrance sich, warum er das Paradies verlassen hatte. Warum er die freundlichen Tage und lauen Nächte, die weißen Strände und blühenden Haine des Elysium eingetauscht hatte gegen den schmutzigen Regen und die Intrigen des Käfigs. Natürlich kannte er die Antwort. Es war nicht die Tatsache gewesen, dass er sich von seiner Göttin Mishakal abgewandt hatte. Er hätte ohne Weiteres in seiner Heimat bleiben können, auch ohne eine Gottheit zu verehren. Aber den Athar beizutreten und seine neue Macht im Glauben an das Große Unbekannte zu finden – dies hätte er im Elysium nicht erreicht. Zumindest nicht in der Art, die er angestrebt hatte. So war es fast unausweichlich gewesen, dass sein Weg ihn nach Sigil geführt hatte, vor die Tore des Zerschmetterten Tempels. Hier hatte er begriffen, dass seine klerikalen Kräfte ihm nicht unwiederbringlich verloren waren. Und hier war er als Priester mächtiger geworden als je zuvor. Ohne jede Gottheit. Nur durch den Glauben an seine eigene Stärke und die Gewissheit, dass das Große Unbekannte eine Machtquelle war, die er durch diese Kraft kanalisieren konnte. Hier hatte er neue Freunde gefunden, war Bundmeister geworden und hatte somit die Chance, die Athar auf friedlichere, besonnenere Wege zu lenken. Und doch gab es Tage, kühle, verregnete und neblige Tage, an denen er sich in das Elysium zurück wünschte. An solchen Tagen suchte er besonders gerne sein eigenes, kleines Paradies auf, das er sich innerhalb der Mauern des Zerschmetterten Tempels geschaffen hatte. Es war ein Garten, den er bereits zu seiner Zeit als Faktotum des Bundes angelegt und seitdem sorgsam gepflegt und erweitert hatte. Er befand sich in den Ruinen des Gefallenen Turmes, dem der Zorn der Dame einst das komplette Dach entrissen hatte. In diesem damals überwiegend ungenutzten Teil des Tempels hatte Terrance vor fast dreißig Jahren einen kleinen Kräutergarten mit einigen wenigen Beeten angelegt. In seiner Zeit im Conclave Fidelis hatte er viel über Heilpflanzen gelernt, ebenso wie über die Herstellung von Heiltränken, Gegengiften und Medizin gegen verschiedene Krankheiten. Zu einer Zeit, in der er seine klerikalen Kräfte noch nicht wieder erlangt hatte, in der er sich lediglich auf Nadel und Faden, Verbände und Skalpell und verschiedene Elixiere hatte stützen können, war ein solcher Garten für ihn eine willkommene Möglichkeit gewesen, dennoch zu heilen. Somit war es damals vorrangig eine pragmatische Erwägung gewesen, noch keine Zuflucht, wenn ihn das Heimweh gepackt hatte. Und das hatte es in seinen Anfangsjahren in Sigil oft. Er hatte das Elysium schmerzlich vermisst. Obgleich er sich mit den Jahren mehr und mehr an den Käfig gewöhnt hatte, so gab es auch jetzt noch Tage, an denen er eine gewisse Wehmut bei dem Gedanken an seine alte Heimat verspürte. Dann kam er besonders gerne hierher, und der Garten war inzwischen weit mehr als die paar Kräuterbeete der Anfangstage. Blumen, Sträucher und Stauden der verschiedensten Ebenen wuchsen mittlerweile hier, selbst Bäume, die innerhalb der letzten zwanzig bis dreißig Jahre eine teils ansehnliche Größe erreicht hatten. Mit viel Geduld und Ausdauer, mit Hilfe einiger Druiden seines Bundes und einer Pflanzen-Genasi war es Terrance gelungen, mitten im Unteren Bezirk einen blühenden Garten zu schaffen. Wie viele der Gärten und Parkanlagen anderer Bundhauptquartiere war er vor dem oft vernichtenden Wetter Sigils geschützt durch eine magische Kuppel, die Licht einließ, jedoch Stürme, schwefelhaltigen Regen oder Hagelkörner abhalten konnte - Wetterlagen, die Sigil häufiger zu bieten hatte. Nur bei sachtem, unverdorbenem Regen deaktivierte Terrance die Kristalle, die das magische Feld erzeugten, damit der Garten bewässert werden konnte. Die angenehme Wärme, die dabei entwich, stellte er danach durch ein Gebet an das Große Unbekannte rasch wieder her. So herrschte in seinem Garten ewiger Frühling, standen die Blumen stets in Blüte, konnten die Bäume und Sträucher stets Früchte tragen. Jede Pflanze hier hatte er sorgfältig ausgewählt und selbst gepflanzt, weil sie einen ganz speziellen Nutzen hatte: Kräuter für Heiltränke, Blüten, die als Tee aufgebrüht Krankheiten linderten, Knollen, aus denen er Extrakte zur Wundreinigung gewann, Beeren, aus denen man Gegengifte destillieren konnte, Wurzeln für schmerzlindernde Salben … Trotz aller Macht, die das Große Unbekannte ihm zufließen ließ, hatte er nie aufgehört, diese Schätze der Natur zu nutzen. Viele der Samen hatte Ambar ihm von der einen oder anderen Reise mitgebracht, die der Barde auch als Bundmeister noch immer unternahm, wenn der Käfig ihn zu sehr beengte. Der freiheitsliebende Halbelf suchte sich dann ein geeignetes Portal und durchstreifte für ein paar Tage die Reiche der Außenländer oder die Oberen Ebenen. Manchmal brachte er ihm mit, was er zufällig fand, manchmal fragte Terrance ihn auch nach ganz bestimmten Samen oder Setzlingen – und Ambar richtete seine Reiseziele dann durchaus nach seinen Wünschen aus. Ein Freundschaftsdienst, den der Hohepriester zu schätzen wusste. Die Salben und Tränke, die Terrance aus all den Pflanzen in seinem Garten herstellte, verteilte er unter die Mitglieder seines Bundes und an Bedürftige im Stock und Unteren Bezirk. Doch der Garten selbst war sein eigenes Reich, zu dem er nicht vielen Personen Zutritt gewährte. Dazu zählten seine Stellvertreter Jaya und Hobard sowie sein Sekretär Askorion und der Waldläufer Caylean. Außerhalb des Bundes hatten nur Ambar und Elyria dieses Privileg. Der Halbelf als sein bester Freund seit seiner Zeit in Sigil und Elyria als seine engste Vertraute aus seinen Zeiten im Conclave Fidelis. Die Lupinal war nach wie vor eine Priesterin der Mishakal, doch sie hatte nie mit ihm gebrochen, hatte ihrer beider Freundschaft über Religion, Philosophie und Weltanschauung gestellt. Hin und wieder besuchte sie ihn in Sigil, und Cebulon, der neue Patriarch des Klosters, tolerierte es. An diesem Tag jedoch erwartete Terrance weder Ambar noch Elyria, sondern Jaya in seinem kleinen Paradies. Er war gerade dabei, das Unkraut in einem der Beete zu jäten, als sie leise den Garten betrat und ihn mit einer leichten Verneigung begrüßte. Er winkte ab, während er sich erhob und die Erde von den Händen schüttelte. Auf derlei Förmlichkeiten legte er in diesem Rahmen keinen Wert. Jaya wusste das natürlich, daher trat sie nun auch beschwingt und zwanglos näher, offenbar gut gelaunt.

„Der Segen der Dame, Bundmeister“, grüßte sie ihn mit einem warmen Lächeln. „Hobard meinte, Ihr wolltet mich sprechen?“

Terrance nickte und bedeutete ihr, neben ihm auf einer der Bänke Platz zu nehmen. Sie setzte sich und ließ ihren Blick durch den Garten schweifen, schloss dann die Augen und atmete einmal tief ein.

„Die Gerüche hier erinnern mich immer an meine Kindheit“, meinte sie lächelnd.

Jaya war früher eine Klerikerin des Silvanus in Faunel gewesen, durch ihre Mutter in die Kirche des Waldvaters eingeführt. Schon früh war es zu gewissen Differenzen mit der neutral ausgerichteten Kirche gekommen, da Jayas immer mehr zum Guten tendierende Gesinnung mit deren Einstellungen nicht immer harmoniert hatte. Sie hatte ihren Glauben verloren, als es ihr nicht gelungen war, einen sterbenden Freund zu retten, weil die göttliche Kraft sie nicht durchströmt hatte - im Beisein einiger Athar. Der Schicksalsschlag hatte Jaya so schwer getroffen, dass eine gewisse geistige Umnachtung bei ihr eingesetzt hatte. Die Athar hatten sie mit nach Sigil genommen und ins Torhaus gebracht. Als Terrance davon erfahren hatte, hatte er Jaya regelmäßig dort besucht und die junge Frau hatte genug Vertrauen zu ihm gefasst, um ihren verwirrten Zustand zu überwinden. Kurze Zeit später war sie den Athar beigetreten und Klerikerin des Großen Unbekannten geworden. Sie war rasch in den Rängen des Bundes aufgestiegen und nun zusammen mit dem Githzerai-Magier Hobard die rechte Hand des Bundmeisters. Terrance wollte gerade ansetzen, als Jayas Blick auf die nahebei wachsenden Erdbeeren fiel.

„Oh, sie sind schon reif“, stellte sie begeistert fest. „Darf ich?“

Er schmunzelte. In Situationen wie diesen war sie weder ranghohe Faktorin noch machtvolle Klerikerin, sondern noch immer das Mädchen aus Faunel. Das Mädchen, das ihm wie eine Tochter geworden war.

„Nur zu“, erwiderte er freundlich. „Aber bitte nicht alle. Die Familie, bei der Caylean wohnt, wollte diese Woche Marmelade machen und ich habe ihm daher einige Beeren versprochen.“

Sie erhob sich wieder und lachte, während sie sich ein paar der reifen Erdbeeren pflückte. „So lange ich wieder ein Glas bekomme, darf Caylean sie ihnen gerne alle bringen. Bis auf diese Handvoll hier.“

Als er sie beobachtete, wie sie wieder neben ihm Platz nahm und die roten Früchte zu naschen begann, wurde ihm einmal mehr bewusst, wie sehr sie ihm ans Herz gewachsen war. Ihr Vater, ein Waldläufer, hatte die Familie verlassen, als Jaya erst wenige Jahre alt gewesen war. Dies hatte ihre gesamte Kindheit und Jugend geprägt, und sie hatte sehr unter dieser Lücke in ihrem Leben gelitten. Terrance war nur allzu bewusst, dass sie in ihm schließlich jemanden gefunden hatte, der diesen Platz wieder einnehmen konnte und eine Vaterfigur für sie geworden war. Er selber hatte sich bereits damit abgefunden gehabt, keine Kinder zu haben. Doch als er Jaya getroffen und eine tiefe und vertrauensvolle Bindung zu ihr aufgebaut hatte, da war er freudig überrascht und auch sehr dankbar gewesen zu erkennen, dass Familie viele Gesichter haben konnte. Als sie die letzten Beeren gegessen hatte, wusch sie sich die klebrigen Hände in einem der kleinen Teiche und nahm dann wieder neben ihm Platz.

„Also, worum geht es, Bundmeister?“ Sie runzelte sofort die Stirn ob seines Blickes. Oh, sie kannte ihn zu gut. „Es ist etwas Unangenehmes, hm?“

Er wiegte mit einem leichten Seufzen den Kopf. „Gewissermaßen, ja. Es geht um Tovus Giljaf.“

Jayas Blick verfinsterte sich. „Stellt er Euch etwa nach? Plant er etwas?“

„Da bin ich noch nicht ganz sicher“, erwiderte Terrance sachlich. „Aber ich habe einen seiner Vertrauten von damals kürzlich in der Nähe des Tempels gesehen.“

„Einen von denen, die damals mit ihm zusammen verbannt wurden?“

Terrance nickte. Es lag ihm fern, sich einschüchtern zu lassen oder gar unnötige Panik zu schüren, doch nahm er diese Sache durchaus ernst. Der Githzerai Tovus Giljaf war vor ihm Bundmeister der Athar und eindeutig dem radikalen Flügel der Verlorenen zuzurechnen gewesen. Giljaf hatte gewaltsame Aktionen wie die Zerstörung von Tempeln oder tätliche Übergriffe auf Paladine und Kleriker begünstigt. Einige Todesfälle hatten zu heftigen Zusammenstößen mit dem Harmonium geführt und Terrance, damals Faktor, hatte bei einer Versammlung aller Athar-Faktoren Tovus Giljaf als Bundmeister abgesetzt. Der Githzerai hatte ihm bittere Rache geschworen und versichert, er würde zurückkehren, ehe er Sigil verließ. Derzeit war Giljaf Bürgermeister von Verdammnis, der Torstadt nach Carceri, was Terrance nur darin bestätigte, dass es richtig gewesen war, ihn loszuwerden. Doch leider bedeutete dies auch, dass Giljaf nach wie vor über eine gewisse Macht verfügte, und über die Mittel, seinen Rachegelüsten womöglich entsprechenden Nachdruck zu verleihen. In den vergangenen zwanzig Jahren hatte er – zwar nicht ununterbrochen, aber doch mehr als einmal – versucht, Terrances Bundmeisterschaft vorzeitig zu beenden. Wenn also einer seiner Vertrauten von damals sich im Käfig blicken ließ, so war zumindest ein gesundes Maß an Vorsicht angebracht. Auch Jaya schien dies so zu sehen, denn sie nickte ernst.

„Das gefällt mir nicht, Terrance. Ganz und gar nicht. Was soll ich tun?“

„Auf dich aufpassen, Jaya“, bat er sie und fasste dabei kurz ihre Hand. „Giljaf weiß mit Sicherheit, dass du mir nahestehst. Also könntest auch du ein Ziel für ihn sein.“

„Vielleicht“, erwiderte sie. „Aber ich mache mir mehr Sorgen um Euch, um ehrlich zu sein. Soll ich Askorion und Caylean losschicken, damit sie versuchen, diesen Mann zu finden?“

„Ich habe Askorion schon Bescheid gegeben“, erwiderte Terrance. „Wenn der Mann noch in Sigil ist, findet er es bestimmt heraus.“

Jaya nickte und zögerte kurz. Sie ahnte offenbar, dass er nicht gerne hören würde, was sie als nächstes zu sagen hatte. Sie sprach es aber dennoch aus. „In der Zwischenzeit solltet Ihr vielleicht besser nicht mehr alleine unterwegs sein ...“

„Jaya“, entgegnete er geduldig. „Darüber haben wir doch schon mehrfach gesprochen. Ich kann mich nicht hier im Zerschmetterten Tempel verschanzen, nur weil es da draußen Leute gibt, die mir nachstellen. Giljaf ist einer der gefährlicheren, aber dennoch nur einer von ihnen. Wenn ich damit anfange, kann ich mich gleich hier wegsperren.“

„Ich weiß.“ Sie seufzte tief. „Und ich verstehe das, ich selber würde nicht anders handeln. Es ist nur … Ich mache mir einfach Sorgen.“

Sie sah ihn an, und in ihren grauen Augen erkannte er ihre Zuneigung und auch die Furcht, es könnte ihm tatsächlich etwas zustoßen. Die Furcht, erneut zurückgelassen zu werden. Beruhigend legte er ihr eine Hand auf den Unterarm.

„Ich weiß, Kind“, erwiderte er. „Bitte sorge dich nicht. Es braucht etwas mehr als einen verbitterten Ex-Bundmeister und Höllentor-Wächter, um mir etwas anzuhaben.“

Lächelnd drückte sie seine Hand. „Sonst wäret Ihr nicht seit zwanzig Jahren hier, um uns zu leiten.“

Sie gab sich wirklich Mühe, doch er erkannte wohl, dass der letzte Rest Sorge nicht ganz aus ihrem Blick gewichen war. Daher erhob er sich und drückte ihr eine kleine Schaufel und einen Beutel Samen in die Hand.

„Komm“, sagte er freundlich. „Du kannst mir helfen, die Glastau-Beeren zu pflanzen.“

Sie nahm beides entgegen, schüttelte aber scherzhaft tadelnd den Kopf. „Oh, ich weiß, dass Ihr mich nur ablenken wollt.“

„Du hast mich durchschaut“, erwiderte er schmunzelnd. „Und ich gebe zu, dass die Beeren dafür ein ungenügender Versuch sind. Allerdings haben wir zwei neue Bewohner hier im Garten, und ich dachte mir, du möchtest sie vielleicht sehen.“

Nun wurde sie tatsächlich neugierig. „Neue Bewohner? Tiere, meint Ihr? Was für Tiere?“

Terrance lächelte. Ja, in ihrem Herzen war Jaya nach wie vor ein Kind von Faunel. „Komm mit“, sagte er. „Wenn wir leise sind, sehen wir sie vielleicht.“

Eifrig und so leise wie möglich folgte sie ihm in eine der abgelegeneren Ecken des Gartens, und zumindest für den Moment schien sie Tovus Giljaf und die düstere Vergangenheit des Bundes tatsächlich vergessen zu haben. Gut so, dachte Terrance bei sich. Eines Tages würde diese Vergangenheit möglicherweise nach ihm greifen und Jaya würde es nicht verhindern können. Aber dieser Tag war nicht heute.

 

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basierend auf dem Rollenspiel mit Janas Spieler vom 20. Juni 2012

 

 

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