Die Materier haben eine ganze Ebene für sich.

Müssen sie sich unbedingt auch in unserer Stadt herumtreiben?“

Cirily, Sektenmeisterin der Planaristen

 


 

Erster Kuratorentag von Savorus, 126 HR

Amariel schloss die letzten Schnallen ihrer Rüstung, die sie angelegt hatte, weil ihr Dienst bald begann. In ihren Gedanken war sie noch einmal bei der Mission auf der Feuerebene. Sie war ein wenig aufgeregt, aber auch sehr stolz gewesen, dass ihr Bundmeister ihr das Kommando bei einer so wichtigen Aufgabe übertragen hatte, für die man auch durchaus einen Tribun oder sogar Präfekten hätte auswählen können. Sie hatte sich ihren eigenen Trupp zusammengestellt, für den sie auch ein paar frühere Kameraden von Arcadia hatte kommen lassen – alles Leute, mit denen sie lange gemeinsam gedient hatte, deren Fähigkeiten sie gut kannte und denen sie vertraute. Und die Mission war erfolgreich gewesen. Sie hatten die Gefangenen dort befreit, die Stabilisierungskristalle zerstört und alles so geplant, dass sie noch rechtzeitig durch das Portal zurück nach Sigil gelangt waren. Sarin hatte ihren Bericht mit deutlichem Wohlwollen zur Kenntnis genommen – und sie zur Dekuria zweiten Ranges befördert. Doch mehr als diese Auszeichnung hatte es ihr bedeutet, ihren Bundmeister nicht enttäuscht, sondern eine heikle Mission zu seiner vollsten Zufriedenheit durchgeführt zu haben. Seine Anerkennung war ihr extrem wichtig, und ihr war bewusst, dass dieser Wunsch über den normalen Diensteifer einer vorbildlichen Offizierin hinausging. Dass ihre Gefühle sowohl sinnlos als auch unangemessen waren, das war ihr ebenso klar. Doch sie hatte es sich nicht ausgesucht. Und sie hatte noch niemals irgendjemandem davon erzählt. Das war etwas, das sie mit sich selbst ausmachen musste. Wie, das wusste sie noch nicht. Im Moment gab sie sich einfach große Mühe, Sarin als seine Adjutantin nicht zu enttäuschen und freute sich darüber, ihm auf diese Weise zumindest sehr nahe sein zu können. Alles andere würde die Zeit schon regeln. Vielleicht. Hoffentlich. Sie wurde durch ein Klopfen an der Tür in ihren Gedanken unterbrochen. Als sie öffnete, stand dort Kiyoshi – und wahrscheinlich, so nahm sie an, hatte er wieder ein paar Fragen an sie. Das war in Ordnung, Sarin hatte sie ja beauftragt, dem jungen Materier zu helfen, sich besser in der Stadt der Türen einzuleben. Zudem mochte sie Kiyoshi, den sie während der letzten drei Monate trotz seiner oft verschlossenen Art ins Herz geschlossen hatte. So öffnete sie ihm die Tür ganz und bat ihn herein.

„Kiyoshi, ich grüße Euch“, sagte sie freundlich. „Ich beglückwünsche Euch zu Eurer abgeschlossenen Grundausbildung. Wie kann ich Euch helfen?“

Kiyoshi verneigte sich vor ihr, während er seine Hände vor der Brust gefaltet hielt „Konninchi'wa, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei. In der Tat habe ich die Grundausbildung erfolgreich abgeschlossen und kann zudem nun mit Stolz und Freude behaupten, dass der ehrwürdige Bundmeister Sarin-gensui nun mein einziger Herr und Fürst ist. Dies ist einer der Gründe, warum ich wieder hier bin. Ich weiß nahezu nichts über meinen neuen Herrn und möchte Euch darum bitten, meine Unwissenheit durch Eure erleuchtenden Worte zu vertreiben, auf dass ich genau wisse, wer mein neuer Herr und Fürst ist.“

Amariel musterte ihn erstaunt, ein wenig ungläubig und mit einem Anflug von Irritation. „Euer Herr und Fürst? Also, Kiyoshi, das ist ja ...“ Sie pfiff leise durch die Zähne. „Herr und Fürst, nicht schlecht, wirklich. Und ich dachte, meine Ergebenheit gegenüber unserem Bundmeister wäre ausgeprägt.“

Sie lachte etwas und bedeutete Kiyoshi, sich zu setzen. Er kam der Aufforderung nach und nahm am Tisch Platz, saß dann - wie immer - sehr aufrecht und etwas steif auf seinem Stuhl. Gleichzeitig konnte Amariel ihm nun eine gewisse Verwirrung anmerken.

„Verzeiht meine Unwissenheit“, sagte er, „aber ich verstehe nicht ganz. Was meintet Ihr damit, dass Ihr dachtet, Eure Ergebenheit sei groß? Der ehrwürdige Bundmeister hat mich ganz regulär von meinem vorherigen Herrn, dem ehrwürdigen Daimyo von Kamigawa, erworben und damit bin ich nun sein Diener und Eigentum. Ist das hier nicht üblich?“

Amariel verschluckte sich bei diesen Worten fast an dem Wasser, von dem sie gerade einen Schluck getrunken hatte. Sie hob ihre feinen, blonden Brauen und musterte Kiyoshi mit zweifelndem Gesichtsausdruck. „Nein, das ist weder hier in Sigil üblich noch im Harmonium“, erklärte sie stirnrunzelnd. „Denn das, was Ihr beschreibt, bezeichnen wir für gewöhnlich als Sklaverei. Es gibt zwar Sklaven in Sigil, doch ist dies eine Bestrafung, in der Regel für jene, die Schulden machen und diese nicht zurückzahlen können. Es ist auch zeitlich befristet, bis man seine Schulden abgearbeitet hat. Dann gibt es natürlich noch die Sklaven, die von außerhalb mitgebracht werden, meist - aber nicht ausschließlich - von Bewohnern der Unteren Ebenen oder Drow, Illithiden und so weiter. Das ist noch einmal etwas anderes, weil dies nicht direkt mit Sigil zu tun hat. Sprich, man darf Sklaven mit in die Stadt bringen, wenn man sie vorher legal nach den Gesetzen des eigenen Reiches erworben hat. Man darf sie aber hier weder weiterverkaufen noch anderweitig Sklavenhandel außerhalb der Sigiler Gesetzgebung betreiben. Und dann gibt es noch den Sonderfall Arborea, die einzige Obere Ebene, auf der ...“ Sie unterbrach sich. „Tut mir leid, das führt nun zu weit vom Thema weg. Also, zurück zu Eurer Frage: Nein, das ist nicht üblich. Ihr seid Soldat des Harmoniums. Sarin ist Euer Bundmeister, das bedeutet, Ihr seid ihm natürlich zum Gehorsam verpflichtet, in dienstlichen Fragen. Private Entscheidungen obliegen Euch selber, solange sie nicht mit Euren Pflichten im Widerspruch stehen. Aber Ihr seid weder Sarins Diener noch sein Eigentum, und ich möchte auch stark anzweifeln, dass er es so sieht. Das wäre gegen alles, woran er glaubt.“

Kiyoshi blickte sie aus großen Augen an. Als er antwortete, vermeinte sie tatsächlich zu bemerken, dass sein Tonfall ein wenig verletzt klang. „Aber ich bin doch kein Sklave. Ich bin sein Ashigaru. Es war eine große Ehre, als Hyakusho aufgenommen zu werden in die Armee des Daimyo. Ich habe seither meine Fähigkeiten in manchem Kampf bewiesen und wurde deshalb auch vom Daimyo in seinen Diensten behalten. Doch der ehrwürdige Bundmeister hat mich bei meinem ehemaligen Herrn ausgelöst, so dass keine Bande der Pflicht und Loyalität mehr bestehen und so bin ich der treue Diener meines neuen Herrn und Fürsten. Wenn er es befiehlt, werde ich mein Leben für ihn niederlegen, so wie es sich gebührt. Und deshalb würde ich gerne mehr über ihn wissen.“

Amariel hatte sich inzwischen an Kiyoshis steife, reservierte Art gewöhnt. Ihr war daher klar, dass es einem wahren Gefühlsausbruch gleichkommen musste, wenn man ihm seine Emotionen so deutlich ansehen konnte wie gerade in diesem Moment.

„Es tut mir leid, Kiyoshi“, sagte sie entschuldigend, „Ich wollte Euch nicht herabsetzen. Es ist nur ... Ihr sagtet, Ihr wäret sein Eigentum und das ... verbindet man hier für gewöhnlich mit Sklaverei. Aber ich habe Euch möglicherweise auch falsch verstanden, verzeiht bitte.“

Sie musterte ihn nochmals forschend, doch er schien sich schon wieder völlig unter Kontrolle zu haben und nickte nur sachlich.

„Und was meine Bemerkung angeht ...“ Sie lächelte nun wieder. „Ich bin unserem Bundmeister wirklich sehr zugetan. Ich bewundere ihn sehr und würde ihm nach Baator und in die Abyss folgen. Ich würde sterben für ihn, wirklich. Ich bin nur noch nie auf die Idee gekommen, ihn mein Herr und Fürst zu nennen. Das war etwas überraschend für mich und klingt ungewohnt. Andererseits ...“ Sie dachte kurz nach. „Wenn man bedenkt, dass jede Kultur andere Bräuche hat und eine andere Art, die Wirklichkeit in Worte zu fassen, so ist Eure Deutung der Dinge von der Wirklichkeit vielleicht gar nicht so weit entfernt. Möglicherweise ist Sarin tatsächlich so etwas wie unser Herr und Fürst, nur dass wir ihn eben Bundmeister nennen. Wahrscheinlich trifft das auf alle Bundmeister in Sigil irgendwie zu. Sie sind auf jeden Fall mächtiger als die meisten Fürsten der Ebenen. Ja, ich denke, Eure Deutung ist daher gar nicht so abwegig.“ Sie schenkte sich etwas Wasser nach. „Ihr wollt also genauer wissen, wer Sarin ist? Nun, wo fange ich da am besten an? Ihr wisst bereits, dass Sarin Materier ist und von Ortho stammt, aber seit über zwanzig Jahren in Sigil lebt. Er ist Paladin der Göttin Iomedae, das wisst Ihr sicher auch. Auch, dass er verheiratet ist? Wer seine Frau und seine Kinder sind?“

„Ich weiß von seinen Kindern, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei“, erwiderte Kiyoshi ernst. „Und da er Kinder hat und ein ehrwürdiger Mann ist, muss er auch eine Frau haben. Ich habe sie jedoch bisher nicht kennen gelernt.“

Amariel schmunzelte ein wenig ob seiner Bemerkung. „Der Name seiner Ehefrau ist Faith. Sie und Sarin sind seit fast zwanzig Jahren verheiratet. Er lernte sie kennen, kurz nachdem er Ortho verlassen hatte, und zwar auf Arcadia, in Iomedaes Reich. Faith ist Priesterin derselben Göttin, die auch Sarin verehrt, Hohepriesterin inzwischen. Sie ist die maßgebliche Autorität unseres Bundes in spirituellen Fragen. Eine sehr schöne Frau, klug und klerikal sehr machtvoll. Faith und Sarin haben neun gemeinsame Kinder. Die erstgeborene Tochter heißt Marinda, sie ist siebzehn Jahre alt, Mitglied des Harmoniums und wird bald ihre Prüfung zum Aufstieg in den Rang einer Triaria ablegen. Sirian ist der älteste Sohn. Er ist fünfzehn und auch kürzlich dem Harmonium beigetreten. Die drittälteste ist Sanya, dreizehn Jahre alt, und sie hat die wundervolle Gesangsstimme ihrer Mutter geerbt. Dann kommt in der Reihe Iridias, er ist ... meine Güte, ich muss nachdenken ... elf Jahre alt, glaube ich.“ Amariel lachte kurz. „Sarin und Faith haben zu viele Kinder, ich habe da manchmal Probleme, mir das Alter aller zu merken, obwohl ich des Öfteren mit ihnen zu tun habe. Danach kommen die achtjährige Harika und die sechsjährige Amarys. Der drittjüngste ist Beleno mit drei Jahren und dann sind da noch die Zwillinge, Daria und Felian. Sie sind etwa eineinhalb Jahre alt. Natürlich sind Sarin und auch Faith sehr beansprucht durch ihre jeweiligen Positionen und haben daher nicht die Möglichkeit, sich den ganzen Tag um ihre Kinder zu kümmern. Daher haben sie eine Amme, zwei Kindermädchen und zwei Hauslehrer. Die Kinder gehen zwar in eine der offiziellen Schulen des Harmoniums, aber Nachmittags haben sie zusätzlich private Lehrer, die ihnen bei ihren Aufgaben helfen. Ich glaube, dass es Sarin und Faith manchmal schmerzt, dass sie nicht mehr Zeit für ihre Kinder haben.“ Sie war sich dessen sogar sicher. Seit sie des Bundmeisters Adjutantin war, zeigte er sich ihr gegenüber offener und manchmal auf privater Ebene zugänglich. Er hatte erst kürzlich einmal erwähnt, dass er gerne mehr Zeit für seine Familie hätte. „Die Quartiere des Bundmeisters und seiner Familie liegen direkt hinter seinem Büro“, fuhr Amariel dann fort, „Sarins Kinder sind oft in der Kaserne unterwegs, wundert Euch also nicht, wenn Ihr eines oder mehrere von ihnen in den Gängen oder einer der Messen seht. Oft sind sie allerdings auch im Innenhof - die Jüngeren, um zu spielen und die Älteren, um ihre Kampffertigkeiten zu üben. Faith ist viel im Tempel der Iomedae, der im Tempeldistrikt steht, aber Ihr werdet sie auch hier in der Kaserne regelmäßig antreffen. Sarin hat es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden zweiten Leeretag des Monats mit seiner Familie zu verbringen. An diesen Tagen steht er dem Bund nur zur Verfügung, wenn es sich um etwas außerordentlich Dringliches handelt. Da er seine Kinder ansonsten nur morgens und abends sieht - und nicht einmal dann immer - sind ihm diese Tage sehr wichtig.“

Kiyoshi nickte. „Gehe ich also recht in der Annahme, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei, dass unser Herr und Fürst, der ehrwürdige Bundmeister, an solchen Tagen nicht gestört zu werden wünscht?“

„Ihr habt Recht“, erwiderte Amariel. „An diesen Tagen möchte er aller Möglichkeit nach nicht gestört werden. Nur in sehr wichtigen Ausnahmefällen sollte man das tun. Solltet Ihr Euch einmal unsicher sein, ob eine Sache so wichtig ist, könnt Ihr gerne mich oder Lady Diana dazu fragen. Nun gut, wenn wir aber gerade beim Thema Familie und Kinder sind, wäre dies vielleicht die passende Gelegenheit, Euch von Yaëlla zu erzählen. Oder wisst Ihr darüber schon Bescheid?“

Normalerweise war Kiyoshis Gesicht ja schon ausdruckslos, doch jetzt wurde es unbewegt wie ein Brett. Es schien so, als ob sämtliche Muskeln in seinem Antlitz eingefroren wären, als er antwortete: „Verzeiht meine Unwissenheit, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei, aber dieser Begriff sagt mir nichts.“

Die Halbelfe unterdrückte ein Schmunzeln bei Kiyoshis Reaktion. Was auch immer der junge Mann nun denken mochte, es war wahrscheinlich schwerwiegender als die eigentliche Geschichte.

Sie nickte. „Aufgrund der engen Beziehung, in der Ihr zu unserem Bundmeister steht, solltet Ihr dahingehend den ganzen Sachverhalt erfahren.“ Amariel lehnte sich zurück und schwieg kurz, ehe sie fortfuhr. „Ihr Name ist Yaëlla, aber hier in der Kaserne wird sie manchmal auch Sarins Tieflingstochter genannt. Er hört das nicht so gerne, obgleich es eigentlich eine recht treffende Umschreibung ist. Eigentlich - offiziell - ist Yaëlla Sarins Sklavin. Ja, ich weiß, wie das klingt, weil ich ja vorhin noch erwähnte, dass Sarin das ablehnt. Es ist eine längere Geschichte, wie es dazu kam.“

Sie erhob sich und holte eine Karaffe, nicht mit Wasser, sondern mit einer klaren, aber von vielen sprudelnden, bunten Bläschen durchsetzten Flüssigkeit. Dann schenkte sie Kiyoshi und sich ein Glas ein, ehe er es tun konnte.

„Der Beginn dieser Geschichte liegt etwa acht Jahre zurück", erklärte Amariel dann. „Damals war Sarin Präfekt unter Bundmeister Delazar. Yaëlla war acht Jahre alt und Sklavin eines Cambion-Fürsten, der als Günstling des Dämonenprinzen Graz'zt über einigen Einfluss in der Abyss verfügte. Der Cambion hatte geschäftlich hier in Sigil zu tun und brachte ein paar seiner Sklaven mit, darunter Yaëlla. Das Tieflingsmädchen nutzte den Aufenthalt in der Stadt, um zu fliehen. Doch leider wurde sie wieder eingefangen, und zwar von einem Dekurio unter Sarins Kommando. Seht Ihr, entlaufene Sklaven werden in der Abyss meist mit dem Tode bestraft, und ob es sich dabei um Kinder handelt oder nicht, das kümmert Dämonen wenig. Sarin konnte natürlich nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, dass ein Kind aufgrund der Pflichterfüllung eines seiner Offiziere den Tod finden sollte. Also tat er das einzig Mögliche, um das Kind zu retten: Er kaufte Yaëlla - außerhalb von Sigil, da mitgebrachte Sklaven hier in der Stadt ja nicht weiterverkauft werden dürfen. Da der Cambion ohnehin kein großes Interesse mehr an dem aufmüpfigen Kind hatte und die von Sarin angebotene Summe den Wert des Mädchens in der Abyss deutlich überstieg, willigte der Dämon ein. Sarin wollte Yaëlla danach freilassen, aber die Gesetze unserer Stadt lassen das nicht ohne Weiteres zu - um nicht dazu zu ermutigen, auf diesem Umweg im großen Stil Sklaven freizukaufen und nach Sigil zu bringen. Es muss eine Frist von mindestens zehn Jahren vergehen, ehe man einen außerhalb des Käfigs erworbenen Sklaven in Sigil freilassen darf. Ja, und so erklärt sich, warum Sarin eine Sklavin besitzt.“ Amariel nahm einen Schluck Glimmerwasser. „Offiziell ist sie das Kindermädchen für Sarins jüngere Kinder. Und inoffiziell ist sie seine Adoptivtochter. Er hat sie mit seinen eigenen Kindern gemeinsam aufwachsen lassen, sie hat dieselben Hauslehrer und ist bei allen familiären Unternehmungen dabei. In knapp zwei Jahren, wenn die Frist abgelaufen ist, wird er sie freilassen und adoptieren. Aber wie gesagt: Das ist inoffiziell und nicht einmal in unserem Bund ist das den einfachen Soldaten oder niedrigeren Offizieren so ausführlich bekannt - auch wenn es viele vermuten. Also lasst bitte nach außen hin nichts darüber verlauten, denn Sarin befolgt in dieser Angelegenheit das Gesetz wirklich nur sehr formell.“

Amariel lehnte sich zurück. Sie hatte dem Thema Yaëlla nichts hinzuzufügen, wartete aber ab, ob Kiyoshi Fragen dazu hatte. Der junge Mann schien diese Information erst einmal zu verarbeiten und blickte ernst auf den Tisch herab. Nach einer Pause, die Amariel relativ lange erschien, nickte der Kamigawaer schließlich und antwortete auf seine eigene, relativ emotionslose Art:

„Ich glaube, ich verstehe, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei. Damit würde Yaëlla den Rang seiner zweitgeborenen Tochter einnehmen. Verzeiht meine Unwissenheit, aber ist es hier in Sigil auch so, dass die Güter eines Mannes stets auf seinen erstgeborenen Sohn übergehen, oder sind die Töchter auch in der Erbfolge bedacht? Falls letzteres der Fall sein sollte, würde das nicht den ehrenwerten Sohn unseres Herrn und Fürsten, Sirian, weiter von seinem Erbe entfernen, wie auch die anderen Kinder?“

Amariel konnte ihre Überraschung ob dieser Frage nicht verbergen. „In Sigil macht das Geschlecht keinen Unterschied, was die Erbfolge angeht. Sowohl Söhne als auch Töchter sind erbberechtigt, und auch sonst genießen Frauen und Männer genau dieselben Rechte und Pflichten. So ist es seit Jahrtausenden und ich bin nicht sicher, ob es je anders war. Ich glaube eher nicht. Übrigens gibt es in den meisten Reichen der Äußeren und Inneren Ebenen solche Unterschiede nicht. Und Kulturen, die entweder die Frauen oder auch die Männer benachteiligen, werden bei uns als ...“ Sie zögerte kurz, sprach es dann aber aus. „... eher als rückständig betrachtet. Verzeiht. In Sigil steht aber übrigens nicht nur das erstgeborene Kind in der Erbfolge, es erben alle etwas. Gibt es Grundbesitz, wird dieser meist tatsächlich an ein Kind vererbt, aber nicht zwingend an das erstgeborene. Die anderen erhalten dann aber entsprechende Geldsummen. Ich wüsste jetzt auch gar nicht, was Sarin und Faith alles besitzen ... Ob Sarin auf Ortho noch etwas gehört? Hm, gute Frage, er hat es ja ziemlich jung verlassen. Auf Arcadia hat Faith einen gewissen Besitz, vermute ich. Ihr könnt allerdings darauf wetten, dass dieser Aspekt keine Rolle gespielt hatte, als Sarin Yaëlla zu sich nahm. Er ist Paladin, er konnte nicht anders handeln.“

Kiyoshi nickte knapp und schien nun keine weiteren Fragen oder Anmerkungen zu haben.

„Nun, über Sarins Familie habe ich wohl das Wesentliche erzählt“, fuhr Amariel daher fort. „Ich habe Euch einige Fakten über Bundmeister Sarin genannt, aber vielleicht sollte ich Euch auch etwas über seinen Charakter nahebringen, ohne mich dabei zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Zumindest habe ich Eure ursprüngliche Frage so verstanden. Es gibt eines, das Ihr in Bezug auf unseren Bundmeister niemals vergessen dürft: Sarin ist Paladin. Er dient einer rechtschaffen guten Göttin und ist somit auch selbst rechtschaffen gut. Und es gibt Situationen, in denen es zu einem Konflikt kommen kann zwischen dem, was rechtschaffen ist und dem, was gut ist. Alle guten Mitglieder unseres Bundes kennen diesen Konflikt, Paladine leiden oft besonders darunter. Wenn ich Euch eines über Sarin mit Sicherheit sagen kann, dann, dass er sich in solchen Situationen oft für das Gute entscheiden und es über das Rechtschaffene stellen wird. Das ist in Sigil nicht so publik, wie ich es jetzt sage. Und es ist Sarin auch Recht so, weil er damit nach außen hin härter und kompromissloser erscheint, weil andere sich weniger verleiten lassen, ihn über diese Schiene unter Druck zu setzen. Als Bundmeister des Harmoniums hat Sarin viel von einem General, das muss so sein. Aber in seinem Herzen ist er mehr Paladin und Ritter als militärischer Kommandant. Ihm missfällt das Böse im Allgemeinen, ganz besonders aber in unserem Bund. Und wenn er kann, räumt er es aus. Schon manche Bundmeister hatten diese Tendenz, aber wenige so stark wie Sarin. Noch tut er es dezent, weil er weiß, dass es sonst Komplikationen mit Ortho gibt. Aber ich weiß nicht, was die Zukunft bringen wird. Das ist etwas, das Ihr unbedingt wissen solltet, wenn Ihr unseren Bundmeister charakterlich einschätzen wollt.“

Mit einem leichten Nicken gab der junge Soldat zu verstehen, dass er ihre Worte verstanden hatte. „Ich werde mir Euren Rat zu Herzen nehmen, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei. Gibt es noch etwas, was Ihr mir sagen wollt?“

Sie lächelte. „Nun, Eure Frage war recht allgemein gehalten, daher könnte ich noch viel erzählen. Einiges müsst und werdet Ihr gewiss bald selbst herausfinden, anderes könnt Ihr mich gerne noch fragen, wenn Ihr merkt, dass Ihr Ratschläge braucht. Ein paar Dinge kann ich Euch noch kurz und knapp sagen, derer ich mir ganz sicher bin. Zum Beispiel, wer ihm persönlich sehr nahesteht: seine Frau Faith, seine neun Kinder, Yaëlla, seine beiden Schwestern auf Ortho, Killeen Caine, Tonat Shar, Lady Juliana. Welche Bundmeister er schätzt und respektiert: Lady Erin, Ambar Vergrove, Rhys, Hashkar, Mallin und Terrance - bei Terrance soll es aber niemand wissen. Welche Bundmeister er für gefährlich hält oder verabscheut: Skall, Pentar, Rowan Dunkelwald. Zu welchen er relativ neutral steht: Darius, Lhar und interessanterweise auch Karan. Welchen Organisationen er nahesteht oder vertraut: die Kirche von Iomedae, der Orden der Ebenenkrieger, die Archoniten. Welche Organisationen er besonders ablehnt oder ihnen misstraut: das Planare Handelskonsortium, der Tempel der Abyss, viele der Goldenen Lords von Sigil. Was unser Bundmeister mag: Arboreanischen Wein, die Gedichte von Gorallia Dasca, das Elysium, Temperaturen über 25 Grad und die Tharpuresische Architektur. Was Sarin nicht mag: Mephite, Unpünktlichkeit, die fetten, kleinen Schoßhunde der Sigiler Oberschicht, die Ysgardische Oper, Personen mit mangelhaften Tischmanieren und wenn man Türen nicht hinter sich schließt.“ Sie lächelte. „Ich weiß nicht, inwieweit dies Eure ursprüngliche Frage beantwortet. Aber es sind ein paar Dinge, die mir in Bezug auf Euren neuen Herrn und Fürsten, wie Ihr ihn nennt, noch erwähnenswert schienen.“

Kiyoshi verneigte sich kurz dankend, dann blickte er ihr in die Augen und senkte den Kopf, um nachzudenken. Schließlich stellte er eine Frage, die ihm wohl selbst unter den Nägeln brannte, die jedoch nichts mit dem Bundmeister zu tun hatte. „Es würde mich sehr erfreuen, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei, wenn Ihr mir sagen könntet, wie man hier in Sigil zu den sogenannten Drachenblütigen steht.“

„Zu den Drachenblütigen?“ Sie war kurz überrascht über den plötzlichen Themenwechsel. „Ähm, nun ja, nicht anders als zu den übrigen Einwohnern unserer Stadt. Es leben in Sigil so einige Drachenblütige, aber sie werden aufgrund ihres Erbes nicht mehr oder weniger beachtet als, sagen wir, ein Ogerschamane oder eine Tabaxi-Jägerin. Zwar nimmt man im Allgemeinen an, dass die Abkömmlinge von Farbdrachen tendenziell aggressiver sind als die von Metalldrachen, aber da gibt es auch viele Ausnahmen. Nicht jeder Golddrachenblütige ist ein Idealbild des Edlen und Guten und nicht jeder Schwarzdrachenblütige ist böse oder hinterhältig. Und in einer Stadt, in der man Scheusalen oder Untoten auf der Straße begegnen kann, da nimmt an einem Drachenblütigen niemand Anstoß.“

„Das ist gut.“ Kiyoshi nickte ernst. „Wie immer waren Eure Erklärungen überaus hilfreich. Ich danke Euch vielmals für Eure erleuchtenden Worte und Eure geteilten Einsichten. Ich bin sicher, dass Eure Auskünfte mir helfen werden, dem ehrwürdigen Harmonium besser zu dienen, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei. Wenn Ihr mich nun entschuldigt, ich soll mich melden, um mit einem anderen Mitglied des Harmoniums Patrouille zu gehen. Mögen die Kami mit Euch sein, mit Ausnahme jener, die nicht verehrt werden dürfen.“ Er erhob sich und schlug mit der Faust gegen seinen Brustpanzer, wobei er ruckartig mit dem Kopf nach unten nickte.

„Der Segen der Dame, Kiyoshi“, erwiderte Amariel freundlich. „Solltet Ihr wieder einmal eine Auskunft brauchen, Ihr wisst ja, wo Ihr mich findet. Ich bin nächste Woche in Melodia auf Arcadia, aber danach könnt Ihr mich wieder in der Kaserne antreffen.“

Mit einem leichten Kopfschütteln sah sie ihm nach, als er ihr Quartier verließ und die Tür hinter sich schloss. Ein ungewöhnlicher Neuzugang, dieser Kiyoshi.

 

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aus dem Foren-Rollenspiel mit Kiyoshis Spieler

 

 

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