„Ein Halbelf, der in einem Palast aus Metall lebt? Das ist Bundmeister Ambar:
teils Schmied, teils Barde. Er ist nicht der klassische Bundmeister.“
Autor von Des Bundmeisters Manifest
Dritter Untertag von Zehent, 126 HR
„Ist das dein Ernst?!“
Sein Stellvertreter Ombidias sah Ambar mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Missbilligung an. Er konnte es ihm nicht verdenken, die Geschichte klang mehr als unglaubwürdig und im Grunde geradeheraus verrückt. Seufzend nickte Ambar, hob fast entschuldigend die Schultern und schob Ombidias die kleine Silberschatulle hin, in der sich – da waren er und Lereia sicher – ein kleiner Teil seiner Seele befand. Der Voadkyn musterte ihn scharf, ehe er die Schatulle zu sich zog, sie öffnete und eine Weile hinein starrte. Dann sah er wieder zu Ambar, sein Blick nun weniger ärgerlich, dafür deutlich verwirrter.
„Du meinst es wirklich ernst, ja?“
Der Halbelf stützte das Kinn in die Hände und blickte auf das kleine Kästchen. „Ja, leider. Glaub mir, ich wünschte, es wäre anders, aber … ich fürchte, so ist es.“
Ombidias atmete langsam und beherrscht durch, schloss den Deckel der Schatulle und lehnte sich dann mit verschränkten Armen zurück. „Also schön. Wenn das kein merkwürdiger Bardenscherz, sondern wirklich dein Ernst ist, dann bitte ich um eine ausführlichere Erklärung.“
„Ja, ich denke, die bin ich dir schuldig“, räumte Ambar ein. „Ein Glas Wein dazu?“
Der Voadkyn brummte. „Möglicherweise brauche ich noch etwas Stärkeres, um diese Geschichte zu verdauen. Aber als Einstieg klingt Wein ganz gut.“
Mit einem Schmunzeln erhob sich der Bundmeister der Göttermenschen und ging zum Weinregal auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Es stand direkt neben einem der großen Fenster, die auf den Palastgarten hinunter schauten, und er ließ kurz seinen Blick über die Bäume, die blühenden Sträucher und den kleinen Teich in der Nähe schweifen. Das planare Bundhauptquartier mit den ausladenden Grünanlagen war nicht nur ihm stets eine willkommene Abwechslung zum Schmutz und Lärm der Großen Gießerei. Auch seine Vertrauten und viele andere Bundmitglieder genossen die Ruhe und Entspannung, die es ihnen bot. Ein paar Jahre nach seinem Amtsantritt als Bundmeister war das frühere Hauptquartier durch einen verheerenden Äthersturm zerstört worden – eine Katastrophe für den Bund damals. Aber auch eine Chance auf einen Neuanfang, hatte Ambar sich gesagt. So hatte er einen nicht unbedeutenden Teil seines beträchtlichen Vermögens in den Bau eines neuen Hauptquartiers investiert, und was am Ende entstanden war, stellte den bisherigen planaren Bundsitz deutlich in den Schatten: Die lange Erfahrung der Gläubigen der Quelle in der Metallverarbeitung hatte ein atemberaubendes Kunstwerk geschaffen. Der gotische Stil des Palastes spiegelte sich in den hohen Flügeln, den komplizierten Gewölben und den bunten Glasfenstern wider. Doch Ambar - als Halbelf aus einem elfischen Reich der Außenländer - hatte auch seine eigenen Akzente gesetzt, um diese Insel im Tiefen Äther in ein kleines Paradies zu verwandeln. Alle Dekorationen im Inneren trugen elfischer Ästhetik Rechnung, mit schön verzierten Möbeln, Kunstwerken und blühenden Pflanzen in jedem Raum. Außerhalb des Palastes erstreckten sich von Blumen überfließende Gärten, so ausladend, dass man leicht vergaß, sich überhaupt auf der Ätherebene zu befinden. Der Bau hatte bis zur Vollendung viele Jahre gedauert, doch hatte der Bund damit ein Bauwerk geschaffen, das zu Recht als eines der Wunder der Tiefen Ätherebene galt. Sie hatten längere Zeit nach einem passenden Namen gesucht, doch hatte sich bis dahin unter den Bundmitgliedern bereits eingebürgert, das neue Hauptquartier einfach nur „Ambars Palast“ zu nennen. Der Name war geblieben, und obgleich Ambars Bardenherz noch manchmal ob der wenig poetischen Benennung schmerzte, so war ihm doch klar geworden, dass es nicht mehr zu ändern war. Der Komplex war natürlich weit mehr als nur „sein“ Palast, sondern ein riesiges Bauwerk mit mehreren Flügeln und Platz genug für viele der Faktoren und Faktoti, aber auch gewöhnliche Bundmitglieder, um hier zu leben. Und das war schließlich die Hauptsache: Dass es einen Ort gab, den alle Bundmitglieder ihre Heimat nennen konnten. Ambar riss sich vom Anblick der Bäume und Vögel draußen los, nahm zwei Gläser und eine Flasche Bytopianischen Weißwein und kehrte zu dem Tisch zurück, an dem Ombidias saß und ihn nach wie vor ernst musterte. Er schenkte seinem Stellvertreter und sich selbst ein Glas ein, lehnte sich dann zurück und seufzte etwas.
„Tja … wo fange ich an?“
„Am Anfang bitte“, entgegnete Ombidias trocken. „Denn ich habe wirklich keine Vorstellung, wie es zu etwas Derartigem gekommen sein soll.“
Er deutete auf die Schatulle und maß den Barden mit strengem Blick. Ambar nickte sacht. Der Voadkyn erlaubte sich durchaus, ihm seine Gedanken stets sehr offen mitzuteilen und ihn gegebenenfalls auch verbal zu maßregeln, falls er mit seinen Entscheidungen nicht einverstanden war. Dies kam selten vor, aber Ambar schätzte Ombidias Unverfälschtheit und dass er sich auch seinem Bundmeister gegenüber stets eine eigene Meinung gestattete. Deswegen hatte er ihn zu seinem Stellvertreter gemacht. Der Voadkyn war in aller Regel gütig und mitfühlend, doch im Moment lagen in seinem Blick verständlicherweise eher Skepsis und eine gewisse Strenge. Ambar nahm einen Schluck Wein, stellte dann das Glas wieder ab und drehte es langsam zwischen den Fingern.
„Also … Ich hatte Lereia rufen lassen, weil ich mit ihr noch einmal über ihre Gabe sprechen wollte. Ich habe dir ja erzählt, was sie kann – aber weder sie noch ich sind bislang sicher, was das genau zu bedeuten hat. Und noch weniger, was es damals mit der Sache mit dem Zebra auf sich hatte. Dann waren erst einmal die Stockwürger-Morde dazwischen gekommen und wir konnten uns nicht sehr intensiv mit dieser Frage befassen. Und nach den Morden war Lereia noch eine Weile auf der Materiellen, um dort einige Dinge zu klären vor ihrem … na ja, dauerhaften Umzug nach Sigil, so könnte man es wohl nennen. Es war sicher nicht ganz einfach für sie, ihr Leben so grundlegend umzukrempeln.“
Ombidias nickte, nun wärmer und weniger streng. „Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Sie ist zum einen noch sehr jung und zum anderen sehr unerfahren in den Ebenen. Es war bestimmt ein großer Schritt für sie.“
„In der Tat“, bestätigte Ambar. „Und einer, zum ich sie nicht gedrängt hätte. Aber sie hat die Notwendigkeit offenbar ganz von selbst gesehen. Und danach wollte ich ihr erst einmal ein wenig Zeit geben, sich hier in Sigil und in unserem Bund mehr einzufinden. Zena hat ihr das Gelände der Gießerei sehr genau gezeigt, und ich selbst habe ihr noch einiges über unsere Philosophie erzählt, ihr einen Schlüssel zum Portal in den Palast gegeben und sie mit unserem planaren Hauptquartier vertraut gemacht. Letztlich aber hielt ich es für an der Zeit, dass wir uns näher mit ihrer Gabe befassen. Wir trafen uns also, um uns ein paar Gedanken über diese seelischen Signaturen zu machen, wie wir sie inzwischen nennen.“
„Das ist allerdings ein faszinierendes Thema“, gab Ombidias zu. „Und welche Art von Gedanken habt ihr euch da gemacht?“
„Wir haben uns gefragt, ob - und falls ja inwiefern – diese Signaturen mit der Herkunft oder Persönlichkeit von jemandem zusammenhängen könnten. Lereia nimmt bei einigen Personen sehr vielschichtige und komplexe, bei anderen wiederum nur sehr einfache Signaturen wahr. Wir haben uns Gedanken über die drei komplexesten gemacht, die sie spürt, weil wir den Eindruck hatten, dass diese uns mehr Anhaltspunkte bieten.“
„Und darf ich fragen, von wem diese drei Signaturen sind?“
„Von Terrance, Sarin und mir“, erwiderte Ambar und lächelte fast entschuldigend dabei. „Verzeih, das habe ich mir nicht ausgesucht. Lereia hat es so beschrieben.“
Der Voadkyn lächelte gutmütig. „Finde ich gut, also vor allem, was dich und Terrance angeht. Und Sarin mag zwar weniger umgänglich sein als ihr beide, aber es macht schon Sinn, denke ich. Meinst du, es … hängt mit dem Funken zusammen? Mit seiner Stärke?“
„Der Gedanke kam mir durchaus“, erklärte der Barde, noch immer mit einer gewissen Zurückhaltung. „Auch wenn es etwas unbescheiden klingt, aber … ja. Da könnte was dran sein, oder?“
„Ich halte diese Vermutung für sehr naheliegend“, meinte Ombidias ruhig. „Und keine Sorge, du darfst das ganz offen so sagen. Dein Funken ist sehr stark, sonst wärst du nicht unser Bundmeister. Verrätst du mir, wie Lereia deine Signatur beschreibt?“
Ambar nickte und erinnerte sich zurück an die Worte, die die junge Frau für seine Seele gefunden hatte. „Was sie bei mir wahrnimmt ist reines, von der Sonne erwärmtes Gold unter frischem Birkenlaub an einem Frühlingstag.“
Ombidias nickte lächelnd. „Das passt zu dir, und zwar sehr gut, wie ich finde.“
„Danke“, erwiderte Ambar, und obgleich er an Komplimente gewohnt war, machte diese Beschreibung ihn einmal mehr fast verlegen. So sehr er auch die Signaturen von Terrance und Sarin für passend hielt, so wenig hätte er sich selbst in irgendeiner Art eine Beschreibung der eigenen Seele zugetraut. „Lereia sagte das auch, und zugegeben, es klingt sowohl poetisch als auch sehr angenehm. Und … na ja, mit einem Blick in die Schatulle ist da wohl etwas dran.“
Der Hinweis auf die silberne Schatulle entlockte dem Voadkyn ein Seufzen, doch er überging die Bemerkung fürs erste. „Und wie habt ihr das dann mit deiner Herkunft und Persönlichkeit in Verbindung gebracht? Das Birkenlaub mit Fayrill, das Gold mit deinem Herzen, den Frühling mit deinem Gemüt?“
Überrascht ob dieser prompten Analyse hob Ambar die Brauen. „Ähm, ja, teilweise. Das Birkenlaub mit Fayrill zu verbinden war auch unser erster Gedanke. Lereia brachte das Gold eher mit dem Palast in Verbindung.“
„Mit deinem Besitz?“ hakte Ombidias nach. Als Ambar nickte, schüttelte er entschieden den Kopf. „Nein, das denke ich nicht. Wir bekommen eine Seele im Moment unserer Entstehung, und auch wenn sie sich im Laufe unseres Lebens entwickeln mag, so denke ich nicht, dass die Gestalt, das Wesen oder die Signatur, wie ihr es nennt, einer Seele durch so etwas beeinflusst wird. Dass etwas wie Gold in die Signatur einfließt, sobald man zu Reichtum kommt, das erscheint mir zu … verzeih meine Worte, zu profan. Ich bin überzeugt, das Gold in deiner Signatur repräsentiert das hier.“
Er tippte sich an der Stelle, wo das Herz saß, auf die Brust und Ambar spürte, dass ihn bei dieser Deutung eine innere Wärme durchfloss. Natürlich war es durchaus angenehmer zu denken, dass seine Signatur neben seiner Herkunft vor allem sein Wesen und seinen Charakter spiegelte, nicht einfach nur etwas Materielles. Und so wie der Schamane es erklärte, ergab es auch durchaus Sinn. Ombidias nickte sacht, so als müsse dazu nichts weiter gesagt werden.
„Wie sieht es mit Terrance aus?“ fragte er dann.
„Lereia beschrieb seine Signatur als Himmelstränen am Meeresufer, hingestreut in den weißen Sand und ganz sanft vom Wasser überspült.“ Der Barde lächelte warm. „Und ich finde, das passt geradezu erstaunlich gut zu Terrance. Da du bei mir so intuitiv und hoffentlich treffsicher mit einer Deutung warst, was würdest du zu Terrance sagen?“
„Himmelstränen sind Edelsteine, die man nur im Elysium findet, und auch dort nur sehr selten“, erklärte Ombidias bereitwillig. „Man findet aber verhältnismäßig viele von ihnen genau dort, wo Terrances ehemaliger Tempel steht – zudem ist dies auch in der Nähe des Oceanus, der dort Ufer von schneeweißem Sand hat. Die Signatur passt also sehr gut zu seiner Herkunft. Allerdings symbolisieren Himmelstränen auch gleichzeitig Bescheidenheit und die Reinheit des Herzens, und Wasser steht natürlich für Heilung und die Gabe des Heilens.“
„Genau meine Gedanken“, erwiderte Ambar lächelnd. „Ich sehe schon, du scheinst einen guten Seelendeuter abzugeben.“
„Was auch immer ich mir darunter vorstellen soll“, entgegnete der Schamane schmunzelnd. „Und nun Sarin bitte. Ich bin gespannt.“
„Oh.“ Ambar hob die Brauen. „Das passt auch frappierend gut, wie ich finde: Blühender Lorbeer, der am Rand eines Weges im Gebirge wächst und in einem plötzlichen Wind rauscht.“
Ombidias konnte sich ein kurzes Grinsen nicht verkneifen. „Ja, ganz spontan, würde ich auch sagen, das klingt nach ihm. Möchtest du diesmal eine Analyse vornehmen?“
Ambar lehnte sich zurück, nahm einen Schluck Wein und legte ein wenig den Kopf schief. „Weißt du, Lereia hat eine schöne Formulierung gefunden, in ihrer unbedarften, unschuldigen Art: Sarins Gegenwart spannt sie an, was an dieser militärischen Ader liegt und weil er nach außen so hart wirkt. Dass er manchmal so plötzlich laut und energisch wird, dieser Wesenszug ist ihr fremd und schüchtert sie ein. Gut, hm?“
Der Voadkyn musste lachen. „Allerdings. Ich meine, wir reden vom Harmonium und dann auch noch der Bundmeister: Wer könnte da völlig entspannt sein?“
„Genau das sagte ich auch“, erwiderte Ambar erheitert. „Ich erklärte ihr, dass Sarin ein guter Mensch ist und ich dafür meine Hand ins Feuer legen würde. Dass er aber nach außen hin so hart sein muss, damit niemand ihn für verletzlich hält, weil das für einen Mann in seiner Position der Untergang sein könnte. Der Weg ins Gebirge mag das symbolisieren und der plötzliche Wind das, was Lereia als laut und energisch beschrieb. Ich meine, allein wie dieser Mann einen Raum betritt: Tür auf, zack!, Sarin ist da und jeder weiß das. Wehe dem, der nicht.“
Nun musste Ombidias herzlich lachen. „Hat dir mal jemand gesagt, wie gut du den Bundmeister des Harmoniums imitierst?“
„Behalte das bloß für dich!“ warnte Ambar grinsend. „Wenn das allgemein bekannt wird, habe ich ein Problem.“
„Du hast sowieso ein Problem mit deiner ständigen Unpünktlichkeit“, entgegnete der Schamane amüsiert, ehe er wieder nachdenklicher wurde. „Und der Lorbeer? Gibt es da eine Verbindung zu seiner Herkunft? Oder symbolisiert er den General?“
„Gute Frage“, erwiderte der Halbelf. „Da bin ich auch nicht ganz sicher. Ich weiß, Sarin stammt von Ortho, aber wie seine Heimat genau aussieht, ist mir leider nicht bekannt. Die Verbindung zu Sarin als General finde ich allerdings ebenfalls sehr passend. Und was wir nicht vergessen sollten: Der Lorbeer blüht.“
Ombidias nickte. „Eine andere Seite von ihm, meinst du?“
„Genau. Eine, die wir nicht allzu oft erleben, aber erahnen können, wenn wir ihn mit seiner Frau und seinen Kindern sehen. Eine deutlich charmantere Seite, die er zulässt, wenn er denkt, dass er es sich erlauben kann. Der Ritter, und nicht der General.“
„Ja, das erscheint mir plausibel“, stimmte der Voadkyn zu. „Und Lady Erin? Was ist ihre Signatur?“
„Leider, leider wissen wir das noch nicht“, erklärte Ambar bedauernd. „Lereia hat sie erst einmal getroffen, damals im Berronar's. Aber sie hatte sich damals noch nicht bewusst auf die Signaturen konzentriert, so wie sie es inzwischen bei den meisten Personen tut, denen sie begegnet.“
„Schade, das hätte mich wirklich interessiert“, meinte Ombidias. „Nach eurem nächsten gemeinsamen Treffen musst du mir unbedingt erzählen, was Lady Erins Signatur ist.“
„Auf jeden Fall“, versprach der Barde.
Als er danach nicht weitersprach, musterte sein Stellvertreter ihn abwartend. „Und?“ fragte er schließlich. „Wie kommen wir nun von der Analyse seelischer Signaturen … hierzu?“
Er deutete auf die silberne Schatulle, und Ambar seufzte.
„Ja, also das … war definitiv nicht so geplant.“
„Nun, das will ich doch schwer hoffen“, erwiderte Ombidias mit gehobenen Brauen „Also bitte, du lässt dir doch sonst nicht alles so aus der Nase ziehen. Was ist passiert?“
„Na ja …“ Ambar seufzte abermals, gab sich dann jedoch einen Ruck. „Ich habe dir doch erzählt, was bei unserer ersten Begegnung im Hof der Gießerei geschehen ist. Mit dem Zebra … Ich musste darüber immer wieder nachdenken, wollte ergründen, was es zu bedeuten hatte. Aber ich kam zu keinem Ergebnis. Also fragte ich Lereia, ob sie das, was sie mit dem Zebra versehentlich gemacht hatte, auch willentlich herbeiführen könnte. Und sie schlug vor, es bei mir auszuprobieren ...“
„Das schlug sie vor?“ Der Blick des Schamanen wurde schärfer. „Und du warst einverstanden?“
Abwehrend hob Ambar die Hände. „Ich wusste doch nicht, was es damit auf sich hat. Ich wäre doch niemals auf die Idee gekommen, dass jemand von der Seele eines anderen ein Stück abtrennen und dieses Stück dann in einen Haufen Laub verwandeln kann. Ich meine, klingt das für dich nach einer naheliegenden Idee?“
„Zugegebenerweise nicht“, räumte Ombidias ein. „Aber du … ihr müsst euch doch irgendwelche Gedanken gemacht haben, was da bei dem Zebra passiert ist.“
„Natürlich“, erwiderte der Barde sofort. „In der Prophezeiung heißt es, sie erschaffe aus Duft Materie und aus Materie Zukunft und Schicksal. Wobei Duft eine Umschreibung für die seelische Signatur zu sein scheint. Ich hatte die Vermutung, dass sie die Signatur einer Seele auf einer intuitiven Ebene als eine Art Vorlage oder Anregung nutzt, um etwas Materielles zu erschaffen. Dass man aber etwas Stoffliches aus einer Seele erschaffen kann, war mir vollkommen unbekannt.“
„Das höre ich auch zum allerersten Mal“, gab der Voadkyn zu und atmete tief durch, um sich zu erden und Ambars Bericht wieder gelassener zu folgen. „Also, wie ist das dann abgelaufen?“
Ambar schloss kurz die Augen, um sich den Moment zurück zu rufen – und erinnerte sich vor allem an den Schmerz. Ja, Schmerz war im Grunde die bestimmende Komponente dieser Erfahrung gewesen. „Wir saßen einander gegenüber“, erklärte er, „Lereia konzentrierte sich auf meine seelische Signatur, so sagte sie. Zuerst spürte ich gar nichts. Dann - wahrscheinlich, als sie die Signatur zum ersten Mal quasi 'berührte' - hatte ich so ein merkwürdiges Gefühl. Als würde jemand an mein Innerstes rühren, aber nicht körperlich. Nicht einmal geistig, es ging noch viel tiefer. Es war zu diesem Zeitpunkt noch nicht schmerzhaft, aber eigenartig. Ungewohnt. Nicht unbedingt angenehm. Dann wurde das Gefühl stärker und ich hatte den Eindruck, eine Hand würde sich um einen Teil von mir schließen … und dann kam der Schmerz. Ein Schmerz, der weit über etwas Körperliches hinausging. Ich kann es nicht beschreiben, es gibt keine Worte dafür.“ Er nahm einen Schluck Wein und spürte, wie sich seine Nackenhaare bei der Erinnerung daran ein wenig aufstellten. Ombidias musterte ihn besorgt, unterbrach ihn jedoch nicht. „Ich fragte sie, was sie tat und ob das so sein solle“, fuhr Ambar fort. „Da erkannte ich ihr Entsetzen und mir wurde klar, dass sie nicht mehr die Kontrolle hatte. Ich bat sie aufzuhören, aber sie sagte, sie könne es nicht abbrechen. Irgendetwas passierte mit ihr … Ich wollte aufstehen, aber konnte es nicht. Ich sank zurück auf die Knie und war vollkommen machtlos und wehrlos. Schließlich konnte sie sich davon lösen, zog sich zurück … aber ruckartig, plötzlich, heftig. Der Schmerz dabei … er war atemberaubend. Mir lief Blut aus der Nase und ich war in diesem Moment vollkommen sicher, sie riss einen Teil meiner Seele mit. Und sie war sich dessen ebenso sicher, wie sie später erklärte. Es gab ein Aufblitzen im Raum, eine Explosion von Licht, wie schon damals im Hof der Gießerei. Und dann regnete es Goldstaub und Birkenlaub.“
„Deine seelische Signatur ...“, kommentierte Ombidias leise.
Ambar nickte seufzend. „Genau. Da lag ein Teil meiner Seele vor uns am Boden. Es war verstörend und faszinierend zugleich. Ich war danach ein wenig benebelt vom Schmerz und der Erfahrung an sich. Aber Lereia … meine Güte, sie war verzweifelt.“
Er erinnerte sich lebhaft an die Reaktion der jungen Frau. Sie hatte geweint und war vollkommen aufgelöst gewesen. Er hatte augenblicklich den Eindruck gehabt, dass er sie trösten musste, obgleich sie seine Seele gepackt hatte. Ombidias war skeptischer und musterte ihn forschend.
„Verzweifelt? Mhm, ich verstehe. Du denkst also, sie hat das nicht absichtlich gemacht?“
„Was?“ Ambar zog die Brauen zusammen. „Aber natürlich nicht! Ombidias, ich bitte dich. Lereia ist eine mitfühlende junge Frau mit einem reinen und guten Herzen. Eine Eldath-Anhängerin aus tiefster Überzeugung, die niemals absichtlich jemandem Leid zufügen würde. Sie hätte so etwas wirklich niemals mit Absicht getan. Du hast sie doch auch schon getroffen, das muss dir klar sein.“
„Ja, wir hatten zwei, drei Unterhaltungen“, bestätigte der Schamane. „Und ich hätte sie ebenso eingeschätzt, wie du sie beschreibst. Du kennst sie besser als ich, und wenn du der Überzeugung bist, dass sie es nicht kontrollieren konnte, dass es eine Art Unfall war, dann glaube ich das natürlich.“
Der Barde nickte beruhigt. Er spürte, dass es ihm extrem wichtig war, dass Lereia hier unter keinerlei ungerechtfertigten Verdacht geriet. Die Sache mit der Prophezeiung und ihre mysteriöse Gabe machten ihr schon genug zu schaffen, und zudem hatte er sie bei dem Experiment am Vortag auch ermutigt. Er machte ihr keinerlei Vorwürfe und wollte auch nicht, dass jemand anders es tat. Ombidias hingegen hörte nicht auf, ihn zu mustern.
„Trotzdem halte ich diese Fähigkeit für gefährlich, wenn du mir die Bemerkung verzeihst. Begeistert bin ich davon nicht.“
„Sie wäre gefährlich, wenn nicht Lereia diese Gabe besitzen würde“, verteidigte Ambar seine Erwählte sogleich. „Wenn jemand sie hätte, der verantwortungslos oder aggressiv wäre oder ein dunkles Herz hätte. Aber das alles ist bei ihr nicht der Fall. Ich versichere dir, Ombidias, da ist nichts Boshaftes oder Düsteres an Lereia.“
Nun schmunzelte sein Stellvertreter ein wenig. „Du magst sie, nicht wahr?“
Diese Frage brachte Ambar kurz aus dem Konzept. Nicht nur, dass er nicht damit gerechnet hatte, auch weil er nicht auf Anhieb wusste, was er darauf erwidern sollte. Er räusperte sich. „Ähm … Ja, schon. Ich meine, sie ist warmherzig, hilfsbereit, freundlich … Na ja, und sie hat noch so eine Unverdorbenheit, die man in einer Stadt wie Sigil nicht mehr oft findet.“
Er fragte sich, warum er so merkwürdig unbeholfen und verworren auf diese Frage antwortete, er, der er für gewöhnlich so gut mit Worten umgehen konnte. Zum Glück blieb es ihm erspart, eine Erwiderung auf Ombidias Grinsen hin zu finden, als Kayedi durch das offene Fenster herein geschwirrt kam und vor ihm auf dem Tisch landete. Die Pixie war seit über achtzig Jahren seine Vertraute und kannte ihn besser als irgendjemand sonst. Sie war das einzige, das ihm aus Fayrill und den unbeschwerten Jahren seiner Jugend dort geblieben war. Allein das gab ihm oft Stabilität und Sicherheit, trotz der hibbeligen, leicht hektischen Art, die Kayedi - wie viele Pixies – besaß. Sie lehnte sich gegen die silberne Schatulle und grinste ihn keck an.
„Oh, diese Unverdorbenheit, hach ja“, bemerkte sie neckend.
Ombidias musste lachen und Ambar stupste die Pixie sacht mit den Zeigefinger an.
„Sei nicht so frech“, meinte er grinsend.
„Pffft“, machte sie unbekümmert. „Ich darf mir das erlauben.“
„Stimmt“, erwiderte der Halbelf schmunzelnd. „Und das nutzt du auch schamlos aus.“
Sie zuckte mit den Schultern, wandte sich dann zu der Silberschatulle um, die ihr bis zur Brust reichte und strich langsam über das kühle Metall. Als lichte Fee konnte sie es anders als ihre dunkleren Verwandten gefahrlos berühren.
„Und dann?“ wollte Ombidias wissen. „Habt ihr … deine Seele aufgesammelt und da hinein getan? Wie das klingt ...“
„Es klingt absolut schräg, aber so war es.“ Ambar nickte. „Wir haben die Blätter aufgesammelt und den Goldstaub mit einer weichen Bürste zusammengekehrt. Dann … habe ich meine Seele genommen und bin nach Hause gegangen.“
„Die Seele mit einer Bürste zusammengekehrt.“ Kayedi seufzte und hob tadelnd den winzigen Zeigefinger. „Du machst mir Sachen, Ambar. Immer wenn ich nicht da bin, um auf dich aufzupassen, machst du Unsinn.“
„Ja, sag es ihm nur“, meinte Ombidias lachend.
Als der Halbelf gespielt schuldbewusst den Blick senkte, nickte die Pixie zufrieden und wandte sich wieder der Schatulle zu. „Darf ich es nochmal sehen?“
Ambar hob die Schultern. „Tu dir keinen Zwang an. Es ist wahrscheinlich ein ziemlich seltener Anblick, also ...“
Sie stemmte beide Ärmchen gegen den Deckel der kleinen Kiste, die für sie so schwer zu öffnen war wie eine große, wuchtige Truhe. Ihre hellblauen Libellenflügel bewegten sich schnell und hektisch auf und ab, während sie mit einer gewissen Kraftanstrengung den Deckel nach oben stemmte. Dann schwirrte sie ein Stück nach oben, nahm auf dem Rand der geöffneten Schatulle Platz und sah fasziniert auf den goldenen Staub und die frischen Birkenblätter darin. Ambar bemerkte mit einer gewissen Beruhigung, dass das Laub auch nach einem Tag nicht welkte, sondern nach wie vor grün und saftig war. Nach ein paar Sekunden beugte Kayedi sich vor und angelte eines der Blätter aus der Schatulle, drehte es in ihren Händen und musterte es von allen Seiten. Dann lächelte sie.
„Deine Seele ist schön“, sagte sie mit warmem Blick zu Ambar. „Aber das wusste ich natürlich schon davor. Sonst wäre ich damals in Fayrill nicht zu dir gekommen.“
Ombidias schmunzelte bei ihren Worten und nickte sacht. Seine eher untypische Strenge – nur allzu nachvollziehbar gemessen an dem, was er erfahren hatte – war wieder verflogen und hatte seinem vertrauten, ruhigen und gütigen Wesen Platz gemacht. Kayedi schnipste nun mit den Fingern gegen das Birkenblatt, das sie hielt.
„He, spürst du das?“
„Nicht!“ ermahnte der Voadkyn sie fast erschrocken, doch Ambar fühlte und horchte in sich hinein, um zu erkennen, ob das Tun der Pixie eine Auswirkung auf ihn hatte.
Er spürte jedoch nichts. Entweder war dieser Teil nun wirklich von ihm abgetrennt oder Kayedis Handlungen waren zu niederschwellig, als dass sie eine Auswirkung gehabt hätten. Ganz kurz war Ambar in der Versuchung, einen Schritt weiter zu gehen und noch andere Experimente mit dem Blatt zu machen. Doch er entsann sich der Schmerzen des Vortages und des unerwünschten, geradezu schockierenden Ergebnisses des letzten Versuchs, und diese Erinnerungen besiegten die Neugier des Barden. So nahm er das Blatt sanft aus Kayedis Händen und legte es zurück in die Schatulle. Er würde zeitnah mit Terrance über den Vorfall sprechen. Außer Ombidias und Kayedi gab es niemanden, dem er so sehr vertraute und vielleicht konnte sein Freund ihm einige neue Einblicke in dieser Sache eröffnen.
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basierend auf dem Rollenspiel mit Lereias Spielerin am 17. Mai 2012




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