Sie sagen, sie seien tot. Aber ganz sicher haben sie ihren Finger am Puls des Käfigs.“

Autor von Des Bundmeisters Manifest über die Staubmenschen

 


 

Zweiter Dametag von Retributus, 126 HR

 

Drei Tage nach der Besprechung mit Sarin standen sie in einer schmalen Gasse unweit der Leichenhalle, bereit, ihre verdeckte Mission zu beginnen. Der Bundmeister des Harmoniums hatte sie wie versprochen mit Bundabzeichen der Staubmenschen ausgestattet und ebenso mit einfachen, grauen Roben, wie die Toten sie bei der Arbeit in der Leichenhalle für gewöhnlich trugen. So standen Naghûl, Jana, Lereia und Sgillin in nahezu identischer Gewandung nah bei der Hauswand, um sich unter dem vorspringenden Dach vor dem leichten Nieselregen zu schützen, der gerade einsetzte. Sie warteten noch auf Kiyoshi, der von der Kaserne aus mit einer aufklappbaren Trage zu ihnen stoßen sollte. Eine Trage deswegen, weil sie beschlossen hatten, einen von ihnen als Leichnam zu tarnen und unter einem Tuch auf der Bahre mit sich zu tragen. Mit einer Leiche, so die Hoffnung, würde man ihnen eher den Weg zum Portal auf die Feuerebene zeigen. Kiyoshi hatte sich bereit erklärt, die Rolle des Leichnams zu übernehmen. Möglicherweise, so Naghûls Eindruck, kam ihm das nicht ungelegen. Denn obgleich Sarin ihm erklärt hatte, was verdeckte Ermittlungen waren und warum das in Ordnung ging, schien der junge Mann doch nicht wirklich glücklich damit gewesen zu sein. Als Toter hatte er zumindest den Vorteil, dass er nichts sagen musste – und somit auch nicht lügen.

„Haben wir einen Plan?“ fragte Sgillin während des Wartens, eher leichthin, so als würde es ihn auch nicht stören, wenn die Frage verneint würde.

„Schon lange nicht mehr“, erwiderte Naghûl seufzend.

„Wir sollten einen haben“, warf Jana ein. „Pläne sind gut.“

Sie klang eher, als würde sie versuchen, sich selbst zu überzeugen.

Lereia runzelte ein wenig die Stirn auf diesen Wortwechsel hin. „Wir müssen uns unter einem Vorwand zum Portal durchfragen, oder?“

Sgillin nickte nur knapp. „Gut, wird schon passen.“

Jana seufzte. „Wir sollten zumindest absprechen, was wir eigentlich erreichen wollen.“

„Also, noch einmal“, meinte Lereia etwas angestrengt. „Ziel ist es, durch das Portal zu gehen und herauszufinden, was dahinter ist und was dort gemacht wird. Zumindest war das Sarins Anweisung. Aber dafür müssen wir erstmal wissen, wo es ist.“

„Das durch macht mir etwas Sorgen“, murmelte Jana. „Was ist, wenn Eliath und die anderen gar nicht ins Portal geworfen wurden? Was, wenn es wirklich in ein Krematorium auf der Feuerebene führt?“

„Dann werden wir es merken und gehen wieder zurück“, meinte Sgillin unbesorgt.

„Also, wir wollen da wirklich durch?“ hakte die Hexenmeisterin nach. „Was glaubt ihr, wo das Portal hinführt?“

„Keine Ahnung“, entgegnete der Halbelf seufzend. „Deswegen wollen wir ja durch. Hat jemand eine Idee, wie wir am unauffälligsten nach dem Portal fragen?“

„Ich bin da etwas ratlos ...“, gab Lereia zu. „Wenn alle Staubmenschen darüber Bescheid wissen, machen wir uns durch so eine Frage doch sofort verdächtig.“

„Wir könnten einen von denen behexen“, schlug Jana vor.

Naghûl wiegte den Kopf. „Magie der Beeinflussung kann ich gar nicht. Du?“

„Nicht sonderlich gut“, erklärte Jana seufzend. „Ich kann's versuchen, aber erwartet bitte nicht, dass es klappt.“

„Werden sie es merken, wenn es misslingt?“ fragte Lereia besorgt.

Die Hexe zuckte auf die Frage hin mit den Schultern. „Wenn man mitkriegt, dass ich gezaubert habe, bestimmt.“

Naghûl schüttelte sacht den Kopf. „Dann versuchen wir es auf dem Gebiet der Beeinflussung doch lieber mit Worten.“

Sgillin hatte unterdessen das Abzeichen aus der Tasche geholt, das Bundmeister Sarin ihnen ausgehändigt hatte: eine dünne Knochenscheibe, in die das Symbol der Staubmenschen geschnitzt war. Nachdenklich drehte er es in den Händen. „Wisst ihr eigentlich, was unsere Abzeichen aussagen?“

Lereia hob die Brauen. „Dass wir dem Bund angehören?“

Sgillin nickte und steckte es wieder ein. „Dann könnten wir doch einfach sagen, dass wir dort neu sind und uns das Krematorium mal ansehen wollen.“

Naghûl hob die Schultern. „Ich habe auch keine bessere Idee.“

„Mehr als schiefgehen kann's nicht“, meinte der Halbelf.

Da es keinen besseren Plan und auch nichts weiter dazu zu sagen gab, warteten sie eine Weile schweigend. Kiyoshi würde sicher jeden Moment mit der Bahre da sein, dann konnten sie versuchen, auf diesem Weg in die Leichenhalle zu kommen. Während sie warteten, bemerkte Naghûl, dass Lereia mehrfach zu einem dunkelhaarigen Mann in einem langen, roten Mantel hinübersah. Dann räusperte sie sich und dämpfte die Stimme.

„Der Mann dort drüben ist höchst wahrscheinlich ein Vampir“, flüsterte sie. „Er riecht zumindest untot. Und ... ich kann bei ihm eine Signatur wahrnehmen. Onyx und Asche. Als es bei Zamakis nicht klappte, dachte ich, es läge am Untod. Vielleicht sollten wir aber in Erwägung ziehen, dass sie doch eine von uns ist.“

Interessiert hob Sgillin die Brauen. „Da schau her.“

Jana warf einen Blick über die Schulter zu dem Vampir, sah sich hastig wieder um und schauderte sichtlich.

„Ich wollte es nur anmerken ...“ fügte Lereia an. „Ohne zu wissen, wie verlässlich meine Fähigkeit ist.“

Naghûl nickte. „Gut zu wissen.“

In diesem Moment näherte sich ihnen ein zerlumpter Junge von vielleicht sieben oder acht Jahren. Er hielt eine tote Ratte in der Hand und zupfte den Tiefling am Ärmel „Hier, begrabt ihr die auch?“ fragte er hoffnungsvoll und hielt Naghûl den verendeten Nager entgegen.

Der Sinnsat musste sich ein Schmunzeln verkneifen. „Nein, Kind“, erwiderte er.

„Schade“, meinte der Junge enttäuscht. „Ich bin noch zu klein, um richtige Totenbüchler zu sammeln. Aber ich geb dir die Ratte für nen Grünen!“

Jana lächelte kurz. „Sicher, gib her.“

Sie nahm die Ratte, die der Knirps ihr in die Hand drückte, und gab dem Kind ein paar Kupfermünzen und einige in ein Tuch geschlagene Blaubeeren.

„Boah, danke!“ rief der Junge aus. „Die Dame soll dich dafür verschonen!“

Er sprang begeistert davon und Naghûl blickte ihm nach, mit einer Mischung aus Mitleid über sein Leben im Stock und Freude über seine kindliche Unbeschwertheit, die es ihm ermöglichte, sogar hier glücklich zu sein. Dann näherte sich Kiyoshi, er als einziger nicht in einer der grauen Roben, sondern in einfacher, ja heruntergekommener Kleidung, in der er ohne Weiteres als Stockbewohner durchgehen konnte. Unter dem Arm trug er eine ausklappbare Trage, die er und Lereia rasch auseinander falteten, während Sgillin aufpasste, dass gerade niemand sie beobachtete. Dann legte Kiyoshi sich wie besprochen auf die Bahre und sie bedeckten ihn mit einem fleckigen, an den Rändern ausgefransten Tuch. Sgillin ging ans Kopfende, Naghûl ans Fußende, und gemeinsam hoben sie den scheintoten Soldaten hoch. Zum Glück, dachte der Tiefling bei sich, war Kiyoshi recht klein und dadurch nicht besonders schwer, so dass auch er und Sgillin, beide nicht gerade mit einem Übermaß an Körperkraft gesegnet, ihn ganz gut tragen konnten. Und bis zum Eingang der Leichenhalle hatten sie zum Glück keinen weiten Weg zurückzulegen.

Lereia atmete tief durch und warf noch einen letzten Blick zu ihnen zurück. „Wollen wir?“

Die anderen nickten, und so setzten sie sich in Bewegung: Jana vorneweg, dann Sgillin und Naghûl mit Kiyoshi auf der Trage, während Lereia etwa mittig neben der Bahre her ging. Am Eingang angelangt, sah Jana kurz zwischen den beiden Torwachen hin und her, einem menschlichen Mann und einem Skelett. Sie entschied sich für die lebendige Version.

„Hallo ...“, setzte sie an, unterbrach sich jedoch sogleich wieder. „Ähm, also, den Segen der Dame wünsche ich.“

Der Wächter sah Jana ausdruckslos an. „Asche zu Asche.“

„Staub zu Staub“, erwiderte Lereia, inzwischen offenbar fast reflexhaft.

Jana räusperte sich kurz. „Entschuldigung. Wir sind gerade erst angekommen und sollen uns mit der Anlage vertraut machen. Wo müssen wir uns anmelden?“

„Anlage?“ Der Mann hob eine Braue. „Ach so, die Leichenhalle. Fragt drinnen, dafür bin ich nicht zuständig.“

Die Hexenmeisterin nickte. „Danke. Asche zu Asche.“

Sie wartete noch kurz, doch da der Wächter offenbar nichts zu dem auf der Bahre liegenden Kiyoshi zu sagen hatte, betrat sie dann langsam und mit gemessenem Schritt die Leichenhalle. Die anderen folgten ihr und standen nun zum dritten Mal innerhalb weniger Tag in der Eingangshalle des Hauptquartiers der Staubmenschen. Dreimal zu oft, wenn es nach Naghûl ging. Auch Lereia fühlte sich wieder sichtlich unwohl und atmete nur sehr flach durch den Mund. Ja, der typische Geruch der Leichenhalle, an dem Naghûl sich glücklicherweise nicht allzu sehr störte, der aber für die feinen Sinne der Tigerin gewiss eine Belastungsprobe war.

Jana sah sich um, sichtlich ratlos, und murmelte: „Wo fragen wir?“

Dann aber fasste sie einen der anwesenden Staubmenschen genauer ins Auge, nickte bei sich und steuerte entschlossen auf ihn zu. Naghûl und Sgillin folgten mit der Bahre, während Lereia sich ein wenig weiter hinten hielt.

„Asche zu Asche“, grüßte Jana den Mann, einen älteren Tiefling.

„Staub zu Staub“, erwiderte er ruhig.

„Wir sind neu“, erklärte die Hexe so gleichmütig es ihr wohl möglich war. „Wir sollen uns mit der Anl ... der Leichenhalle vertraut machen.“

Der Staubmensch musterte sie, doch es war schwer zu sagen, was ihn bewegte. „Neu, so so. Von woher?“

„Von der Materiellen“, erwiderte Jana prompt. „Schon einmal von Port Solis gehört?“

„Von der Materiellen?“ Der Tiefling hob nun in mildem Erstaunen eine Braue. „Seit wann haben wir Niederlassungen auf der Materiellen?“

„Haben wir nicht“, entgegnete Jana schnell. „Dort war Krieg und wir mussten fliehen. Daher sind wir nach Sigil gekommen.“

„Flüchtlinge von der Materiellen?“ Der Staubmensch musterte sie unvermindert aufmerksam. „Und ihr habt sogleich beschlossen, hier in Sigil den Wahren Tod zu suchen?“

Jana atmete tief durch und räusperte sich kurz, wohl um ein wenig Zeit zu gewinnen und sich nicht in ihrer Geschichte zu verheddern. „Wir sind schon eine Weile hier“, erklärte sie dann. „Ich schon fast drei Zyklen.“

Der ältere Mann klang nicht abweisend, aber äußerst sachlich und schien durch nichts aus der Ruhe zu bringen zu sein. „Aha. Und die anderen kürzer? Oder länger?“

„Ich weiß nicht genau ...“ Seine Fragerei schien Jana nun doch allmählich zu verunsichern, sie wurde ein wenig unruhig und hibbelig.

„Was habt Ihr?“ fragte der Tiefling prompt.

Die Hexenmeisterin senkte den Blick. „Ich weiß ich ... sollte mich besser kontrollieren. Aber das ist alles noch so neu und ... ungewohnt. Ich habe … noch einen weiten Weg zum Wahren Tod, fürchte ich.“

Das fürchte ich auch“, erwiderte der Staubmensch ernst. „Einen sehr weiten.“

Naghûl beneidete Jana nicht um ihre momentane Aufgabe. Das Gespräch mit dem Toten machte auch ihn unruhig, obgleich er es gar nicht führen musste. Die Hexenmeisterin atmete einmal tief durch.

„Wir ... also, wir sollen am Portal zur Feuerebene anfangen, das stand zumindest in dem Schreiben von ... unserem Faktotum. Könnt Ihr uns sagen, wo wir es finden?“

„Euer Faktotum, der Euch betreut, scheint sehr wirr zu sein“, bemerkte der alte Tiefling mit einem Hauch von Missbilligung. „Er hat wohl auch noch einen weiten Weg vor sich.“ Er schüttelte sehr sachte den Kopf und seufzte so leise, dass es kaum hörbar war. „Ich fasse zusammen: Ihr kommt von der Materiellen, seid seit ein paar Jahren im Käfig, habt euch dann unserem Bund angeschlossen, seid aber noch ahnungslos über die Vorgänge in der Leichenhalle. Ihr braucht eine Einweisung ... Habe ich das richtig wiedergegeben?“

„Ja“, erwiderte Jana leise.

Der Staubmensch nickte, fast schien man ihm eine winzige Spur von Erleichterung darüber anmerken zu können, dass er sich nicht weiter mit den seltsamen Neulingen befassen musste. „Vielleicht kann Dhall euch weiterhelfen. Ein Githzerai. Im Obergeschoss.“

Er deutete auf die Wendeltreppe in der Ecke hinter sich und Jana neigte dankend den Kopf, bewegte sich dann zielstrebig auf nämliche Treppe zu. Naghûl seufzte, als ihm bewusst wurde, dass er und Sgillin nun den auf der Bahre ruhenden Kiyoshi die recht enge Treppe würden hinauf manövrieren müssen. Er bemühte sich, sein leises Fluchen zu unterdrücken, als sie sich umständlich die Treppe hoch bewegten. Lereia hielt Kiyoshi dabei an den Schultern fest, dass er nicht von der in Schräglage befindlichen Trage rutsche. Endlich oben angekommen, blieb Jana einen Moment stehen und sah sich um, um sich zu orientieren. Der Gestank nach Tod war hier stärker, aber auch der Geruch von Balsamierungsöl und Desinfektionsmitteln. Alles war ruhig, geradezu totenstill, bis auf das Klappern der Knochen der Skelette und leise, metallische Geräusche aus dem Raum vor ihnen. Jana wandte sich an eine in der Nähe stehende Frau, ihrem Aussehen nach zu urteilen eine Asche-Genasi. Naghûl musste ein wenig schmunzeln ob der Ironie oder aber auch Passgenauheit ihrer Bundwahl.

„Asche zu Asche“, sprach Jana sie an. „Entschuldigt, aber wo finden wir Dhall?“

Die Frau runzelte die Stirn. „Ihr seid wohl neu?“

Jana nickte nur, und glücklicherweise schien die Genasi keinen Anstoß an Neulingen zu nehmen.

„Falsche Treppe“, erklärte sie, und Naghûl brach innerlich ein wenig zusammen. „Ihr könnt zwar auch hier durch die Balsamierungskammern und Gänge, aber kürzer ist es, wenn ihr die Treppen wieder hinuntergeht und die gegenüberliegende nehmt.“

Jana fing Sgillins kurzen Seitenblick auf und schien zu verstehen. „Und der längere Weg?“ fragte sie sachlich. „Wo führt der lang? Wir sollen uns hier umsehen und uns mit den Abläufen vertraut machen.“

Die Frau nickte leidenschaftslos. „Geht hier durch die Tür. Dort drinnen wird gerade die vertiefte Technik der Balsamierung gelehrt. Vielleicht kann euch jemand dort den Weg zeigen.“

„Danke“, erwiderte die Hexe. „Weißt du, ob wir auch am Portal zur Feuerebene vorbeikommen?“

„Nein, hier nicht“, verneinte die Genasi.

Jana neigte knapp den Kopf. „Asche zu Asche“, verabschiedete sie sich und wandte sich an die anderen. „Balsamierung klingt nach etwas, das man sich nicht entgehen lassen sollte, wenn man hier anfangen will ...“

Dann ging sie weiter, in den nächsten Raum, den die Genasi ihr soeben gewiesen hatte. Naghûls Erleichterung darüber, nicht wieder mit der Bahre die Treppe hinab und dann eine andere hinauf zu müssen, verflog rasch, als er bemerkte, wie Lereia neben ihm ruckartig stehen blieb – alarmiert und erschrocken, wie es schien. Er warf ihr einen fragenden Blick zu und sie nickte leicht mit dem Kopf in den Raum hinein. Dort befand sich ein großer Steintisch, auf dem ein Leichnam lag. Ein aufgeschnittener Leichnam, neben dem zwei Frauen standen: Eine ein Tiefling mit hellgrauer Haut, Hörnern und einem Schweif, die andere offenbar eine Elfe, elegant gekleidet in dunkelblauen Brokat, das rabenschwarze Haar kunstvoll hochgesteckt. Die Elfe schien der anderen Frau gerade etwas zu erklären.

„Einigen Kulturen ist es wichtig, die inneren Organe getrennt aufzubewahren und auch zu konservieren“, führte sie soeben aus.

„Zamakis“, wisperte Lereia Naghûl so leise wie möglich zu.

Der Tiefling spürte, wie ihm das Herz sank. Die Vampirin, mit der Lereia, Sgillin und Kiyoshi erst kürzlich gesprochen hatten, um Torannas Büro zu durchsuchen. Ihn und Jana hatte sie nie gesehen, und Kiyoshi lag unter dem Tuch auf der Bahre. Aber Lereia und Sgillin … Zudem Vampire über einen sehr guten Geruchssinn verfügten. Was, wenn sie auch nur einen der drei wieder erkannte? Zumindest hatten Sgillin und Lereia sich geistesgegenwärtig die Kapuzen so tief in die Stirn gezogen, dass ihre Gesichter kaum noch zu erkennen waren. Die Tieflingsfrau stand über den aufgeschnittenen Leichnam gebeugt und hörte aufmerksam zu, und auch Zamakis schien im Moment ganz auf den Verstorbenen fixiert zu sein. Vielleicht konnten sie den Raum rasch wieder verlassen, ohne wirklich bemerkt zu werden. Lieber zwei weitere Wendeltreppen als ein Vampir, so viel stand fest. Sie drehten mit der Bahre gerade vorsichtig wieder um, als Zamakis inne hielt und den Kopf hob. Leise zog sie die Luft ein, dann wandte sie sich langsam um. Sie waren bereits fast wieder an der Tür, als die Stimme der Adlatin sie zurückhielt.

„Ihr.“

Fast gleichzeitig blieben sie alle stehen, rührten sich für ein paar Sekunden keinen Zentimeter. Dann wandte Naghûl langsam den Kopf zu ihr.

„Asche zu Asche“, sagte er so ruhig es ihm möglich war.

Zamakis blickte erst Lereia an, dann aber die ganze Gruppe. Sollte sie argwöhnisch sein und Verdacht geschöpft haben, so ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. „Wer seid Ihr?“

„Tesh“, antwortete der Tiefling und benutzte dabei einen Teil seines Nachnamens, wie er es manchmal tat, wenn er seinen richtigen Namen nicht nennen wollte. „Neuankömmling.“

„So.“ Ihrer Miene konnte man so gut wie nichts entnehmen, aber ihr Blick war wachsam wie der eines Raubtieres. Dann drehte sie sich zu Lereia. „Und wer seid Ihr?“

„Mahla“, erwiderte Lereia zügig, aber nicht verdächtig schnell. „Ebenso neu.“

Der Blick der Vampirin wurde ein wenig schärfer. „Sind wir einander schon begegnet? Nur kurz vielleicht mal?“

„Das ist gut möglich“, erwiderte Lereia höflich. „Ich bin schon seit einem Zyklus in Sigil.“

Zamakis nickte langsam. „Ich verstehe. Ihr sagt, Ihr seid neu. Wohin wollt Ihr?“

„Zu Dhall“, antwortete Lereia. „Uns wurde gesagt, er könnte uns einweisen.“

„Möglicherweise.“ Zamakis strahlte eindeutig die anziehende, aber kalte Schönheit der Vampire aus, eine Mischung aus Faszination und Schaudern. Naghûl wäre begeistert gewesen, hätten sie sich nicht in einer so brenzligen Lage befunden. „Nun gut.“ Sie musterte die Gruppe noch eine Weile. „Dann viel Erfolg. Solltet Ihr später im Bereich der Leichenkonservierung arbeiten wollen, wendet Euch an mich.“

Lereia nickte. „Gut zu wissen. Ihr seid?“

„Zamakis“, erwiderte die Adlatin. „Faktotum des Zweiten Zirkels.“

Dann ging sie zurück zu dem Steintisch und arbeitete weiter, aber Naghûl spürte geradezu ihren Blick im Nacken, als sie nun den Raum wieder verließen. In normalem Schritt, nicht zu eilig, durchschritten sie die Tür und blieben erst stehen, als sie noch einen weiteren Raum zwischen sich und Zamakis gebracht hatten. Jana atmete tief durch.

„Das war knapp“, sagte sie leise. „Denkt Ihr, sie ...“

Doch schon unterbrach sie sich wieder, als sie bemerkte, dass sie nicht allein im Raum waren. Etwas weiter hinten, an einem mit Pergamenten und Büchern überladenen Schreibtisch, saß ein alter Githzerai. Er hatte schlohweißes Haar und wirkte so ausgemergelt, dass der reine Anblick schon schmerzhaft war. In der Hand hielt er eine Feder, die emsig und ununterbrochen über eines der Pergamente kratzte. Sollte der von ihnen gesuchte Dhall nicht ein Githzerai sein? Der Tiefling nickte leicht, und so näherten sie sich nun langsam dem Schreibtisch. Als er sie kommen hörte, blickte der Gith aus trüben Augen auf.

„Asche zu Asche“, grüßte Jana. „Seid Ihr Dhall?“

„Der bin ich“, erwiderte der Alte mit heiserer Stimme.

„Wir sind neu“, begann die Hexenmeisterin einmal mehr mit ihrer Geschichte. „Uns wurde gesagt, Ihr könntet uns den Aufbau der Leichenhalle erklären? Wir haben ein wenig Schwierigkeiten, uns zurechtzufinden.“

„Nehmt Euch alle Zeit, um Euch einzufinden“, erwiderte Dhall mit leiser, kratziger Stimme. „Der Tod ist geduldig.“

„Ja, das ist er gewiss“, stimmte Jana zu. „Könnt ... Ihr uns den Weg zum Portal zur Feuerebene weisen? Dort sollen wir arbeiten.“

Der alte Githzerai hustete schwer, es rasselte hörbar in seiner Brust. Der Anfall schüttelte ihn eine Weile, ehe er dann antwortete „Das ist unter der Kuppel.“

„Unter der Kuppel, natürlich.“ Jana nickte. „Wie kommen wir da am besten hin, von hier aus?“

Dhall deutete geradeaus auf die Tür. „Im nächsten Raum die Wendeltreppe nach oben“ erklärte er heiser, und Naghûl seufzte innerlich.

„Danke.“ Jana neigte den Kopf. „Asche zu Asche.“

„Staub zu Staub“, grüßte Dhall hustend und beugte sich dann wieder tief über seine Pergamente.

Nach einem weiteren umständlichen Wendeltreppen-Manöver und unterdrückten Flüchen von Sgillin und Naghûl erreichten sie das oberste Stockwerk der Leichenhalle, die Kuppel. Hier spannte sich über ihnen nur noch das große halbrunde Gewölbe, das der Leichenhalle von außen ihr charakteristisches Aussehen gab und von sechzehn mächtigen Metallschwingen bekrönt wurde. Erneut suchte sich Jana einen der Staubmenschen aus, die hier arbeiteten, diesmal einen etwas müde wirkenden Halbork.

„Asche zu Asche“, grüßte sie ihm. „Wir sollen uns unter der Kuppel melden.“

„Staub zu Staub“ erwiderte er so leidenschaftslos wie erwartet. „Das habt ihr hiermit.“

„Ausgezeichnet“, entgegnete Jana nüchtern. „Wo finden wir das Portal zur Feuerebene?“

Der Staubmensch deutete statt einer Antwort nur hinter sich. Dort erblickten sie nun an einem Ende des runden Raumes einen großen, steinernen Torbogen. An seinem Scheitelpunkt war das Symbol eingemeißelt, das in der multiversalen Kosmologie für die Feuerebene stand. Naghûl verspürte eine gewisse Erleichterung, dass ihre Odyssee durch die Leichenhalle sich einem Ende zuzuneigen schien.

„Danke.“ Jana nickte. „Gibt es etwas, das wir dazu wissen müssen? Wir sollen hier demnächst anfangen.“

Der Halbork hob die Schultern. „Hier oben sind die meisten Portale zu den Elementarebenen. Körper, von denen die Angehörigen wollen, dass sie dorthin kommen, schicken wir dort durch. Auf die Feuerebene kommen alle Leichname, die verbrannt werden sollen oder nicht zuzuordnen sind.“

„Und was ist auf der anderen Seite?“

Der Staubmensch runzelte die Stirn. „Na, das Feuer.“

Jana stockte kurz, doch Lereia kam ihr zu Hilfe.

„Bringen wir die Leichname persönlich hinüber?“ fragte sie. „Oder schicken wir sie nur durch?“

„Da drüben ist nur Feuer“, erwiderte der Halbork. „Natürlich schicken wir sie nur durch.“

Lereia nickte. „Ich verstehe. Wir haben hier einen Leichnam ohne Zuordnung. Das ist unser erster, den wir in das Feuer schicken sollen, aber wir bekamen noch keine Portalschlüssel.“

Der Staubmensch nickte leicht und schien zu Naghûls Erleichterung keinen Verdacht zu schöpfen. „Ah ja. Na dann.“

Er kramte in einer Gürteltasche, zog ein Säckchen hervor und reichte es Lereia. Die junge Frau nickte dankend und nahm den kleinen Beutel entgegen. Dann entfernten sie sich ein Stück von dem Halbork, der sich nun dem Gespräch mit einem anderen Bundmitglied zuwandte. Lereia öffnete das Säckchen und ließ auch die anderen einen kurzen Blick hinein werfen. Etwa zwanzig rote Glasperlen befanden sich darin. Sie blickten sich um, um sicherzustellen, dass niemand sie hören konnte. Doch in der Kuppel waren nicht viele Staubmenschen, und keiner davon stand in ihrer Nähe, so dass sie einigermaßen unbeobachtet waren.

„Wir brauchen was Feuerfestes“, murmelte Sgillin.

„Denkst du wirklich, dahinter ist Feuer?“ meinte Jana zweifelnd.

„Weiß nicht“, erwiderte der Halbelf. „Aber ich will es nicht unvorbereitet rausfinden.“

„Keine Sorge“, beruhigte Naghûl ihn. „Ich werde uns mit Planerer Toleranz schützen. Dahinter ist ziemlich sicher Feuer, aber ich werde zur Sicherheit trotzdem versuchen, das Portal zu analysieren.“

Jana runzelte noch immer die Stirn. „Ja aber, wie ist …“ Dann nickte sie verstehend. „Ah, Eliath muss auch unter einem Zauber gestanden haben, als er hindurch geschickt wurde. Aber auf der anderen Seite hat doch sicher jemand auf ihn gewartet und ihn in Empfang genommen? Was wenn derjenige noch da ist? Wir sollten uns auf einen Kampf zumindest vorbereiten, oder nicht?“

Diese Befürchtung war nicht ganz abwegig, doch im Moment hatte die Portal-Analyse für Naghûl noch Vorrang. Er übergab sein Ende der Trage an Jana, holte eine Lupe und einen kleinen Klappspiegel hervor und hielt den Spiegel mit der linken Hand so, dass sich das Portal darin spiegelte. Dann nahm er mit der anderen Hand die Lupe und blickte in den Spiegel. Jana sah ihm interessiert zu, wirkte aber dennoch ein wenig unruhig.

„Bitte beeil dich“, bat sie. „Diese Warterei macht mich ganz nervös. Was ist, wenn diese Zamakis uns hier sieht? Ich glaube, sie hat uns durchschaut. Irgendetwas muss sie an uns wahrgenommen haben.“

Lereia nickte. „Ich denke, meinen Geruch hat sie vielleicht erkannt. Oder meinen Gang, ich weiß es nicht ... Ich hoffe, es kam ihr nur bekannt vor und sie konnte es nicht eindeutig zuordnen.“

„Oder vielleicht hat sie auch eine Gabe, die wir gar nicht kennen“, gab Jana zu bedenken.

Naghûl drehte den Spiegel in verschiedene Richtungen und ging einmal an dem Torbogen auf und ab, noch ganz auf den Zauber konzentriert. Dann nickte er zufrieden.

„Ein stabiles Zweiweg-Portal, das in die Feuerebene führt. Der Schlüssel dafür ist eine rote Glasperle, die sich verbraucht.“

Er deutete auf das Säckchen, das Lereia in der Hand hielt, und diese nickte.

„Es könnte natürlich noch ein anderes, geheimes Portal zur Feuerebene geben. Aber das werden wir auf die Schnelle nicht finden.“

„Es wird wahrscheinlich schon das große hier gemeint sein“, vermutete der Tiefling.

Sgillin musterte ernst den großen, steinernen Torbogen. „Also Feuerebene?“

„Ich denke, das wäre die Option, die wir zeitnah untersuchen können“, meinte Lereia. „Wenn dort nichts ist, können wir immer noch versuchen, ein mögliches geheimes Portal zu finden.“

Naghûl nickte und holte aus seinem Beutel für Zauber-Komponenten eine rote Flammenblüte von der Feuerebene hervor. Dann winkte er die anderen näher heran. Lereia holte acht Perlen heraus und gab jedem außer dem scheintoten Kiyoshi zwei. Dann begann Naghûl, die magische Formel zu sprechen, um die Planare Toleranz des Feuers auf die Gruppe zu wirken. Glücklicherweise war es nicht nur recht leer in der Kuppel, es achtete auch niemand wirklich auf sie. Der Tiefling hielt die rote Glasperle in den Torbogen und prompt öffnete sich das Portal. Er atmete einmal tief ein und aus, dann schritt er hindurch.

 

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Kiyoshi spielte an diesem Abend die Leiche, weil sein Spieler nicht da war.

gespielt am 12. Mai 2012

 

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