Das Problem ist nicht die Hitze. Es ist … Hmm … Ja, nein. Es ist die Hitze.“

Haimich Langbein, Halbling und Ebenenreisender, auf der Feuerebene

 


 

Zweiter Dametag von Retributus, 126 HR

 

Als sie durch das Portal traten, wurde Naghûl als erstes die sengende Hitze bewusst – nicht überraschend, aber dadurch dennoch nicht weniger unangenehm. Dank seines Zaubers verbrannten sie nicht in dieser unwirtlichen Umgebung, aber sie spürten dennoch die bedeutende Hitze. Dies vermochte auch die Planare Toleranz nicht zu verhindern. Grell oranges Licht blendete Naghûls Augen, es roch nach Rauch und Ruß. Als er sich nach dem Dämmer der Leichenhalle einigermaßen an die gleißende Helligkeit gewöhnt hatte, sah er sich vorsichtig um. Sie befanden sich in einer palastartigen Anlage aus rotem Marmor, Obsidian, Messing und Kupfer - vielleicht einstmals die Festung eines Ifriti-Prinzen. Das Portal, durch das sie gekommen waren, befand sich in einem Torbogen hinter ihnen, und sie standen auf einem freien Platz im oberen Teil der Anlage. Vor ihnen erstreckten sich einzelne, niedrigere Gebäude, aber auch hohe, schlanke Türme mit Dächern aus gehämmertem Messing. Und dahinter nur ein Meer aus Flammen, zurückgehalten von der Festung wahrscheinlich durch einen unsichtbaren magischen Schild, an dem sie gierig und unaufhörlich leckten. Auch die anderen sahen sich fasziniert um – und fuhren ähnlich erschrocken zusammen, als hinter ihnen eine tiefe, raue Stimme ertönte.

„Hä?“

Sie fuhren herum und erblickten einen stämmigen Hobgoblin. Er trug nur einige wenige Rüstungsteile aus Leder und hielt eine beachtlich große Doppelblatt-Axt in den Händen.

„Asche zu Asche“, stotterte Sgillin überrumpelt.

„Staub … zu Staub, ja ...“, erwiderte der Angesprochene.

Der Hobgoblin machte eher einen verwirrten als einen bedrohlichen Eindruck. Ein Stück hinter ihm standen noch drei andere, offenbar Wächter hier am Portal. Doch sie lehnten lässig an einer Mauer, redeten miteinander und machten keine Anstalten näher zu kommen, vielleicht froh darüber, dass ihr Kamerad sich mit den Ankömmlingen befassen musste.

„Seit wann ... kommen Lebende durch?“ fragte er, offensichtlich leicht überfordert. Dann fiel sein Blick auf Lereia, die noch immer die Kapuze ihrer grauen Staubmenschen-Robe in die Stirn gezogen hatte. „Ähm ...Toranna?“

Er wirkte unsicher, und Lereia suchte geistesgegenwärtig Naghûls Blick, nur für eine Sekunde, für eine kurze Rückversicherung. Auf die Schnelle hatte der Tiefling auch keine bessere Idee und es schien nicht der schlechteste Weg zu sein. So nickte er leicht, fast unmerklich. Lereia trat einen Schritt vor.

„Ja, die bin ich“, antwortete sie dem Hobgoblin, darauf achtend, die weite Kapuze nicht zurückrutschen zu lassen.

„Ahhh ...“ Er nickte. Zumindest schien er Toranna nicht gut genug zu kennen, um den Unterschied der Stimme zu bemerken, und von Größe und Statur her war sie Lereia nicht unähnlich gewesen, wenngleich nicht ganz so zierlich. Dann wanderte der Blick des Hobgoblins zu den anderen. „Warum die da hier? Neue Gehilfen?“

Lereia nickte. „Ich habe ein paar Unterstützer gefunden. War nicht immer so einfach alleine.“

„Und der da?“ Der Wächter deutete auf den reglos unter dem Tuch liegenden Kiyoshi. „Ist für Imogen, wie immer, ja?“

„Genau“, erwiderte Lereia. „Ich bin dieses Mal persönlich gekommen, weil wir etwas zu besprechen haben.“

Naghûl nickte leicht. Bislang manövrierte sie sich recht gut und vor allem unauffällig durch das Gespräch.

Der Hobgoblin lachte nun etwas einfältig. „Ahhh ja, Erleuchtete immer viele Besprechungen.“

Erleuchtete. War das eine offizielle Bezeichnung oder nur ein respektvoller Ausdruck, den der Wächter benutzte? Doch er schien ein wenig zu tumb, um sich eine solche Bezeichnung für seine Herren selber auszudenken. Daher war davon auszugehen, dass nun vielleicht zum ersten Mal der Name jener Gruppe gefallen war, für die Toranna und der Schattendieb arbeiteten. Lereia nickte einmal mehr.

„Kannst du uns zu ihm bringen?“

„Zu wem?“ fragte der Hobgoblin verwirrt.

„Zu Imogen“, erwiderte Lereia, und Naghûl zuckte ein wenig zusammen.

Imogen war ein weiblicher Name ... Der Wächter kratzte sich auch prompt überfordert am Kopf.

„Also doch Imogen? Hä, wie jetzt?“

Ein Glück, dass die Wächter hier am Portal offenbar mit mehr Muskeln als Verstand gesegnet waren. Lereia bemerkte ihren unbeabsichtigten Fehler sofort und schwenkte auf angestrengt um.

„Bring uns einfach zu deinem Boss“, verlangte sie in genervtem Tonfall und rieb sich unter der Kapuze die Stirn.

Der Blick des Hobgoblins wurde immer unglücklicher. „Ähm … welchem Boss jetzt? Marvent?“

„Ja, Marvent“, erwiderte Lereia. „Die Hitze hier macht mich ganz kirre.“

Sie wedelte sich demonstrativ Luft zu, um ihre Worte zu unterstreichen, doch der Wächter hob die Schultern.

„Aber Marvent nich da.“

„Wo ist er?“ fragte die junge Frau nach.

„Ähm, na ja, weiß nich genau.“ Der Hobgoblin war offensichtlich nicht gewohnt, dass man ihm so viele Fragen stellte. „Wahrscheinlich in Seuchentod, denk ich?“

„So ein Mist …“ murmelte Lereia.

„Wieso denn?“

„Na, weil wir was zu besprechen haben.“

„Ach so.“ Der Wächter sah hilflos von ihr zu den anderen, dann wieder zurück zu Lereia. „Na ja … Aber Marvent doch fast nie hier.“

Naghûl spürte, wie er unruhig wurde. Sie wussten zu wenig über die Anlage, die Vorgänge hier und diesen Marvent, um eine solche Unterhaltung weiterhin unauffällig führen zu können. Er hoffte, dass Lereia dies auch spürte und das Gespräch zu einem raschen Ende bringen würde.

„Ich dachte, ich hab vielleicht Glück“, schwächte sie ihre vorherige Frage ab.

Der Hobgoblin wirkte mehr und mehr verunsichert. „Ja … blöd jetzt, irgendwie …“

„Egal“, meinte Lereia schnell. „Wo bringt ihr denn die Leichname hin?“

Nun wirkte der Wächter zum ersten Mal eindeutig skeptisch. „Hä? Toranna, alles gut?“

„Alles bestens“, entgegnete Lereia und bemühte sich dabei recht erfolgreich um eine gelassene Tonlage. „Wir bringen ihn da hin, wo er hin soll.“

„Ja, gut.“ Der Hobgoblin hob die Schultern, das alles wurde ihm offenbar zu viel. „Brauchen Hilfe?“

„Nein, das geht schon“, wehrte Lereia ab. „Ich habe ja Helfer und kenne den Weg.“

Der Wächter nickte, offenbar zufrieden damit, nichts mehr mit der Sache zu tun zu haben und vor allem nicht mehr mit merkwürdigen Fragen belangt zu werden. Er ging zu den drei anderen Hobgoblins hinüber und beteiligte sich an deren Gespräch. Lereia sah sich zu den anderen um.

„Das war knapp“, stellte sie fest, und nun erst war ihre Aufregung ihr anzumerken.

Naghûl klopfte ihr auf die Schulter. „Hast dich gut geschlagen.“

„Danke.“ Sie lächelte kurz, wurde dann aber wieder ernster, als sie ihren Blick über die riesige Festung schweifen ließ.

„Wohin jetzt?“ fragte Jana ein wenig verzagt. „Die Anlage hier ist so groß und Gebäude sind überall. Wo sollen wir diese Imogen finden?“

Das war leider eine ebenso gute wie schwer zu beantwortende Frage. Naghûl sah sich nun noch einmal genauer um. Ihm wurde klar, dass die Festung auf einer Art Plateau stehen musste, das in den Flammen der Feuerebene schwebte. Die Gebäude, die ganze Anlage war aus rotem Marmor und vielleicht auch abyssalischem Granit gebaut. Alles hatte jenen den Ifriti eigenen Architekturstil mit vielen Kuppeldächern und schlanken Minaretten und wirkte wie eine Palastanlage. Es war allerdings recht leer und verlassen für einen solchen Ort, nur hier und da standen einige Wächter, vor allem Hobgoblins und einige Menschen, Halborks und Tieflinge.

„Ich könnte mir vorstellen, dass alles Wichtige eher zentral untergebracht ist“, meinte Naghûl. „Möglichst weit weg von den Flammen, die von außen hereinkämen, sollte der Barriere um die Anlage hier etwas passieren.“

Lereia nickte zustimmend. „Das klingt sinnvoll. Dann erst einmal dort hinauf? Das scheint das Zentrum zu sein.“

Sie deutete auf eine Treppe zu einem deutlich höher gelegenen Platz, der von mehreren Türmen und größeren Gebäuden umgeben war. Naghûl nickte, ein Seufzen darüber unterdrückend, nun erneut den scheintoten Kiyoshi herumzuschleppen, als er Jana wieder an der Bahre ablöste. Auch Sgillin war wenig begeistert.

„Ich kotz gleich …“, murmelte er in sich hinein.

So bewegten sie sich auf die Treppe zu, die in drei Abschnitten und mit für Naghûls Geschmack deutlich zu vielen Stufen zum zentralen Platz des Palastes hinauf führte. Dort oben waren mehrere Brunnen, in denen sich flüssige Lava befand, und in einigen Blumenbeeten wuchsen Tandersol und Salamander-Orchideen. Vor einem der Gebäude standen mehrere Hobgoblins und ein Tiefling.

„Das sieht nach einer wichtigeren Stelle aus“, meinte Naghûl leise. „Vielleicht sollten wir hier unser Glück versuchen.“

„Soll ich wieder versuchen, mich als Toranna auszugeben?“ fragte Lereia zögernd.

Naghûl konnte verstehen, dass seine junge Freundin sich nicht um diese Rolle riss, doch war es im Moment wahrscheinlich eine der besten Optionen. Durch das Gespräch mit dem Hobgoblin am Portal hatten sie nun zumindest ein paar wichtige Informationen bekommen, so dass Lereia die Rolle besser würde spielen können. So nickte er ihr zu, und sie seufzte leise, zog sich aber ihre Kapuze wieder tiefer ins Gesicht und trat auf den Tiefling zu. Er hatte kinnlanges, schwarzes Haar, gebogene rote Hörner und trug eine Rüstung, die offenbar mit Tandersol-Blättern besetzt war. Die metallischen Blätter dieser kleinen Blume hielten Hitze und Flammen ab und machten so das Tragen einer Metallrüstung auf der Feuerebene möglich. Lereia blieb stehen und räusperte sich. Einer der Hobgoblins sah zu dem Tiefling.

„Trent … ähm, Hauptmann, mein ich. Hier, das musst du klären.“

Der Angesprochene seufzte und machte keinen Hehl daraus, dass er wenig begeistert war, die Gruppe zu sehen. Dennoch trat Lereia einen weiteren Schritt auf ihn zu.

„Wir haben einen neuen“, erklärte sie und deutete auf Kiyoshi, der mit bemerkenswerter Disziplin bewegungslos auf der von Sgillin und Naghûl getragenen Bahre ruhte.

Trent wirkte nicht gerade begeistert. „Jetzt wird's aber eng“, stellte er missbilligend fest.

Lereia hob die Schultern. „Ich erfülle nur die Anweisungen. Und ich kann sie ja schlecht bei mir aufbewahren.“

„Mag sein“, seufzte der Tiefling. „Aber der Schattendieb könnte ein bisschen langsamer machen.“

„Hab von 'ner Hure gehört, dass er einer von der schnellen Sorte ist“, warf Naghûl grinsend ein und der Tiefling lachte.

Lereia hingegen warf ihm einen kurzen und irritierten Seitenblick zu. Naghûl räusperte sich entschuldigend und beschloss, sich wieder zurückzuhalten. Er hatte durch den Kommentar ein wenig raues Söldner-Flair in die Situation bringen wollen, sah aber ein, dass er das vielleicht mit seiner Freundin hätte absprechen sollen. Lereia war jedoch glücklicherweise nicht aus der Rolle gefallen und wandte sich nun wieder an den Hauptmann.

„Ja, der Schattendieb scheint sehr ... ambitioniert“, bemerkte sie diplomatisch.

„Ist ja toll, dass er bei Marvent gut dastehen will“, knurrte Trent. „Aber wenn die Zellen überlaufen, bringt uns das auch nicht weiter.“

Sgillin atmete bereits etwas schwerer unter der Last der Bahre. „Habt ihr für den trotzdem noch Platz?“

„Na ja, muss ja irgendwie“, seufzte der Tiefling. „Aber sagt ihm, er soll mal ein paar Tage Pause machen. Hier wird's eng und Imogen arbeitet allein an der Sache.“

Lereia hob abwehrend die Hände. „He, straft nicht den Boten. Wenn ich den Schattendieb sehe, richte ich es ihm aus.“

„Ja, mach das“, erwiderte der Hauptmann und fasste Lereia dann etwas genauer ins Auge. „Hast ziemlich abgenommen. Ganz schön stressig da drüben, oder?“

Lereia seufzte plakativ. „Wie Ihr schon sagtet, er arbeitet zu schnell ... Und ich habe ja nicht immer jemanden, der für mich diese Körper herumschleppt.“ Sie deutete über die Schulter auf die anderen und der Tiefling nickte.

„Hm, ja, verstehe schon ... Ägyptisch, ja?“

Lereia stockte kurz, tat dann, als hätte sie Trent akustisch nicht verstanden. „Wie?“

Er deutete mit der Axt, die er in der Hand hielt, zu einem nahen Gebäude, das ein wenig wie ein Tempel aussah. „Na, weil Brandal das drinnen grade vorbereitet. Ägyptisches Pantheon ... Ach ne, jetzt sag nicht, das war eine Fehlinformation.“

„Ach so“, erwiderte Lereia rasch. „Nein, das wird schon passen. Ich wundere mich nicht, dass manch einer den Überblick verliert.“

„Na, du musst es ja am besten wissen“, meinte der Tiefling schulterzuckend. „Ich hoffe, es stimmt. Ich hab keine Lust, dass ich das wieder Imogen erklären muss. Na, dann geht mal rein, ist schon fast fertig, glaub ich.“

„Alles klar“, nickte Lereia und wandte sich zu den anderen um. „Ihr habt ihn gehört.“

Sie hielten auf das Gebäude zu, auf das der Tiefling gedeutet hatte und warteten, bis sie ein gutes Stück entfernt waren, ehe sie wieder leise miteinander sprachen.

„Sollen wir da rein?“ fragte Jana zögerlich. Sie schien eindeutig nicht glücklich dabei, erneut eine Begegnung mit jenen dubiosen Erleuchteten zu suchen, die für derartig finstere Machenschaften verantwortlich waren.

Naghûl verstand sie, sah aber auch eine Chance darin. „Vielleicht finden wir dort heraus, was mit den Leuten gemacht wird“, gab er zu bedenken.

Lereia und auch Sgillin nickten zustimmend, während Kiyoshi unter dem Tuch weiterhin eisern an seiner Rolle festhielt und vollkommen still und bewegungslos auf der Bahre lag. So näherten sie sich dem Eingang, gespannt, was sie im Inneren erwarten mochte und inzwischen beträchtlich schwitzend. Trotz des magischen Schutzschildes, der die Zitadelle umgab, hatte es wahrscheinlich um die vierzig Grad, was in den Staubmenschen-Roben eine zunehmende Zumutung war. Da sie sich aber auch nicht trauten, diese auszuziehen und ihre Tarnung zu gefährden, war inzwischen jeder Schritt eine Tortur. Als sie außer Sichtweite der Wachen waren, prüfte Lereia einmal kurz durch Anheben des Tuches, ob Kiyoshi auf der Trage überhaupt noch bei Bewusstsein war. Er war es, und das eher dünne Tuch ließ wohl mehr Luft zu ihm durch, als sie befürchtet hatten, so dass sie ihn ohne Bedenken wieder zudecken und weitertragen konnten. So betraten sie den Tempel, der zu ihrer aller Erleichterung deutlich kühler war als die großen Plätze und Balustraden draußen. Naghûl atmete auf und sah sich um. Wie Trent angedeutet hatte, wurde hier offenbar etwas für das ägyptische Pantheon vorbereitet. An den Wänden befanden sich bunte Fresken, die Kraniche, Katzen und Lotosblüten zeigten, Skarabäen, Sonnensymbole und Menschen in weißen Lendenschurzen bei der Schilfernte. Und dazwischen immer wieder ein Greifvogel mit bunten Flügeln, der das Lebenssymbol in den Krallen hielt sowie ein großes Auge. Die Symbole des Gottes Horus, wie Naghûl erkannte. Der Boden war aus hellem Sandstein, die Decke wurde von mächtigen, mit Hieroglyphen verzierten Säulen getragen. Am anderen Ende, gegenüber des Eingangs, befand sich ein erhöhtes Podest vor einer mächtigen Vogelstatue. Auf dem Podest stand, gehalten von einem verschnörkelten, goldenen Gestell, ein großer roter Kristall, der in einem schwachen Licht pulsierte. Ein jüngerer Mann mit dunkler Haut und abgeschorenem Haar schien gerade etwas an der Halterung zu justieren, während ein älterer, hellhäutigerer Mann mit grauem Bart offenkundig nervös dabei zusah. Der jüngere trug nur einen weißen Lendenschurz, der ältere war in ein Gewand aus weißem Leinen gekleidet, das in komplizierte Falten gelegt war. Zudem trug er auffälligen und wertvollen Schmuck mit den Symbolen des Horus. Etwas weiter entfernt stand noch eine Wächterin, eine menschliche Frau, die lässig an einer Säule lehnte und dabei einen gelangweilten Eindruck machte.

„Pass da mal auf, Margram“, sagte der Ältere angespannt zu dem Jüngeren. „Der Kristall ist anfällig für Erschütterungen.“

„Ich weiß, Brandal“, erwiderte der mit Margram Angesprochene angestrengt. „Ich mach das nicht zum ersten Mal ...“

Als sie das Podest fast erreicht hatten, hörte der ältere Mann offenbar ihre Schritte und drehte sich um.

„Was soll das?“ fragte er genervt, ohne sie dabei wirklich anzusehen. „Wir sind noch nicht so weit.“

„Draußen hieß es, Ihr wäret fast fertig“, erwiderte Lereia, nicht zu freundlich, aber auch ohne jeden genervten Beiklang.

Der Mann wandte sich nun ganz um, musterte sie kurz und runzelte die Stirn. „Was geht hier vor?“ fragte er skeptisch. „Warum ist Toranna nicht da? Wer seid Ihr?“

Verdammt, dachte Naghûl bei sich. Dieser hier kannte Toranna offenbar besser als die Wächter draußen. Er hatte schon an Lereias Stimme gehört, dass es sich nicht um seine Kollegin handelte. Ein Glück, dass er es sofort so deutlich zu erkennen gegeben hatte, denn so konnte die junge Frau reagieren. Sie schwenkte auch sofort um.

„Toranna hat mich statt ihrer geschickt“, erklärte sie so ruhig wie möglich.

„Wieso?“ fragte der Mann misstrauisch. „Wer seid Ihr? Wie sind Eure Namen?“

„Mahla“, antwortete Lereia knapp, aber ohne zu zögern.

„Ich habe nie von Euch gehört“, entgegnete der Priester – so er denn überhaupt einer war.

„Wahrscheinlich, weil ich Toranna bisher nur bei den Vorbereitungen geholfen habe“, erklärte Lereia. „Warum sie Euch nichts erzählt hat, kann ich Euch nicht beantworten. Klärt das bitte mit Toranna oder mit Marvent selbst. Ich erledige nur die Arbeit. Und bei allem Respekt, wir wären froh, wenn wir sie zu Ende bringen könnten und nicht ständig mit dem Kerl im Schlepptau weitergeschickt würden.“

Sie deutete auf die Bahre mit dem reglos daliegenden Kiyoshi. Naghûl spürte, dass die Situation gerade brenzlig wurde – was auf der Feuerebene irgendwie eine spezielle Ironie hatte. Er beschloss daher, dass Angriff in diesem Fall vielleicht die beste Verteidigung war und kam Lereia mit einer etwas offensiveren Haltung zu Hilfe, während er sein Ende der Bahre an Jana übergab.

„Ich hab doch gleich gesagt, sie soll dir ein Schreiben mitgeben“, meinte er genervt. „Aber ne, muss man ja nicht. Die Dame denkt offenbar, die Welt liegt ihr zu Füßen.“

Er hatte offenbar einen gewissen Punkt getroffen, denn Brandal seufzte nun etwas resigniert.

„Das denkt sie wirklich manchmal.“ Doch sogleich wurde er wieder ernster und fasste die Gruppe scharf ins Auge. „ Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie jemand völlig neuen schickt ohne uns zu benachrichtigen. Also ...“ Er blickte zu der nahebei stehenden Wächterin.

„Alles klar, verstehe“, erwiderte Naghûl rasch und energischer im Tonfall als zuvor. „Macht doch Eure Drecksarbeit alleine. Ich fass es nicht.“

Seine Heftigkeit schien zu verfangen, denn Brandal wandte den Blick wieder von der Wächterin ab und seufzte genervt. Vielleicht rechnete er nicht damit, dass wirkliche Hochstapler sich so angriffslustig geben würden.

„Wart Ihr wenigstens schon bei Imogen?“ wollte er wissen.

Der Tiefling verdrehte die Augen. „Verdammt nochmal, natürlich nicht. Die Hobs unten haben uns ja direkt hierher geschickt.“

„Die sind auch hirnlos wie Manes“, knurrte der Priester. „Marvent soll mal Söldner anheuern, die ein bisschen Hirn haben.“

Naghûl nickte beipflichtend. „Also, die Trottel könnt ihr echt mal austauschen.“ Er sah zu der Wächterin. „Leute wie sie, die braucht ihr!“

Die Frau nickte zufrieden, und Brandal fuhr sich angestrengt über die Stirn.

„Bei den stinkenden Sümpfen von Minauros ...“

Naghûl beschloss, dass es an der Zeit für taktisches Einlenken war. „Also gut, tut mir leid, dass die Damen hier so einen Stress machen. Lasst uns die Sache einfach zu Ende bringen.“ Er sah sich kurz um und nickte anerkennend. „Horus, oder?“

Brandal wollte schon etwas erwidern, als ein Klappern vom Podest hinter ihm ihn herumfahren ließ.

„He, pass auf mit dem Ding!“ fuhr er den zuvor mit Margram Angesprochenen an. „Du spielst mit unserem Leben, so wie du da rummachst!“

„Ich pass schon auf“, erwiderte der jüngere Mann seufzend.

Dann wandte Brandal sich wieder Naghûl zu. „Horus, genau.“

„Klasse, echt gut.“ Der Tiefling nickte. „Ihr habt hier echt Ahnung.“

Ob sie die tatsächlich hatten, hätte seine Frau Morânia wahrscheinlich besser beurteilen können. Sie kannte sich mit den Riten und der Symbolik zahlreicher Pantheen sehr gut aus und hätte vielleicht erkennen können, ob der Tempel eine treffende Fälschung war. Von dem, was Naghûl selbst über Horus wusste, schien es einigermaßen zu passen. Doch wenn man an Eliaths Geschichte über die merkwürdigen Anweisungen des vorgeblichen Morgenfürsten dachte, konnte man die Kompetenz der „Priester“ hier wohl zu recht anzweifeln. Brandal jedoch nickte zufrieden über Naghûls vorgeschwindeltes Lob.

„Danke. Leider haben wir auch viel zu viel Arbeit, Mann. Also, geht zu Imogen und besorgt Euch einen Pass oder was weiß ich.“

„Alles klar“, meinte Naghûl. „Und da wir ja neu sind und nicht wieder auf die dümmlichen Hobs angewiesen sein wollen: Wo finden wir Imogen?“

Aufgrund des Vorgeplänkels von gerade eben schien Brandal bei der Frage glücklicherweise keinen Verdacht zu schöpfen. „Aus dem Tempel raus und dann links, der Turm.“

Der Tiefling nickte. „Wunderbar. Danke und entschuldigt den Aufruhr. Wir sind auch angefressen wegen der Hitze und so. Man sieht sich!“

„Macht keinen Blödsinn“, bemerkte Brandal noch mahnend, ehe er sich wieder zu seinem Assistenten umwandte. „Margram, weg von dem Kristall“, rief er. „Du machst mich ganz irre. Weg da!“

Der junge Mann murmelte genervt etwas, das sie jedoch bereits nicht mehr verstehen konnten, als sie sich beeilten, den Tempel zu verlassen. Draußen mussten sie sich nicht lange orientieren, sondern erkannten sogleich den links vom Tempel aufragenden Turm, von dem Brandal gesprochen hatte. Ein gelangweilt wirkender Hobgoblin-Wächter winkte sie weiter ohne sie wirklich zu beachten. Naghûl fluchte innerlich, als sie im Inneren des Turmes erneut vor einer Treppe standen. Er hatte Jana wieder an der Bahre abgelöst und war in großer Versuchung, Kiyoshi zu bitten, aufzustehen und die Treppe selber hochzugehen. Es war ja niemand hier, der es sehen konnte. Natürlich wusste er, dass es viel zu leichtsinnig gewesen wäre, dass ihnen jederzeit jemand hätte entgegen kommen können. So schob er den lästigen, aber bequemen Gedanken seufzend beiseite und rangierte gemeinsam mit Sgillin die Bahre mit ihrem Scheintoten einmal mehr eine gewundene und zu enge Treppe hinauf. Oben angekommen trafen sie erneut auf einen Hobgoblin, der ihnen jedoch wortlos die der Treppe gegenüberliegende Tür öffnete. In dem Raum, von dem wiederum zwei Türen abgingen, saß hinter einem Schreibtisch eine Githzerai, bei der es sich um Imogen handeln mochte. Nicht weit von ihr, vor einer der Türen, stand ein weiterer Wächter. Ganz kurz versuchte Naghûl im Vorbeigehen, an dem Mann vorbei einen Blick in den kleinen Raum dahinter zu erhaschen, erkannte flüchtig eine große Glasröhre und einen Tisch mit diversen Zutaten. Doch er ging rasch weiter Richtung Schreibtisch, um keinen Verdacht zu erregen. Die Gith hielt eine Feder, mit der sie unglaublich schnell über ein Pergament kratzte, und neben ihr auf dem Tisch ringelte sich eine weiße Kobra. Als die Gruppe den Raum betrat, sah sie auf, offenbar wenig erfreut, in ihrer Arbeit unterbrochen zu werden.

„Grüße“, sagte Naghûl und neigte leicht den Kopf. „Wir kommen von Toranna und sollen uns bei Imogen melden.“

Forschend, ja fast durchbohrend sah die Githzerai ihn an. „Was heißt hier von Toranna? Wer seid Ihr? Warum kommt sie nicht selber?“

Der Tiefling hob mit einer entschuldigenden Geste die Hände. „Sie meinte, sie könne nicht weg, weil ihr irgendeine Vampirin im Nacken sitzt. Ich bin Morlag. Wir helfen ihr ein wenig – gegen entsprechende Entlohnung. Aber das machen wir natürlich mit ihr selber aus.“

Imogens gelbe Augen wurden schmaler. „Sie hat Euch dann gewiss ein Schreiben mitgegeben, in dem sie das erklärend darlegt?“

Naghûl seufzte demonstrativ. „Natürlich nicht.“ Er nickte gen Lereia. „Weil sie da eine ach so gute Freundin von ihr ist. Die beiden meinten, wir bräuchten das nicht. Jedenfalls haben wir dieses halbe Hemd dabei, den wir für den Schattendieb herschleifen sollen.“

Er deutete dabei zu Kiyoshi, während Lereia wieder mit einstieg, indem sie genervt schnaufte und die Arme verschränkte.

„So?“ Imogens Stimme glich fast einem Zischen. „Nun, sie ist aber keine ach so gute Freundin von mir.“

„Kann ich auch nichts dafür“, erwiderte Naghûl entschuldigend. „Ich will hier auch keinen Stress anfangen. Wir sollen uns diesen Pass holen, meinte der nette Herr im falschen Horus-Tempel. Damit es keine Probleme gibt.“

Die Githzerai stand nun auf und musterte ihn nachdenklich, während die weiße Kobra auf dem Schreibtisch leise zischelte.

„Ich wirkt recht überzeugend, zugegeben ... Aber ich habe Anweisungen.“

„Alles klar. Die wären?“

Imogens Augen verengten sich. „Dass sich hier niemand aufhalten darf, der sich nicht eindeutig ausweisen kann.“

„Nun ja, deswegen sind wir ja hier“, wandte Naghûl höflich ein.

Das Wesen der Githzerai schien noch ein wenig abzukühlen, falls das möglich war. „Ihr könnt Euch aber nicht ausweisen, wie ich das sehe.“

Jana begann, unruhig auf den Zehenspitzen zu wippen und warf einen abschätzenden Blick zu dem Hobgoblin, der noch immer in der Eingangstür stand. Naghûl beschloss, es weiterhin mit Höflichkeit zu versuchen, alles andere würde bei der Githzerai wahrscheinlich nicht verfangen.

„Das ist richtig“, gab er zu. „Wir können uns erst ausweisen, wenn Ihr uns einen Pass gebt - oder nicht. Demnach obliegt es ganz alleine Euch, ob wir uns ausweisen können. Zumindest, wenn ich den Herrn im Tempel richtig verstanden habe.“

Imogens Stimme wurde zu einem leisen Zischen, das unangenehm an die Kobra auf ihrem Tisch erinnerte. „Ihr versucht hier offenbar, kleine Wortspielchen mit mir zu spielen. Ihr könnt keinen Pass bekommen, wenn ich nichts habe, womit ich mir Eurer wirklich sicher sein kann.“ Sie gab dem Hobgoblin ein kleines Zeichen, woraufhin dieser die Tür schloss, jedoch selber im Raum blieb und direkt am Ausgang Stellung bezog. „Ich möchte mir den Leichnam mal ansehen.“

Ein siedender Schreck durchfuhr Naghûl. Das Mal. Sie hatten es nicht aufgezeichnet! Bei allem Planen und Durchdenken, was passieren könnte und was sie am besten sagen sollten, hatten sie tatsächlich vergessen, Kiyoshi das entsprechende Symbol hinter dem rechten Ohr aufzuzeichnen. Im Boden hätte er versinken können über einen derartigen Schnitzer. Für eine Sekunde durchzuckte ihn der Gedanke, wie froh er darüber war, dass nicht er Sarin das würde berichten müssen. Er sah, wie Lereia schwer schluckte und Sgillin und Jana blass wurden. Das war es gewesen mit der Tarnung. Sie würden kämpfen müssen, da war er sich sicher. Trotzdem wahrte er noch eine nichtsahnende Miene, um den Moment der Überraschung nutzen zu können.

„Ach, wegen dem Mal vom Schattendieb?“ fragte er leichthin.

Ohne dass auch nur das kleinste Zeichen notwendig gewesen wäre, setzten er und Sgillin die Bahre ab und traten ein wenig zurück. Jana drehte die Handflächen leicht nach außen, während Imogen zu Kiyoshi hinüberging ohne Naghûls Frage mit einer Antwort zu würdigen. Dann drehte sie dessen Kopf so, dass sie hinter das rechte Ohr sehen konnte. Naghûl hielt den Atem an, als Imogen sich wieder aufrichtete und ihn mit scharfem Blick maß. Dann trat sie hinter ihren Schreibtisch und streckte den linken Arm in Richtung der weißen Kobra aus. Das Tier kroch sofort zu ihr und schlängelte sich zischend um ihr Handgelenk. Die Githzerai sah zu dem menschlichen Wächter und dem Hobgoblin.

„Angriff!“ befahl sie, kaum weniger zischend als ihre Schlange.

Lereia wich sofort zum hinteren Ende des Raumes zurück, da sie in ihrer menschlichen Gestalt körperliche Auseinandersetzungen nach Möglichkeit mied. Der Mensch und der Hobgoblin stürmten vor, vorbei an ihrem einzigen, noch auf der Bahre am Boden liegenden Nahkämpfer. Der rappelte sich zwar gerade hoch, nachdem er Imogens Angriffsbefehl gehört hatte, hatte aber Schwierigkeiten, sich von dem Tuch zu befreien und war zudem leider weder gerüstet noch bewaffnet. Sgillin versuchte, möglichst rasch seinen Bogen hervorzuholen, was sich aber auch als schwierig erwies, da er ihn gut unter der Robe verborgen hatte. So waren nur Naghûl und Jana in diesem Moment wirklich handlungsfähig. Einige magische Geschosse sausten durch den Raum – sie trafen den Hobgoblin, den sie beide anvisiert hatten. Dadurch ging dieser zwar zu Boden, jedoch gab es leider dem Menschen Gelegenheit, Naghûl zu erreichen und ihm mit seiner Klinge einen Streich zu versetzen, der ihm die linke Schulter aufschlitzte. Mit einem Fluchen stolperte der Tiefling zurück, um der Reichweite des Wächters zu entkommen, als ein weiter Zauber gewirkt wurde – jedoch nicht von Jana, sondern von Imogen. Er traf Sgillin, gerade als dieser einen Pfeil auf die Sehne legen wollte, und der Halbelf sank besinnungslos zu Boden. Da Naghûl zurückgewichen war, drang der Wächter nun auf Jana ein, unterbrach sie dabei in ihrem nächsten Zauber, den sie fallen ließ, um sich vor der Klinge des Mannes in Sicherheit zu bringen. Lereias Augen verfärbten sich nun türkis, sie hatte offenbar beschlossen, verwandelt in den Kampf einzugreifen – doch würde es mindestens eine Minute dauern, ehe sie so weit war, das wusste Naghûl. Er beschloss, dass Imogen die gefährlichere Gegnerin war, vertraute auf Janas arkane Fähigkeiten, um sich vor dem Wächter zu schützen. So biss er die Zähne zusammen, um den Schmerz in seiner aufgeschnittenen Schulter zu ignorieren und beschwor seinen nächsten Zauber herauf, im Blick die Githzerai-Magierin. Ihre gelben Augen wurden schmal, sie zischte etwas – und verschwand dann, in einem kurzen, aber hellen Aufblitzen. Der Wächter, der gerade erneut nach Jana ausgeholt hatte, sah es aus dem Augenwinkel und knurrte.

„Diese Gith und ihre Ebenenhopserei …“

Zu mehr kam er nicht mehr, denn es war ein dumpfes Geräusch zu hören und er ging wie ein nasser Sack zu Boden. Hinter ihm stand Kiyoshi, in den Händen einen gusseisernen Stuhl, mit dem er den Mann offenbar niedergeschlagen hatte. Ohne Waffe oder Rüstung auf der Bahre war er nicht gerade in einer guten Position für einen Kampf gewesen, doch den Überraschungsmoment hatte er trefflich zu seinen Gunsten genutzt – ebenso wie die Inneneinrichtung. Als klar war, dass kein Gegner mehr übrig war, unterbrach Lereia ihre Verwandlung. Die Nähte der Robe hatten schon geknackt, ihr Gesicht und die Hände waren schon von Fell bedeckt und Mund und Nase deutlich zu einer raubtierhaften Schnauze nach vorne gewachsen. Nun aber bildeten sich all diese Merkmale rasch zurück, als sie zu Sgillin hinüber eilte und ihn untersuchte.

„Er lebt“, meldete sie erleichtert. „Es war nur ein Betäubungszauber.“

Währenddessen hatte Jana wortlos einen Heiltrank aus einer ihrer Gürteltaschen geholt und reichte ihn Naghûl. Dankbar nahm der Tiefling ihn entgegen, entkorkte ihn und leerte die kleine Flasche in einem tiefen Zug. Es wäre besser gewesen, die Wunde vorher zu reinigen, vielleicht auch zu nähen, das war ihm bewusst. Doch dafür war keine Zeit. So riss er den Stoff der Robe weit genug auf, um gut an den Schnitt zu kommen – ein glücklicherweise nicht sehr langer und nicht allzu tiefer, aber glatter Klingenschnitt, den er nun mit der rechten Hand zusammenpresste, damit die Wunde beim Heilen nicht auseinander klaffte. Er lehnte sich gegen die Wand, während er wartete, dass der Trank seine Wirkung tat und nickte dabei Kiyoshi zu.

„Gute Idee mit dem Stuhl.“

„Ein Angriff von hinten entspricht leider nicht gerade den Tugenden des Bushido“, erwiderte der junge Mann etwas unglücklich, während er den eisernen Stuhl abstellte.

„Du hattest keine Wahl“, meinte Jana tröstend. „Ich denke, da kann man schonmal eine Ausnahme machen.“

Kiyoshi wirkte nicht ganz so überzeugt, nickte aber lediglich mit ernster Miene. Naghûl ließ seinen Blick schnell, taktierend, abtastend über den Raum schweifen.

„Wir müssen schnell hier raus“, meinte er. „Ich würde sagen, wir nehmen alles mit, was interessant aussieht und sehen dann zu, dass wir wegkommen.“

Während sie vorsichtig versuchte, Sgillin aufzuwecken, schaute Lereia auf die Stelle, an der gerade eben noch Imogen gestanden hatte. „Wo ist diese Frau hin?“

„Githzerai können die Ebenen wechseln“, erklärte Naghûl. „Aber sie wird sich sicher hüten, in Kürze wieder hierher zu kommen. Der Radius eines solchen Sprungs ist nämlich sehr groß und ungenau.“

Unterdessen war Jana an den Schreibtisch herangetreten und hatte die dort liegenden Pergamente durchwühlt. Eine der Seiten zog sie nun aus dem Stapel und hielt sie hoch.

„Hier ist von vier Personen die Rede, die derzeit noch in Haft sein sollen. Da steht: Derzeitige Gefangene: Alvion, Shill, Clarent, Ulfwald … Status: Prozedur durchgeführt … noch in Haft. Diese vier Namen standen alle auf Torannas Liste, mit einer Bund-Zugehörigkeit.

Naghûl nickte und Kiyoshi half der Hexenmeisterin, alle Pergamente von Imogens Schreibtisch zu verstauen. Währenddessen kam auch Sgillin mit einem leisen Stöhnen wieder zu sich, und Lereia half ihm dabei, sich wieder aufzurappeln. Inzwischen hatte auch der Heiltrank seine Wirkung getan, und die Wunde an Naghûls Schulter war wieder einigermaßen zugeheilt. Nachdem es auf dem Schreibtisch nichts Interessantes mehr zu finden gab, gingen sie in den Nebenraum, in dem Naghûl beim Hereinkommen die große Glasröhre entdeckt hatte. Es schien eine Art Labor zu sein. Neben der vom Eingang aus sichtbaren Glasröhre befanden sich dort noch drei weitere, groß genug, um einen durchschnittlichen Humanoiden zu fassen. Sie waren jedoch alle leer. Daneben stand ein Tisch mit zahlreichen alchemistischen Zutaten sowie ein weiterer, an dem eiserne Hand- und Fußfesseln angebracht waren. An einer der Wände hing ein Plakat mit der detaillierten Darstellung eines Gehirns. Neben dem Tisch mit den Metallschellen stand eine Art Steuerpult, dessen Beschriftung Naghûl jedoch nicht lesen konnte – wenn es sich überhaupt um eine Sprache handelte. Der Tiefling runzelte die Stirn.

„Einiges hier sieht mir rein mechanisch aus und anderes hat offenbar mit Alchemie zu tun. Kaum etwas Arkanes.“

Jana nickte zustimmend. „Alchemie zum Zwecke der Geistesbeeinflussung.“

„Was könnte dieses Pult zu bedeuten haben?“ fragte Lereia.

Naghûl hob die Schultern. „Ein Kontrollpult? Keinen Schimmer …“

„Dann geschieht die Beeinflussung der Personen vielleicht gar nicht über Magie“, mutmaßte Lereia. „Nur der Schattendieb hat magisch gearbeitet.“

„Die Frage ist nur, warum?“ grübelte Jana. „Warum über Alchemie statt Magie?“

„Vielleicht lässt sich Alchemie schwieriger erkennen oder aufspüren?“ überlegte Sgillin.

Jana wollte schon etwas erwidern, als sie plötzlich unnatürlich blass wurde und sich an dem Tisch mit den Zutaten festhielt. „Oh … ich glaube, ich sollte mich …“ Sie ging mit ein paar schwankenden Schritten um den Tisch herum, sank zu Boden und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand.

„Eine Vision?“ fragte Lereia und kniete sich neben sie.

Doch die Hexenmeisterin konnte nicht mehr antworten. Ihre Augen verdrehten sich unter die Lider, wie immer, wenn sie etwas sah, und ihr Kopf zuckte leicht hin und her. Doch anders als beim letzten Mal in Sarins Büro, nahm sie die anderen dieses Mal nicht mit. So standen sie unruhig um Jana herum, im vollen Bewusstsein, dass der Zeitpunkt für eine Vision kaum ungünstiger sein konnte. Doch wagten sie auch nicht den Versuch, Jana herauszureißen, zu besorgt, was dies vielleicht bei ihr anrichten konnte. Zu ihrer aller Erleichterung dauerte es nicht allzu lange, bis Jana wieder zu sich kam, ihre Augen wieder geradeaus sahen und ihr Blick sich klärte. Sie atmete ein paarmal tief durch und lehnte, noch etwas desorientiert, den Kopf gegen die Wand.

„Was hast du gesehen?“ fragte Lereia vorsichtig.

„Ich habe … diese Imogen gesehen“, antwortete Jana, noch etwas matt. „Hier, in diesem Raum. Sie hat etwas gebraut. Und Eliath war auch hier, gefesselt an diesen Tisch da.“ Sie deutete auf den Tisch mit den metallenen Schellen. „Und da war noch jemand, eine Gestalt in einer dunklen Robe. Imogen hat eine Spritze mit einer roten Flüssigkeit aufgezogen und fragte die Gestalt, ob er soweit sei. Der Vermummte meinte, er müsse noch in Eliaths Geist eindringen und ihn ganz auftrennen. Das hat er dann wohl getan. Eliath schrie und dann ... bin ich aufgewacht.“

Sie holte Luft und schloss die Augen, um sich wieder zu erden, während Lereia ihr beruhigend die Hand auf die Schulter legte. Naghûl wiegte nachdenklich den Kopf.

„Vielleicht war der Mann in der Robe ein Psioniker. Sie beherrschen Telepathie und Telekinese, können im Astralraum Dinge formen und sogar körperlichen Schaden durch ihre Geisteskräfte verursachen. Auch im Limbus haben sie sehr viel Macht. Äußerst gefährliche Leute. Dass so jemand in Eliaths Geist eindringen und etwas bewirken wollte, kann ich mir durchaus vorstellen. Vielleicht sollte er ihn anfällig für eine Art Psychogift machen, das Imogen gebraut hatte. Und der Mann in der Robe hat dann wohl seinen Geist umgekrempelt.“

Während Janas Vision und der anschließenden Überlegungen hatten sie gar nicht bemerkt, dass Kiyoshi nicht bei ihnen war. Er hatte sich offenbar in den anderen Raum begeben, um diesen zu untersuchen, und kehrte nun zurück. Er war jedoch nicht allein, sondern trug ein katzengroßes, sehr nasses Tier auf den Händen.

Es sah aus wie eine Kreuzung aus Fischotter und Echse mit sehr großen Ohren. An Kopf, Vorderbeinen und Rücken hatte es ein braun-gelb getigertes Fell. Bauch, Hinterbeine und ein langer Schwanz jedoch waren mit schwarzen, roten und blauen Schuppen besetzt. Interessiert musterte Sgillin das Wesen.

„Was hast du denn da?“, fragte er Kiyoshi.

„Das war in einer der Röhren in dem anderen Raum“, erklärte der junge Soldat. „Ich dachte, es bestünde der Plan, wichtige Beweisstücke mitzunehmen. Falls dies kein Beweisstück ist, bitte ich vielmals um Vergebung.“

„War an der Röhre irgendwas Besonderes?“ erkundigte der Halbelf sich.

„Sie hatte dieses Wesen in sich“, erwiderte Kiyoshi prompt.

Naghûl unterdrückte ein Schmunzeln und Sgillin grinste etwas.

„Ja, das ist mir bewusst. Ich meine irgendwelche Zeichen, eine Beschriftung oder Sonstiges?“

Der junge Mann schüttelte mit unverminderter Ernsthaftigkeit den Kopf. „Sie war unmarkiert.“

Sgillin nickte. „Ich hoffe, du kannst den Kleinen so transportieren, dass er dich nicht behindert, falls wir schnell fliehen müssen.“

„Ich werde mein Möglichstes tun, ehrenwerter Sgillin-san“, erwiderte Kiyoshi.

Inzwischen war Jana wieder auf den Beinen und Lereia sah sich angespannt um.

„Das waren alle Räume, und ich denke, wir haben alles Wichtige eingesammelt. Wir sollten langsam zurück gehen, denke ich.“

Naghûl nickte. Er war höchste Zeit zu gehen, ehe noch mehr Wachen auftauchten.

Doch Jana zögerte. „Aber die Gefangenen. Wir können sie nicht hier lassen, oder?“

Sgillin drehte sich zu ihr um. „Doch, müssen wir“, erwiderte er ernst. „Wir informieren ihre Bünde. Die sollen sich dann ihrer annehmen, wenn sie zurück sind.“

Jana hatte noch immer den Zettel mit den Namen der Gefangenen in der Hand und hielt diesen nun hoch. „Hier steht, dass die Prozedur schon durchgeführt wurde. Ich nehme an, sie werden dann von denen hier … diesen Erleuchteten … sicherlich zurück nach Sigil gebracht? So wie auch Eliath?“

„Bestimmt“, meinte Naghûl. „Aber nun wissen wir, wer sie sind und die Bünde können reagieren.“

„Und wenn die Prozedur bereits durchgeführt wurde“, gab Lereia zu Bedenken, „können wir nun auch nichts mehr für sie tun. Und dann werden sie sicher zurück nach Sigil geschickt.“

Sgillin wartete bereits ungeduldig an der Tür, Kiyoshi mit dem nassen Tier stand ruhig neben ihm.

„Eben“, sagte der Halbelf mit Nachdruck. „Deswegen müssen wir ... und zwar nur wir ... schnellstmöglich zurück. Wenn wir draufgehen, dann ist es Essig mit der Prophezeiung.“

Kiyoshi nickte zustimmend. „Wir haben keinerlei Befehle, sie zu retten. Aber wir haben den Befehl, Informationen zu sammeln. Das hat also Priorität.“

Jana gab sich geschlagen. „Also gut. Wenn diese Leute sie ohnehin zurück nach Sigil schicken werden, müssen wir sie wahrscheinlich nicht unter großen Risiken befreien.“

Naghûl atmete auf, dass es keine längere Diskussion gab, und auch Lereia wirkte erleichtert.

„Also dann“, meinte sie. „Möglichst unauffällig zurück zum Portal?“

Sgillin nickte. „Am besten unsichtbar.“

Diesem Plan stimmten alle zu, und so verschmolzen Sgillin und Lereia mit den Schatten, während Jana und Naghûl einen Unsichtbarkeitszauber auf sich selbst und Kiyoshi legten. So leise wie möglich schlichen sie die Treppen hinunter und verließen den Turm. Draußen waren nicht mehr Wachen zu sehen als zuvor und alles schien ruhig. Sollten sie tatsächlich das Glück haben, dass noch niemand von dem Zwischenfall im Turm etwas mitbekommen hatte? Trotz ihrer Unsichtbarkeit blieben sie in größtmöglichem Abstand zu allen Wächtern, denn gerade Hobgoblins hatten einen guten Geruchssinn. Mit klopfendem Herzen schafften sie es bis zur Treppe, Sgillin und Lereia vorne, in der Mitte Kiyoshi mit dem geretteten Tier. Dann kam Naghûl, und Jana bildete das Schlusslicht. Nur noch die Stufen der dreiteiligen Treppe, dann waren sie schon fast am Portal … drei Abschnitte … zwei … der letzte. Unten angekommen blieben Sgillin und Lereia kurz stehen, damit die anderen aufschließen konnten. Nun mussten sie nur noch an den Hobgoblins am Portal … Naghûl stockte. Da war niemand. Warum war das Portal nicht mehr bewacht? Das konnte unmöglich ein Zufall sein. Es roch nach … Noch ehe er das Wort Falle zu Ende denken konnte, hörte er hinter sich einen unterdrückten, aber erschrockenen Aufschrei von Jana. Sie fuhren herum und erkannten, dass jemand ihnen gefolgt war – offenbar ebenso unsichtbar, sie aber sehr wohl sehend. Und er hatte die Hexe überraschend von hinten gepackt. Trent, der Tiefling, mit dem sie kurz zuvor noch gesprochen hatten. Er hielt einen Dolch gegen Janas Kehle gedrückt.

„Ich hab euch zu Imogen reingehen sehen“, erklärte er grimmig. „Und dann Kampflärm gehört. Was war da los?“

Im selben Moment kamen auch die vier Hobgoblins hinter einer der Ecken hervor, die die Portalwache gebildet hatten. Verdammt, es war tatsächlich eine Falle gewesen. Naghûl rieb die Fingerspitzen gegeneinander, fühlte die arkane Energie dazwischen britzeln, doch wagte er nicht, die Hände für einen Zauber zu heben. Der Dolch von Trent saß direkt an Janas Hals, er würde ihr schneller die Kehle durchschneiden als Naghûl zaubern konnte. Sgillin schätzte die Lage offenbar ähnlich ein, eine seiner Hände lag auf dem Köcher, doch er zog keinen Pfeil heraus. In diesem Moment sagte Kiyoshi etwas, das der Sinnsat nicht verstehen konnte und das sehr fremdartig klang. Es erinnerte ihn an das Gespräch, welches Kiyoshi mit der Metallfratze geführt hatte. Doch diesmal war es offenbar nur ein Wort gewesen, kurz, knapp und energisch, fast wie ein Befehl ausgesprochen. Fragend sah Naghûl zu Kiyoshi, der nun – noch immer das Tier in den Armen – entschuldigend die Schultern hob. Was auch immer er versucht haben mochte, es hatte zumindest keine wahrnehmbare Auswirkung gehabt. Trent schaute kurz irritiert zu Kiyoshi, dann setzte er an, etwas zu sagen. Doch im selben Moment tauchte nun auch hinter ihm eine Gestalt auf … deutlich kleiner und zierlicher als der Wächter und daher von diesem fast verdeckt. Eine schlanke Hand packte von hinten eines seiner Hörner und riss ihm den Kopf zurück, offenbar mit deutlich mehr Kraft als es Größe und Statur der Gestalt hätten vermuten lassen. Dabei wurden schwarzes Haar und ein Ärmel aus dunkelblauem Brokat sichtbar … War das etwa … ? Ja, sie war es. Zamakis stand hinter Trent, hatte blitzschnell seinen Kopf zurückgebogen und schlug ihm nun ihre Fangzähne tief in den Hals. Überrascht riss Naghûl die Augen auf und hörte Sgillin neben sich scharf einatmen. Trent schrie schmerzerfüllt auf, Blut strömte über seinen Hals, dann riss Zamakis ruckartig seinen Kopf zur Seite und man hörte die Halswirbel brechen … Der Körper des Wächters erschlaffte, die Arme glitten von der noch immer schreckensstarren Jana ab und der Dolch fiel klirrend zu Boden. Dann ließ Zamakis ihn achtlos fallen.

„Autsch …“, murmelte Sgillin, verlor aber keine Zeit, zog einen Pfeil aus dem Köcher und schickte ihn einem der Hobgoblins direkt zwischen die Augen.

Auch Naghûl nutzte sofort seine Chance und beschwor einen Hagel magischer Geschosse herauf, die zielsicher auf einen der anderen Wächter zurasten. Die beiden übrigen nahmen die Beine in die Hand und rannten. Der Tiefling konnte sich ein höhnisches Grinsen nicht verkneifen. So viel zu den Söldnern dieser so genannten Erleuchteten. Als klar war, dass die Gefahr vorerst gebannt war, traten sie alle überrascht und neugierig näher an Zamakis heran. Diese zog seelenruhig ein mit weißen Spitzen besetztes Taschentuch aus dem Ärmel und tupfte sich die noch blutigen Lippen ab.

„Ähm … Asche zu Asche?“ grüßte Sgillin zögernd.

Sie nickte knapp, während sie das Taschentuch wieder einsteckte. „So sehr ich auch für Höflichkeiten und die Wahrung der Umgangsformen bin … Wir sollten verschwinden, ehe die da Verstärkung rufen.“

Sie deutete in die Richtung, in die die Hobgoblins geflüchtet waren, und Naghûl nickte.

„Machen wir uns aus dem Staub.“

Das ließ sich niemand zweimal sagen. Sie stürmten zum Portal, kramten eine der roten Glasperlen aus einem Beutel, um es zu öffnen und hasteten hindurch. Ein kurzer Sog, ein leichtes Rauschen in den Ohren – und sie standen wieder in der Leichenhalle. Durch die gleißende Helligkeit der Feuerzitadelle wirkte sie nun noch düsterer, als sie es ohnehin schon war. Naghûl hatte sich inzwischen von seiner Überraschung erholt und wandte sich an Zamakis.

„Danke für Eure Hilfe“, sagte er. „Wir wurden einander noch nicht vorgestellt, richtig?“

Die Vampirin deutete eine Verneigung an. „Zamakis, Faktotum des Zweiten Zirkels.“

Der Tiefling erwiderte den Gruß seinerseits mit einer höfischen Verbeugung. „Naghûl Ka'Tesh, Faktotum der Gesellschaft der Empfindung.“

Zamakis nickte knapp. „Und Euer Eindringen in unser Bundhauptquartier erklärt Ihr womit?“

Ah ja, die direkte und zugleich leidenschaftslose Art der Staubmenschen, dachte Naghûl bei sich. Und natürlich dennoch eine nur zu berechtigte Frage ihrerseits.

„Ich kann dies leider nur mit dem Verweis auf eine wichtige, jedoch geheime Mission erklären“, antwortete der Sinnsat entschuldigend.

Ihre schönen, feinen Gesichtszüge bleiben kalt und unbewegt. „Ich bin sicher, Eure Bundmeisterin wird Skall gegenüber eine etwas ausführlichere Erklärung finden.“

„Wir haben die Morde im Stock untersucht“, erläuterte Lereia. „Das war nicht gelogen. Alles andere … wird vielleicht auf höherer Instanz geklärt und besprochen werden? Ich weiß, Ihr kennt uns nicht und habt keinen Grund, uns zu trauen. Aber wir haben im Auftrag gehandelt, und nur im Sinne der Sicherheit der Stadt. Es hatte nichts mit Eurem Bund zu tun.“

Eine ihrer feinen Brauen wölbte sich, ansonsten zeigte die Vampirin keine Reaktion. „Ich verstehe. Und zu welchem Bund gehört Ihr selbst?“

„Zu den Gläubigen der Quelle“, gab Lereia bereitwillig Auskunft.

„Ah ja.“ Der Blick der Adlatin wanderte kurz zu Kiyoshi. „Und das Harmonium war auch dabei? Reizend, reizend. Ihr sagt, Ihr hättet im Auftrag gehandelt. In wessen?“

„Es liegt nicht in meinen Befugnissen, dies zu offenbaren“, erwiderte der junge Soldat.

„Sagen wir, im Auftrag einer Person die über uns steht“, warf Lereia ein.

„Was nicht schwer sein dürfte“, erwiderte Zamakis nüchtern.

Ein Seitenblick zu seiner Freundin verriet Naghûl Lereias wachsendes Unwohlsein.

„Wir sind Euch dankbar, dass Ihr uns geholfen habt“, erklärte sie angespannt. „Aber ich verstehe nicht, warum Ihr Euch jetzt als unsere Gegnerin zeigt. Toranna hat immerhin Euren Bund hintergangen. Sie hat Körper verschwinden lassen, vor Eurer Nase!“

Sgillin legte seiner Gefährtin beruhigend eine Hand auf den Arm. „He, ganz ruhig“, flüsterte er ihr besänftigend zu.

Naghûl konnte Lereias Aufregung durchaus verstehen. Nicht nur die aufwühlenden Erlebnisse von gerade eben, die der ganzen letzten Tage, überschattet von der nebulösen Geschichte mit der Prophezeiung – das hatte ihr aller Nervenkostüm gewiss ein wenig dünn werden lassen. Jedoch würde Emotionalität jeder Art ein Mitglied der Staubmenschen nicht beeindrucken noch änderte dies etwas an der Tatsache, dass Zamakis Kritik an dem nicht autorisierten Eindringen in ihr Bundhauptquartier leider berechtigt war. Die Adlatin blieb vollkommen gelassen, hob die rechte Hand und zupfte akribisch und doch wie nebenbei die Spitzen ihres Hemdärmels aus dem Ärmel ihres Gehrocks.

„Ich zeige mich nicht als Gegnerin“, erklärte sie sachlich. „Ihr seid zu verwirrt durch Eure falschen Leidenschaften, um das zu erkennen.“

„Gut, wir sind verwirrt“, meinte Sgillin rasch und einlenkend. „Das ist in Ordnung. Aber wir sollten jetzt schnell dafür sorgen, dass dieser Haufen auf der Feuerebene ausgehoben wird. Wer das macht, ist mir egal. Es sollte bloß schnell gehen, bevor noch mehr arme Seelen da drüben verschwinden.“

„Ein wahres Wort“, stellte Zamakis fest ohne eine Miene zu verziehen, doch war der Blick ihrer dunklen Augen von einer Intensität, die nicht zu der kühlen Fassade passte.

Naghûl nickte zu Sgillins Worten. „So ist es. Und diese Sache hier … Entweder wir lassen es unter uns oder höhere Instanzen müssen es austragen. Das wäre aber wahrscheinlich eher unangenehm für alle Beteiligten.“

Nun huschte ein sehr kurzes Lächeln über die Lippen der Vampirin. „Ich denke, Ihr wisst so gut wie ich, dass höhere Instanzen hier ohnehin im Spiel sind. Ich bin mir sicher, Skall, Lady Erin, Bundmeister Sarin und der so aufdringlich lebendige Bundmeister Ambar werden dafür eine gute Lösung finden.“

Jana hatte seit ihrer Rückkehr in die Leichenhalle kein Wort gesagt, fühlte sich in der Nähe der Untoten offenbar unwohl. Nun trat sie noch einen kleinen Schritt zurück, augenscheinlich froh darüber, dass ihre Bundzugehörigkeit wie auch ihr Bundmeister keine Erwähnung gefunden hatten.

Lereia nickte seufzend. „Ich habe ohnehin keine Befugnis, das zu entscheiden.“

„Die haben wir alle nicht“, erklärte Naghûl. „Ob mit oder ohne Leidenschaft. Ich würde jetzt aber gerne meiner Leidenschaft nachgehen und ein gutes Bad nehmen. Seid Ihr damit einverstanden, Adlatin, dass unsere Bundmeister diese Sache klären?“

Zamakis nickte gemessen. „So soll es sein. Ich war Euch gefolgt, um zu sehen, was Ihr macht. Ich hoffte, nicht eingreifen zu müssen. Aber es war nun einmal so.“ Sie deutete eine Verneigung an. „Es wäre mir ein Vergnügen gewesen - wenn ich das empfinden könnte. Ich nehme an, Ihr findet hinaus.“ Sie wandte sich um, sah aber noch einmal zurück. „Möglicherweise treffen wir einander demnächst wieder.“

Naghûl nickte mit einem leisen Seufzen. Ja, ein Bauchgefühl sagte ihm, dass dem so sein würde. Und dass sie in den letzten Tagen lediglich die ersten Schritte auf einem langen und gefährlichen Weg getan hatten.

 

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gespielt am 18. Mai 2012


 

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