„Da die Dabus die direkten Diener der Dame der Schmerzen sind, ist ein Angriff gegen einen Dabus soviel wie ein Angriff gegen die Dame der Schmerzen selbst. Falls nicht Ihre Gelassenheit selbst den Täter in die Irrgärten verbannt oder Ihren Schatten auf ihn fallen lässt, so zieht der Angriff auf einen Dabus die Todesstrafe nach sich.“
Punkt 2 unter „Die Fünf Größeren Vergehen in Sigil“, so erlassen - 496 HR
Erster Leeretag von Retributus, 126 HR
Da ihr Dienst noch nicht begonnen hatte, trug Amariel noch keine Rüstung, sondern war in eine schlichte weiße Tunika und Hosen aus weichem, braunem Wildleder gekleidet. Sie trug unverschnörkelten, aber kunstfertig gearbeiteten Silberschmuck um den Hals und an den Ohren, das lange blonde Haar war offen und nur locker durch ein aus Leder geflochtenes Stirnband zurückgehalten. Sie wusste, dass ihr elfisches Erbe in dieser Gewandung deutlicher ins Auge stach als sonst und genoss es manchmal durchaus, dieser Seite von sich mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Im Dienst für das Harmonium – und seit Kurzem auch ihren Bundmeister ganz persönlich – hatte sie stets den Eindruck, dass ihre menschliche Seite überwog. Das war in Ordnung, doch es führte dazu, dass sie in ihrer Freizeit einen gewissen Ausgleich dazu suchte und sich mehr dem Erbe ihres elfischen Vaters zuwandte, was das Äußere, aber auch kulinarische, musikalische und literarische Vorlieben anging. Amariels Zimmer war - wie bei allen Harmoniumsoffizieren - eher schlicht eingerichtet. Ein Bett, ein Schrank, eine große Truhe, ein Waschtisch und ein Tisch mit vier Stühlen, einfach gearbeitet, aber aus gutem Holz, bildeten das Mobiliar. Die Möbel sahen denen in den Quartieren der einfachen Soldaten sehr ähnlich, es gab dahingehend keine besonderen Unterschiede zwischen ihnen und den Offizieren. Allerdings war Amariels Zimmer etwas größer und sie bewohnte es allein. Neben ihrer Rüstung, Schild und Schwert hatte sie auch einige weitere, persönliche Gegenstände mit aus Melodia hierher genommen: ein Bild der Arcadischen Auen, das eine hügelige, grüne Landschaft von bemerkenswerter Schönheit zeigte; einige Schatullen für Schmuck und kleinere Wertgegenstände; ein Spiegel, dessen hölzerner Rahmen in Form von rankendem Efeu geschnitzt war und eine Vase, in der sich im Moment frische Blumen befanden. Zudem standen auf einem kleineren Beistelltisch neben dem Schrank einige Phiolen mit verschiedenen Flüssigkeiten, kleine Leinensäckchen, verschlossene Döschen, ein Kristall und ein kleines Silberbesteck: Amariels alchemistische Ausrüstung, mit der sie die Öle und Salbungen herstellte, die sie als Gesalbte Ritterin regelmäßig nutzte. Sie sortierte gerade eben jene Zutaten, als es an ihrer Tür klopfte. Sie öffnete und erblickte Kiyoshi.
„Der Segen der Dame“, grüßte sie ihn freundlich, „Ihr hattet einiges zu tun, wie ich hörte. Kommt Ihr zu mir, weil Ihr Fragen habt oder wolltet Ihr einfach so vorbeischauen? Aber das müsst Ihr mir wahrlich nicht hier auf der Türschwelle erzählen. Bitte tretet ein.“
„Konninchi'wa, ehrenwerte Amariel-sensei“, grüßte er sie mit einer Verneigung. „Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft.“
Dann trat er ein und sah sich in dem Zimmer um. Er nickte, ließ sich aber zu sonst keiner Bemerkung hinreißen. In den Händen hielt er ein in dickes Papier eingewickeltes Objekt. Dieses reichte er Amariel mit einer weiteren Verneigung und den Worten: „Für Eure Bemühungen, mich zu erleuchten habe ich diese Kleinigkeit für Euch angefertigt. Ich hoffe, es gefällt Euch.“
Überrascht und erfreut packte Amariel Kiyoshis Geschenk aus und hielt nun einen sehr hochwertig gefertigten Dolch mit platin-verziertem Griff in den Händen. Erstaunt musterte sie die schöne Waffe und lächelte dann.
„Ich danke Euch vielmals, Kiyoshi. Es wäre natürlich nicht nötig gewesen, mir etwas zu schenken, denn ich tat nur meine Pflicht. Ich freue mich jedoch trotzdem sehr und danke Euch herzlich. Ich wusste gar nicht, dass Ihr ein so talentierter Schmied seid, ich bin sehr beeindruckt.“
„Ich danke Euch für Eure freundlichen Worte, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei“, erwiderte er. „Es erfüllt mein Herz mit Freude, dass diese unwürdige Gabe aus meinen ungeschickten Händen zu Eurer Zufriedenheit ausgefallen ist. Außerdem hätte ich, mit Eurer Erlaubnis, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei, weitere Fragen an Euch.“
Sorgsam legte Amariel den Dolch auf dem Tisch ab und wandte sich dann wieder an den jungen Soldaten. „Aber gerne. Bitte nehmt doch Platz und stellt Eure Fragen. Ich hoffe, ich kann Euch weiterhelfen.“
Kiyoshi setzte sich und schien sich einen Augenblick zu sammeln, ehe er fortfuhr: „Ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei. Verzeiht meine Unwissenheit und ich hoffe, dass ich Euch nicht beleidige, aber mir ist aufgefallen, dass in dieser Stadt nur wenige auf ihr Gesicht oder das Gesicht anderer achten. Ich verstehe das nicht.“
Amariel nahm ihm gegenüber Platz und sah ihn etwas verwirrt an. Manchmal verstand sie nicht genau, was der junge Mann sagte, obgleich sie beide sich in der Handelssprache unterhielten.
„Ihr ... Gesicht?“ Sie runzelte die Stirn. „Ich bedaure, Kiyoshi, aber ich verstehe nicht, was genau Ihr damit meint. Könnt Ihr mir Eure Frage etwas genauer erläutern?“
Der Soldat betrachtete sie und es schien ihm irgendwie unangenehm zu sein, das erklären zu müssen. „Wie Ihr sicherlich wisst“, führte er dann jedoch aus, „gelten in Kamigawa einige Werte besonders hoch. Dazu gehören Bescheidenheit, Disziplin, Höflichkeit, Treue, Gehorsam und vieles mehr - wie auch das Wahren des Gesichtes. Wie Euch sicherlich auch bewusst ist, lassen schändliche Taten einen das Gesicht verlieren, ebenso wie das Beschmutzen des Gesichtes eines anderen oder ähnliche Dinge. Ebenso erhält derjenige, der Großes vollbringt, ein großes Gesicht. Verzeiht mir meine Unwissenheit, doch ich kenne das Wort in Eurer Sprache nicht, mit welchem Ihr dies ausdrückt, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei.“
Die Halbelfe nickte verstehend. „Nun ist mir etwas klarer, was Ihr meint. Das, was Ihr beschreibt, lässt sich in der Gemeinsprache vielleicht am ehesten mit dem Begriff Ehre oder auch Ansehen beschreiben, wahrscheinlich eine Kombination aus beidem. Wenn Ihr bemerkt, dass in Sigil nicht jeder Wert auf seine Ehre oder die anderer legt, dann habt Ihr damit sicher Recht. Es gibt so manche Einwohner, die mehr Wert auf Geld oder Macht legen als auf Ehre. Und sie begehen Taten, die man nicht gerade als ehrenhaft bezeichnen kann, um dies zu erreichen. Ob es sich nun um einen plumpen Schläger handelt, der anderen in einer dunklen Gasse auflauert und sie ausraubt oder um einen Steuerbeamten, der die Bücher fälscht, um sich zu bereichern oder um einen hohen Goldenen Lord, der zahlreiche Verbrechen oft nicht einmal selbst begeht, sondern für sich begehen lässt, um seine Machtposition in Sigil zu sichern und auszubauen. All dies würdet Ihr gewiss als unehrenhaft bezeichnen, und ich und unser ganzer Bund ebenso. Aber gibt es das in Eurer Welt denn gar nicht? Personen, die ihre Ehre verlieren, weil sie gierig, schwach oder bösartig sind? Ist das nicht ein Fluch, der alle sterblichen Völker trifft?“
Sie bemerkte, dass Kiyoshis Blick einen nachdenklichen Ausdruck angenommen hatte, daher machte sie eine kurze Pause, um ihm etwas Zeit zum Nachdenken zu geben. Sie holte eine Karaffe mit Wasser und zwei Gläser und stellte sie auf den Tisch. Als sie wieder Platz nahm und Kiyoshi noch keine Anstalten machte, etwas zu erwidern, fuhr sie fort.
„Und
dann gibt es auch kulturelle Missverständnisse, nehme ich an. Ich meine
damit, dass etwas, das Euch als ehrlos oder beleidigend erscheint, in
Sigil möglicherweise ganz normal ist. Dass Dinge, die in Eurer Welt sehr
hoch bewertet werden, hier im Käfig eine eher untergeordnete Rolle
spielen. In diesem Fall handelt jemand vielleicht in Euren Augen ehrlos,
aber in seinem eigenen Empfinden und dem seiner Kultur keineswegs. Geht
das ein wenig in die Richtung dessen, was Ihr wissen wolltet?“
Sie
deutete fragend auf die Wasserkaraffe und das Glas, das sie ihm
hingestellt hatte. Kiyoshi nickte und schenkte in beide Gläser etwas
Wasser ein. Es schien ihr, als ob er es gewohnt war, sich in einer Art
Dienerrolle zu befinden. Dann antwortete er:
„Ich verstehe und danke
Euch für diese erleuchtenden Worte, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei.
Es gibt jedoch noch etwas, das mich besonders interessiert. Wenn jemand
in Eurer Anwesenheit zu einem Bundmeister schlecht über Euch sprechen
würde, wäre das auch hier in Sigil unehrenhaftes Verhalten? Würde das
nicht Euer Gesicht beschmutzen?“
Amariel hatte schon nach der Karaffe greifen wollen, als Kiyoshi das Wasser einschenkte. Sie nickte ihm dankend zu.
„Nun, das hinge ein bisschen davon ab, wer das sagen würde und zu welchem Bundmeister“, erklärte sie. „Also, würde jemand in Gegenwart meines eigenen Bundmeisters schlecht über mich sprechen, wäre ich natürlich wütend. Auch bei Bünden, zu denen das Harmonium gut oder neutral steht, wäre es mir zuwider, zum Beispiel bei den Bundmeistern Mallin oder Hashkar oder auch bei Lady Erin. Würde natürlich jemand zu Pentar, der Bundmeisterin der Schicksalsgarde, sagen, ich sei beispielsweise eine dickköpfige, militante Ordnungsfanatikerin oder so etwas, würde ich es wohl eher als Kompliment ansehen. Denn mit der Schicksalsgarde stehen wir auf sehr schlechtem Fuß und wir haben völlig entgegengesetzte Philosophien. Es hinge also vom einzelnen Vorfall ab.“
„Ich
verstehe“, erwiderte Kiyoshi ernsthaft. „Nun, in diesem Fall muss ich
es wohl als Angriff betrachten. Ich danke Euch vielmals für Eure
erleuchtenden Worte. Eine andere Frage hätte ich noch, ehrenwerte
Dekuria Amariel-sensei, wenn Ihr gestattet.“
Der auffallende Mangel
an gezeigter Emotion beim ersten Satz war offensichtlich, und Amariel
fragte sich etwas besorgt, was da wohl vorgefallen sein mochte. Doch
Kiyoshi hob weder die Stimme, noch wurde sein Blick finster. Er sprach
einfach weiter, als würde er eine unbedeutende Bemerkung über das Wetter
machen. Nach diesen Worten nahm er genau einen Schluck Wasser aus dem
Glas, stellte es wieder ab und sagte:
„Domo Arigato für das Wasser, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei.“
Dann betrachtete er sie wieder aus aufmerksamen Augen. Man hätte sogar fast sagen können, dass er sie anstarrte.
„Nichts zu danken“, erwiderte Amariel, konnte aber ein leichtes Stirnrunzeln ob Kiyoshis intensivem Blick nicht unterdrücken.
Sie beschloss, es erst einmal dabei zu belassen und ihn nicht weiter zu fragen, was es mit seiner Bemerkung über einen Angriff auf seine Ehre gerade eben auf sich hatte. Offenbar wünschte er nicht weiter darüber zu sprechen. „Ihr hattet noch eine Frage?“
„Ist es möglich, dass die Nekomusume in Sigil nicht alle bösartig sind?“
„Die ...“ Etwas ratlos hob Amariel die Brauen. „Ähm, die bitte was?“
„Ehrenwerte Amariel-sensei, bei den Nekomusume handelt es sich um Katzengeister, die oft die Gestalt von schönen jungen Frauen annehmen.“
Amariel nickte sacht. Nun ahnte sie, worauf der junge Soldat sich bezog, denn Bundmeister Sarin hatte sie ein wenig darüber informiert, mit wem sich Kiyoshi derzeit auf verdeckter Mission befand.
„Ich muss zugeben, dass ich noch nie von diesen Nekomusume gehört habe“, antwortete sie freundlich. „Und ich glaube, ich bin auch noch keiner begegnet. Aber vielleicht meint Ihr Werwesen, werter Kiyoshi. Das sind Humanoide, die ihre Gestalt in die eines bestimmten Tieres verändern können. Meist verwandeln sie sich in Raubtiere wie Wölfe, Löwen, Tiger, Katzen oder Bären, seltener auch in Tiere, die keine Raubtiere sind. Wir nennen dies Lykanthropie. Streng genommen ist dies aber nur der Begriff für die Verwandlung in einen Wolf. Die Verwandlung in ein Tier ganz allgemein wird eigentlich als Therianthropie bezeichnet. Aber das Wort Lykanthropie wird oft gleichbedeutend damit verwendet. Doch wie auch immer, keineswegs sind alle Werwesen böse. Es leben so einige von ihnen in Sigil und ihre Gesinnungen sind sehr verschieden. Man muss aber unterscheiden zwischen den Geborenen und den Reißern. Die Geborenen kommen bereits mit ihrer Gabe zur Welt, weil sie sie von ihren Eltern erben. Sie können sie bewusst kontrollieren und besitzen in ihrer Tierform dasselbe Bewusstsein und dieselbe Intelligenz wie als Humanoide. Die Geborenen sind sehr gerne in ihrer Mischform unterwegs, da sie sich dem Tier wie dem Humanoiden gleich eng verbunden fühlen. Die Reißer wurden durch den Biss eines Therianthropen mit der sogenannten Werkrankheit - oder dem Werfluch - infiziert. Sie können es nicht kontrollieren, verwandeln sich willkürlich - oft bei Vollmond, aber nicht nur - und werden dann zu wilden Bestien. Nicht selten töten sie in diesem Zustand ihre Freunde oder Familien. Nach der Rückverwandlung können sie sich an nichts mehr erinnern und viele wissen nicht einmal um ihren Fluch. Selten gelingt es einem Reißer, seine Gabe dennoch zu kontrollieren und zu lernen, mit ihr zu leben. Aber das sind Ausnahmen. Unkontrollierte Reißer sind natürlich Wesen, die unser Bund aufspüren und verhaften muss, damit sie niemandem gefährlich werden können. Geborene aber genießen dieselben Rechte wie alle anderen Einwohner Sigils. Und falls Euch einmal ein sprechendes Tier in den Straßen begegnet, denkt Euch nichts: Das ist dann vielleicht ein Therianthrop in seiner Tiergestalt.“ Sie lächelte. „Um nur eine der Möglichkeiten zu nennen.“
Kiyoshi hörte sich ihre Ausführungen aufmerksam an, schien sich die Worte zu Herzen zu nehmen, überlegte eine Weile und antwortete dann: „Ich verstehe. Also ist die Person, die ich kenne, möglicherweise gar keine Nekomusume, sondern eine von diesen Therianthropen. Ihr habt mir sehr geholfen, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei.“
„Das wäre möglich“, bestätigte Amariel ohne direkt zu erwähnen, was sie über Lereia wusste, da Kiyoshi ihren Namen nicht genannt hatte. „Falls Ihr denkt, dass sie keinen Anstoß nimmt, könntet Ihr sie danach fragen. Kann ich Euch sonst noch helfen?“
Kiyoshi dachte wieder nach und zögerte etwas, ehe er antwortete: „Ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei, ist es vermessen von mir zu fragen, wie lange Ihr schon beim Harmonium seid?“
Der plötzliche Themenwechsel überraschte sie zwar ein wenig, doch sie nickte. „Aber natürlich dürft Ihr das fragen.“ Sie rechnete kurz zurück. „Es sind jetzt etwas mehr als zehn Jahre. Ich stamme ursprünglich von Arcadia und bin dem Harmonium dort beigetreten, auch mein Vater und mein Bruder sind Mitglieder. Hier in Sigil bin ich aber erst seit knapp drei Jahren, wenn auch mit Unterbrechungen. Warum wollt Ihr das wissen?“
„Nun, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei, mich hätte interessiert, wie sich das Harmonium in dieser Zeit verändert hat und ob Ihr die Zeit noch miterlebt habt, bevor der ehrwürdige Bundmeister Sarin-gensui dieses Amt antrat.“
Sie hielt inne, ein kurzes Überlegen, ein winziges Zögern. Wenn sie darüber sprach, würde sie Kiyoshi einiges erzählen müssen, das weniger erfreulich war. Doch hatte der Bundmeister ihr tags zuvor eine Andeutung gemacht, dass der junge Mann womöglich mit einer derartigen Frage zu ihr kommen würde und dass es in Ordnung war, ihn entsprechend ins Bild zu setzen. So nickte sie.
„Ja, in der Tat ist Sarin der vierte Bundmeister, den ich seit meinem Eintritt ins Harmonium erlebe. Vor ihm war es die ehrenwerte Lady Juliana Spesinfracta, die nun Erzbischöfin der Archoniten ist. Davor war es Bundmeister Ulan Delazar von Ortho, nun Oberhaupt der Oktade, und vor jenem die selige Lady Arella Silberblick - mögen die himmlischen Mächte sie wohl behüten. Worüber genau ... wollt Ihr denn etwas hören?“
Kiyoshi dachte offenbar nach. Er trank einen kleinen, scheinbar sehr genau berechneten Schluck Wasser und stellte dann das Glas wieder vor sich ab. „Um ehrlich zu sein, ich bin mir noch nicht völlig im Klaren darüber, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei. Ich denke, zuerst geht es mir um einen Abriss der jüngeren Vergangenheit des ehrenwerten Harmoniums. Vielleicht ergeben sich ja bei Eurer Erzählung noch Fragen, auch wenn ich sicher bin, dass Ihr alle wichtigen Fakten nennen werdet.“
Amariel musste ein wenig schmunzeln. Kiyoshis Art, auch nur den Hauch des Anscheins zu eliminieren, sie könne etwas vergessen oder übersehen war ebenso übertrieben höflich wie unfreiwillig charmant. Sie bemühte sich jedoch, sich diese Gefühlsregung nicht anmerken zu lassen. „Ich verstehe“, erwiderte sie stattdessen sachlich. „Dann werde ich Euch einen Überblick geben seit der Zeit, als ich dem Harmonium beitrat. Das ist, wie gesagt, etwas mehr als zehn Jahre her. Damals war Lady Arella Silberblick Bundmeisterin – allerdings nicht mehr sehr lange. Sie hatte das Amt zu dieser Zeit schon seit zweiunddreißig Jahren inne. Sie war eine Aasimar, also ein Abkömmling jener Wesen, die Ihr Kami nennt, denke ich. Wir nennen sie Celesten. Arellas Großvater war ein Planetar in den Diensten der Göttin Siamorphe, die ihr Reich auf Arcadia hat. Sie trug viel von diesem himmlischen Erbe in sich, sowohl äußerlich als auch innerlich. Man sah es ihr ganz deutlich an Haar, Teint und Augen an, aber auch ihr ganzes Wesen hatte etwas Erhabenes. Sie war eine sehr fähige Kriegerin und Anführerin, aber sie strahlte auch Güte aus. Sie war gerecht, mutig und selbstlos, sie verkörperte die besten Seiten des Harmoniums und war sehr beliebt. Als ich noch nicht ganz ein Jahr unserem Bund angehörte, fiel sie in einer Schlacht gegen die Tanar'Ri, als die Dämonen einen Überfall auf die arcadische Torstadt Tapferkeit unternahmen.“ Amariel bemerkte, wie ihr bei dieser Erzählung erneut das Herz schwer wurde. Sie hatte Arella nicht persönlich gekannt, doch ihr tragischer Tod hatte damals einen tiefen Eindruck auf sie gemacht und betrübte sie noch immer. Doch sie bemühte sich, rasch fortzufahren. „Dann geschah etwas eher ... Ungewöhnliches. Wenn ein Bundmeister stirbt oder abtritt, dann wird zumeist einer der beiden Legaten - also der Legat von Sigil oder der Legat von Arcadia - dessen Nachfolger. In aller Regel äußert sich ein Bundmeister dazu, welchen Legaten er auswählt. Dieser Legat muss dann von der Mehrheit aller Präfekten bestätigt werden - was auch meist so geschieht. Der von Lady Arella bestimmte Legat war aber ebenfalls bei dem Angriff auf Tapferkeit gefallen. In diesem seltenen Fall hat nun die Heimatwelt Ortho, genauer gesagt, die sie regierende Oktade, das Recht, den neuen Bundmeister einzusetzen. Und die Oktade schickte Ulan Delazar nach Sigil. Dies war eine weitreichende und ...“ Sie zögerte, sprach dann aber weiter. „ … eine weitreichende und umstrittene Entscheidung.“ Sie nahm einen Schluck Wasser und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, erinnerte sich mit einem Seufzen an die schwierigen Jahre, die auf Arellas Tod gefolgt waren. „Seht Ihr, Bundmeister Delazar stammte von Ortho. Nicht, dass ich dagegen etwas sagen will, auch Sarin kommt von der Heimatwelt. Doch als Sarin Bundmeister wurde, war er bereits über fünfzehn Jahre in Sigil gewesen. Seine Frau ist eine Planare, all seine Kinder sind hier geboren. Ulan Delazar hatte sich vor seinem Amtsantritt nie länger als ein paar Tage im Käfig aufgehalten, und auch das nur zwei oder dreimal. Er ... kannte Sigil nicht, er kannte die Ebenen nicht. Er wollte, dass hier alles so funktioniert wie auf Ortho. Aber Ortho ist eine Welt, die komplett und ausnahmslos unter dem Einfluss des Harmoniums steht. Dort können wir schalten und walten wie wir wollen - hier nicht. Das führte schon bald zu Problemen, mit Bundmeister Delazar, aber auch mit seinem Stab, den er von Ortho mitgebracht hatte. Die Art ...“ Sie suchte kurz nach den angemessenen Worten. „Die Art und Weise, wie seine Offiziere in Sigil handelten, was sie taten und vor allem auch wie sie es taten ... das führte zu Problemen, zu vielen Zusammenstößen mit der Bevölkerung, viel mehr als zu Lady Arellas Zeiten. Und auch zu Konflikten mit den anderen Bünden. Bundmeister Delazar eckte so gut wie überall an und begann, das Harmonium politisch zu isolieren. Dies kann einem in einer Stadt wie Sigil leicht das Genick brechen. Aber schlimmer noch: Auch innerhalb des eigenen Bundes kam es zu Unstimmigkeiten. Delazar polarisierte uns ... spaltete das Harmonium in einen planaren und einen materiellen Flügel. Auf der einen Seite standen die planaren Mitglieder oder jene, die - wie Sarin - schon lange in den Ebenen heimisch waren. Auf der anderen Seite befanden sich der Bundmeister und eine relativ große Anzahl an Offizieren und auch Soldaten, die er frisch von Ortho mitgebracht hatte.“ Amariel seufzte. „Das Harmonium war zu dieser Zeit nicht sehr harmonisch.“ Sie schenkte sich ein Glas Wasser nach, ehe sie fortfuhr. „Innerhalb von vier Jahren wuchsen diese Spannungen beträchtlich. Ich war zu dieser Zeit noch in Melodia, unserem Hauptquartier auf Arcadia, daher bekam ich es nicht so hautnah mit wie die Mitglieder hier in Sigil. Doch ab und an war natürlich auch ich im Käfig und nur ein Verblendeter hätte übersehen können, dass die Stimmung in unserem Bund ... nicht die beste war.“ Sie bemühte sich, ihre nächsten Worte mit Bedacht zu wählen. Sie setzte an, brach aber noch einmal ab, ehe sie dann weitersprach. Wenn Kiyoshi ein aufmerksamer Zuhörer war, würde er vielleicht bemerken, dass sie nun etwas in ihrer Erzählung ausließ. „Letztendlich legte Bundmeister Delazar sein Amt nieder und kehrte nach Ortho zurück. Er wurde Oberhaupt der Oktade. Sein Stab und der größte Teil der von der Heimatwelt stammenden Soldaten begleitete ihn. Lady Juliana Spesinfracta, die damalige Legatin von Arcadia, wurde Bundmeisterin. Sie erwies sich als hervorragende Wahl für diesen Posten. Sie führte unseren Bund mit einer strengen Hand, so wie auch ihr Vorgänger, doch zeigte sie dabei immer großen Gerechtigkeitssinn, Vernunft und auch jene Güte, die die Oberen Ebenen uns zu üben lehren. Sie wurde schnell sehr beliebt, doch nach nicht einmal zwei Jahren legte sie ihr Amt nieder. Schon zur ihrer Legatenzeit hatte sie sich der religiösen Gemeinschaft der Archoniten angeschlossen. Ihr müsst wissen, sie war als Celestische Mystikerin immer eine Dienerin der Hebdomade gewesen. Sie sagte, ihre Bestimmung läge dort und sei unvereinbar mit dem Amt als Bundmeisterin. Sie ging in die Torstadt Excelsior, wo sie erst Bischöfin und dann Erzbischöfin der Archoniten wurde und ernannte ihren Legaten in Sigil, Sarin, zu ihrem Nachfolger. Das war kurz bevor ich selber nach Sigil kam. Seitdem hat Sarin das Amt des Bundmeisters inne.“ Sie vermutete, dass sie nicht ganz verhindern konnte, wie bei diesen Worten ein Leuchten in ihre Augen trat. „Dies war eine Entscheidung, die auf große Zustimmung traf, denn Sarin war schon damals sehr beliebt bei seinen Leuten. Innerhalb kurzer Zeit steigerte sich seine Popularität enorm, und zwar nicht nur innerhalb unseres Bundes. Er stieß auch außerhalb des Harmoniums auf Zuspruch und ist durchaus populär in Sigil - und wenn ich ehrlich sein darf: Dies ist etwas, das nicht allen unseren Bundmeistern gelingt. Er hat die Fähigkeit, den Bund mit einer festen Hand zu führen und seine Untergebenen dennoch freundlich und respektvoll zu behandeln. Er ist für uns sehr stark zu ... hm, man könnte vielleicht sagen, einer Art Vaterfigur geworden: streng, aber gerecht; konsequent, aber nicht unnahbar.“ Sie lächelte und räusperte sich, als ihr klar wurde, dass sie vielleicht wieder ein wenig sachlicher werden sollte. „So, nun habe ich einiges erzählt und Ihr meintet, dass Ihr dadurch vielleicht Eure Fragen konkreter würdet formulieren können. Habt Ihr denn Fragen dazu?“
Nach einer längeren Pause, in der er seinen Blick in weite Ferne gelenkt hatte, atmete Kiyoshi einmal tief durch und erwiderte dann: „Ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei. Ihr habt mir viel über die Vergangenheit des ehrwürdigen Bundes des Harmoniums erzählt und ich bin Euch dankbar für Eure erleuchtenden Worte. Ich muss jedoch gestehen, dass es mir schwer fällt, die Gründe zu begreifen, für etwas derartig Unerhörtes wie die Spaltung des Harmoniums. Ich fürchte, ich habe das, was Ihr über die Amtszeit des ehrwürdigen Bundmeisters Delazar Ulan-daigensui erzähltet ebenso wenig verstanden wie die unterschiedlichen Ansichten der beiden Splittergruppen.“
Er nahm einen weiteren, scheinbar genau berechneten, kleinen Schluck Wasser zu sich, den dritten mittlerweile und sah dann Amariel mit seinem üblichen, schwer zu deutenden Gesichtsausdruck an, der manchmal den Anschein erweckte, als wäre das Gesicht des jungen Mannes aus Stein gemeißelt worden und nicht lebendiges Fleisch. Nur die Augen gaben in diesem Moment einen Hinweis darauf, dass tatsächlich ein lebendes Wesen mit einer Seele auf dem Stuhl ihr gegenüber saß und nicht ein emotionsloser, brillant gefertigter Golem. Amariel musterte Kiyoshi eine Weile nachdenklich. Seine nun noch auffälligere Beherrschung und Emotionslosigkeit schienen sich mit der Brisanz des Gesprächsthemas gesteigert zu haben. Vielleicht ein Hinweis darauf, dass das Thema ihn durchaus beschäftigte, er es aber nicht offen zeigen wollte. Die Halbelfe lächelte zum Ausgleich ein wenig.
„Ich kenne die genauen Gründe nicht, Kiyoshi“, sagte sie, „aber offenbar seid Ihr wichtig für den Bundmeister. Also seid Ihr auch wichtig für das Harmonium. Zudem hat Sarin mich angewiesen, Euch auch über jene Dinge in Kenntnis zu setzen, die wir nicht nach außen tragen. Daher werde ich Euch nun einige Dinge erzählen, die zwar nicht völlig unbekannt sind, falls jemand ein wenig nachforscht – aber die nicht unbedingt jeder Schleifer in Sigil weiß - und das soll auch so bleiben.“ Sie lehnte sich zurück, ließ ihren Blick durch den Raum schweifen und seufzte leise, ehe sie fortfuhr. „Der Begriff Spaltung klingt ein wenig dramatisch, obgleich ich ihn zugegebenermaßen selbst verwendet habe. Seht Ihr, seit der Gründung des Harmoniums auf Ortho sind etwa 580 Jahre vergangen, seit knapp 500 Jahren ist das Harmonium in den Ebenen aktiv und seit nunmehr genau 300 Jahren ein Bund von Sigil. Das sind somit fast fünf Jahrhunderte, in denen ein Teil des Harmoniums weit entfernt von der Heimatwelt wirkte. Natürlich wurden viele Planare Mitglieder und schon nach wenigen Jahrzehnten überwogen in diesem Teil des Harmoniums die Planaren die Materier. Inzwischen sind die planaren Mitglieder auch insgesamt weitaus in der Überzahl, während auf Ortho natürlich vorwiegend Materier leben. Ihr habt vielleicht schon selber bemerkt, dass es zwischen Planaren und Materiern einige Unterschiede gibt, vor allem in ihrem Wissen um Aufbau und Wesen des Multiversums, aber auch, was die Einstellung zu und den Umgang mit Religionen, Philosophien und so weiter angeht. Die Äußeren Ebenen ticken nun einmal ganz anders als die Materielle, und auf Sigil trifft das in besonderem Maße zu. Als Delazar Bundmeister war, hatte er, wie gesagt, wenig Wissen über Sigil und die Ebenen. Sehr leise und hinter sehr vorgehaltener Hand wurde er von den planaren Mitgliedern als Planloser bezeichnet - und nicht ganz so leise von den anderen Bünden. Das Schlimme ist ...“ Sie atmete einmal tief durch. „... sie hatten Recht. Bundmeister Delazar wollte, dass alles in Sigil so läuft, wie es das Harmonium sagt. Nun, das wollen wir alle, aber wir wissen, wo uns Grenzen gesetzt sind, sei es durch die Gesetze von Sigil, aber auch durch das bloße Wesen der Stadt. Und innerhalb des Bundes war die Kluft zwischen den Planaren sowie lange hier lebenden Materiern und den frisch von Ortho eingetroffenen Mitgliedern deutlich spürbar. Ein Beispiel: Auf Ortho gibt es bestimmte Religionen, die allgemein akzeptiert werden, unter anderem die Kirchen von Cuthbert, Torm, Bahamut, Iomedae, Hextor, Bane und Heironeous. Im planaren Harmonium ist die Bandbreite sehr viel größer, da die Ebenen bei weitem nicht so konform sind wie Ortho. Unsere Priester und Paladine verehren also auch eine Vielzahl anderer Götter. Das hatte nie ein Problem dargestellt, aber Bundmeister Delazar sah eines darin. Es gab Bestrebungen, bestimmte Religionen aus dem Harmonium auszuschließen, was natürlich die Anhänger dieser Kirchen nicht hinnehmen wollten. Ein anderes Beispiel: Unter Delazar wurden öfter und öfter Personen in Sigil verhaftet, die einfach andere Ansichten hatten. Nun zugegeben, ab und an kommt so etwas vor. Es werden schon einmal Personen unter Arrest gestellt, die nicht gegen ein Gesetz verstoßen haben, weil sie in Verdacht stehen, das zu planen. Und nicht in jedem Fall sehen die Herrschner die Lage ganz genauso wie wir. Das passiert, und ab und an gibt es Beschwerden der anderen Bünde. Aber das lief dreihundert Jahre lang so, und im Großen und Ganzen blieb alles im Rahmen. Unter Bundmeister Delazar jedoch nahm dies so sehr zu, dass die anderen Bünde lautstark protestierten und auch innerhalb des Harmoniums nicht alle Mitglieder einverstanden waren mit diesem Vorgehen. Ihr ahnt vielleicht, wer zu diesen Mitgliedern zählte ...“
Kiyoshi hörte sich alles an, antwortete dann mit einem Kopfnicken: „Ich ahne nichts dergleichen. Eure Geschichte ist derartig fesselnd, dass ich ihr voll und ganz folge.“
Trotz des ernsten Themas musste Amariel auf diese Worte hin kurz schmunzeln. „Ich fühle mich geehrt, dass Ihr eine so gute Erzählerin in mir seht.“ Dann wurde sie wieder ernster. „Es gab, wie gesagt, viele Mitglieder des Planaren Harmoniums, die bald gewisse Differenzen mit Bundmeister Delazar hatten. Viele einfache Soldaten, aber ebenso die Offiziere, besonders auch die höherrangigen unter ihnen. Einer dieser Offiziere war Sarin. Als Delazar das Amt des Bundmeisters antrat, war er noch Tribun. Er wurde dann aber bald zum Präfekten ersten Ranges befördert - zu einem Zeitpunkt, als die Probleme mit Bundmeister Delazar noch nicht so groß waren. Aber er war nicht der einzige, auch andere Offiziere standen nicht auf gutem Fuß mit Delazar. Zu ihnen gehörten zum Beispiel Tonat Shar, der jetzige Legat von Sigil, und mein Bruder Killeen Caine, der jetzige Legat von Arcadia. Die beiden waren damals ebenfalls Präfekten. Sarin und seine beiden heutigen Stellvertreter verbindet eine lange gemeinsame Geschichte im Harmonium, sie waren bereits als einfache Triarii oft gemeinsam auf Patrouille in Sigil. Die drei waren nicht die einzigen, die Bundmeister Delazar mehr und mehr entgegenstanden, es gab noch einige mehr, aber sie gehörten zu den Ranghöchsten. Natürlich mit Ausnahme von Lady Juliana Spesinfracta. Sie war bei Delazars Amtsantritt Präfektin des zweiten Ranges sowie die Vorgesetzte von Sarin, Tonat Shar und Killeen. Sie wurde etwa zwei Jahre später Legatin von Arcadia. Es gab damals Stimmen, die behaupteten, Delazar habe sie wegbefördert, weil er sie in Sigil aus dem Weg haben wollte. Lady Juliana, Sarin, Tonat Shar, Killeen und andere waren also nicht einverstanden mit Bundmeister Delazars Handlungen. Zu Anfang waren es nur leichte Spannungen, die sich dann rasch zu grundlegenden Meinungs-verschiedenheiten auswuchsen.“
Kiyoshi schien ihrer Erzählung sehr aufmerksam zu lauschen. „Ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei“, sagte er dann. „Könnt Ihr die Natur dieser Auseinandersetzung bitte etwas genauer darstellen? Trotz Eurer ausführlichen und guten Ausführungen konnte ich mir das Ausmaß und die Qualität dieser Differenzen noch nicht ganz klar ausmalen. Vielleicht könnt Ihr mir ein Beispiel geben?“
Sie nickte und dachte kurz nach, ehe sie antwortete: „Nun, das fing im Grunde schon sehr früh an, unter anderem mit den Offizieren, die Delazar von Ortho mitbrachte. Ich erzählte Euch ja, dass Bundmeisterin Arella bei einem Kampf um die Torstadt Tapferkeit gefallen war. Auch einer ihrer Legaten, einige höherrangige Offiziere und viele Soldaten waren dabei umgekommen. Als die Oktade Delazar zum Bundmeister ernannte, beschloss dieser, die vakanten Positionen im Planaren Harmonium nicht durch die Beförderung planarer Mitglieder neu zu besetzen, sondern brachte stattdessen eigene Leute von Ortho mit: mehrere Präfekten und Tribune, fast zwanzig Dekurionen, mehrere Dutzend Triarii und vier Bataillone einfacher Soldaten, wobei ein Bataillon aus fünfhundert Soldaten besteht. Die neuen Offiziere waren sehr stark von der Heimatwelt geprägt und äußerst engagiert darin, die politische Linie von Bundmeister Delazar in Sigil durchzusetzen. Vor allem die Präfekten Valiant und Tomis spielten dabei eine herausragende Rolle. Namentlich diese beiden vertraten zum Beispiel Ansichten, die auf Widerspruch, ja Empörung stießen. Zum Beispiel, dass Halbelfen, da sie von den oft chaotisch veranlagten Elfen abstammen, ungeeignet seien, im Harmonium zu dienen. Killeen war als Halbelf darüber natürlich besonders aufgebracht. Da er ...“ Sie zögerte kurz und grinste ein wenig. „Da er recht impulsiv und temperamentvoll veranlagt ist, war es auch leicht, ihn zu provozieren, was vor allem Lord Valiant mit Fleiß tat. Aus dem, was ich selbst miterlebte wie auch, was man mir erzählte, gewann ich den Eindruck, dass Offiziere wie Valiant und Tomis diese Auseinandersetzungen suchten und förderten. Ob das lediglich mit Delazars stiller Einwilligung geschah oder sogar auf seinen Befehl hin, kann ich nicht sagen. Das war der Anfang, aber bald gab es auch andere Probleme, zum Beispiel tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten über unsere Vorgehensweise zur Sicherung der Ruhe und Ordnung in Sigil. Ich weiß, dass Sarin schon recht früh einmal den Befehl eines Vorgesetzten verweigerte, weil er sicher war, dadurch würde es zu einer sinnlosen und bedenklichen Auseinandersetzung kommen. Es war irgendein Vorfall auf dem Großen Basar, glaube ich. Mit Killeen gab es ähnliche Zwischenfälle. Immer öfter kam es zu energischen, ja erbosten Diskussionen zwischen Sarin, Tonat Shar und Killeen auf der einen sowie Valiant, Tomis und einigen übrigen Präfekten auf der anderen Seite. Schließlich - das war nicht lange vor Delazars Rücktritt – ist etwas zwischen Sarin und dem Bundmeister vorgefallen, das all die Risse, die unseren Bund durchzogen, so vertiefte, dass das Planare Harmonium zu zerspringen drohte. Ich kann Euch hier leider keine Einzelheiten nennen, Euer Rang ist noch nicht hoch genug, um alle Details zu erfahren. Jedoch war etwas auf Arcadia vorgefallen. Etwas, bei dem sich Sarin ganz offen und direkt seinem Bundmeister widersetzte. Ich kann mich an die folgenden Tage in Melodia erinnern: Delazar war außer sich vor Zorn, die Luft in der ganzen Stadt zum Schneiden gewesen ...“
Kiyoshis Körperhaltung änderte sich nun subtil. Sein Gesichtsausdruck blieb unverändert, aber wie sich der Kopf um wenige Millimeter nach vorne schob, zeigte Amariel, dass dieses Thema ihn sehr zu interessieren schien. Seufzend fuhr sie fort.
„Ich muss wahrscheinlich nicht erwähnen, dass Sarins Handeln Konsequenzen für ihn hatte. Man widersetzt sich seinem Bundmeister niemals ungestraft ...“ Als sie sich daran zurück erinnerte, wie Delazar Sarin damals diszipliniert hatte, überlief sie noch immer ein Schaudern. Sie würde diese schrecklichen Details nicht in aller Breite vor dem jungen Soldaten darlegen. Es genügte, ihm das Ergebnis der Sache mitzuteilen, beschloss sie. Dennoch musste sie sich räuspern und einen Schluck Wasser trinken, ehe sie fortfuhr. „Vor dieser Sache war Sarin Präfekt ersten Ranges gewesen - danach war er wieder Dekurio. Zudem unterstellte Delazar ihn dem direkten Befehl von Lord Valiant. Ihr mögt vielleicht erahnen, dass das sehr hart für ihn war. Damit nicht genug kam es kurz danach erneut zu einem Eklat. Denn Killeen ist ja nicht gerade für seine Zurückhaltung bekannt. Er muss den Bundmeister in einem anschließenden Gespräch ganz direkt angegriffen haben - verbal natürlich. Es ist klar, dass ihm das nicht gut bekam ...“ Sie erinnerte sich auch an jenen Vorfall kurz zurück und merkte, wie ihr dabei noch immer vor Zorn das Blut in die Wangen stieg. Sie musste mehrmals tief durchatmen, ehe sie fortfahren konnte. „Das war damals der Höhepunkt des ganzen Dramas. Und dann war es Lady Juliana, die zur Tat schritt. Zu einer Tat, die seit über 150 Jahren im Harmonium niemand gewagt - oder auch für nötig befunden - hatte: Sie führte Delazars Absetzung herbei. Alle Präfekten des ersten und zweiten Ranges sowie die Legaten haben in unserem Bund das Recht, eine Versammlung einzuberufen, auf der über die Absetzung des amtierenden Bundmeisters diskutiert wird, wenn ihnen dies nötig erscheint. Das bedeutet, wenn sie der Ansicht sind, dass der Bundmeister den Bund nicht mehr so führt, wie es im Sinne des Harmoniums ist, wenn sie ihn für inkompetent oder gar korrupt halten. Jeder Präfekt darf auf dieser Versammlung sprechen und offen seine Meinung darlegen. Am Ende erfolgt eine Abstimmung, und wenn die Mehrheit der Präfekten für die Absetzung stimmt, muss der Bundmeister zurücktreten. Dann wählen die Präfekten noch beim selben Treffen einen neuen Bundmeister aus dem Rang der Legaten. Lady Juliana hatte eine Weile gezögert, immer in der Hoffnung, Delazar würde seine Handlungsweisen noch ändern. Doch nachdem er vier Jahre im Amt war und die Spannungen täglich zunahmen, fasste sie sich ein Herz und tat den Schritt: Sie berief die Versammlung der Präfekten ein, an der unter anderem auch Tonat Shar, Killeen, Lord Valiant und Präfekt Tomis teilnahmen. Ich glaube, es hat Sarin damals ziemlich geschmerzt, dass er - nun nur noch Dekurio - nicht dabei sein durfte. Es muss eine hitzige Diskussion gewesen sein, nach dem, was ... man so hörte. Am Ende stimmte die Mehrheit der Präfekten für Delazars Absetzung und Lady Juliana wurde zur neuen Bundmeisterin ernannt.“ Sie beugte sich nun etwas vor. „Was ich Euch hier erzähle, war damals zuerst nicht allgemein bekannt. Für die Öffentlichkeit hieß es, Delazar sei nach Ortho zurückgekehrt, um den Platz als Oberhaupt der Oktade einzunehmen. Das war keine Lüge, denn das tat er tatsächlich. Doch ließen wir die Geschichte mit der Absetzung aus, weil Lady Juliana nicht wollte, dass Berichte über so tiefgehende Unstimmigkeiten in unserem Bund das Ansehen des Harmoniums nach außen hin schwächen. Irgendwann wurde die Sache natürlich bekannt, aber da war schon ein wenig Gras darüber gewachsen. Und das war gut so.“
Kiyoshi nickte und schien eine Weile zu überlegen, ehe er eine weitere Frage hatte. „Ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei, kann es sein, dass ein so abgesetzter Bundmeister erneut das Amt des Bundmeisters einnehmen kann?“
Etwas entsetzt sah Amariel ihn an. „Also ... an diese Möglichkeit habe ich noch nie gedacht, um ehrlich zu sein. Theoretisch schon, nehme ich an. Zumindest wäre mir keine Regelung bekannt, die das konkret verbietet. In dem Fall, dass Sarin zum Beispiel etwas zustoßen sollte und er weder Killeen noch Tonat Shar zu seinem Nachfolger bestimmt hätte, könnte Ortho wohl Delazar erneut einsetzen. Die Dame bewahre uns davor, dass dieser Fall eintrete! Wir alle hoffen, dass unser Bundmeister uns noch lange erhalten bleibt.“
Die Sache schien den jungen Soldaten sehr zu beschäftigen, denn er hatte eine weitere Frage dazu.
„Verzeiht meine Unwissenheit, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei, aber wäre das nicht deshalb unmöglich, weil Delazar bereits einmal von der Versammlung der Präfekten als des Bundmeisteramtes für ungeeignet erklärt wurde?“
Nachdenklich wiegte die Halbelfe den Kopf. „Wie gesagt, mir ist kein Gesetz bekannt, dass dies konkret untersagt. Die Oktade auf Ortho könnte sich im Zweifelsfall wahrscheinlich darauf berufen, die höchste Autorität im Harmonium zu haben. Allerdings ist die Oktade meines Wissens nach nur befugt, einen Bundmeister einzusetzen, wenn der amtierende verstirbt ohne einen Nachfolger zu bestimmen. Ich würde es aber für äußerst unwahrscheinlich halten, dass Delazar in einem solchen Fall noch einmal eingesetzt würde. Vor allem denke ich nicht, dass er es wollte. Er ist jetzt immerhin Oktarius Elatus, höher kann er nicht aufsteigen. Jedoch ... Also, nun habt Ihr mich verwirrt, muss ich zugeben. So gut vertraut bin ich leider nicht mit den Feinheiten der Gesetzgebung der Heimatwelt. Wie die meisten Mitglieder des Planaren Harmoniums habe ich nicht so viel mit Ortho zu tun. Da müsstet Ihr vielleicht den Bundmeister selber fragen.“
Sie hoffte allerdings bei sich, dass der junge Soldat das nicht tun würde. Sarin sprach ungern genug über Ortho und wäre über derartige Themen gewiss wenig erfreut. Kiyoshi nickte. Er erhob sich - das Wasserglas vor ihm immer noch nahezu voll, da er nur drei sehr kleine Schlucke genommen hatte - und schlug sich mit der rechten Faust auf den Brustpanzer, an die Stelle, unter welcher wohl sein Herz lag. „Ich danke Euch für Eure Zeit und Eure erleuchtenden Worte, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei. Ihr habt mir sehr weitergeholfen. Ich werde den ehrwürdigen Bundmeister zu dieser Sache befragen, wenn er sich mit meinem Herrn und Fürsten, dem ehrwürdigen Daimyo Ittosai Musashi-tenno unterhält.“
Dann verneigte er sich und verließ ihre Kammer. Amariel blieb noch eine Weile sitzen und blickte ihm nachdenklich hinterher, während sie ihr Wasser austrank. Warum mochte Kiyoshi plötzlich ein so reges Interesse an der jüngeren Vergangenheit des Harmoniums gezeigt haben? Und Sarin schien durchaus damit gerechnet zu haben, dass der junge Mann das Thema ihr gegenüber aufbringen würde. Sie hoffte bei sich, dass dies nicht hieß, die Vergangenheit würde sie alle wieder einholen …
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aus dem Foren-RP mit Kiyoshis Spieler




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