Jeder hat eine starke Meinung über das Harmonium – ganz besonders das Harmonium.“

Suwein Lous, Sinnsaten-Dichterin

 


 


Erster Stocktag von Retributus, 126 HR

 

Nach seinem kurzen Besuch bei Bundmeisterin Erin hatte Naghûl die Nacht in seinem Quartier in der Festhalle verbracht. Jana und Sgillin waren gemeinsam mit Eliath und Lereia in deren Haus geblieben, während Kiyoshi sich zurück zur Kaserne begeben hatte. Und genau dort trafen sie am nächsten Morgen wie abgesprochen alle wieder zusammen. Sie meldeten sich bei der Concierge, Lady Diana, an und wurden auch sogleich zu Bundmeister Sarin vorgelassen. Als sie sein Büro betraten, verneigten sie sich alle zur Begrüßung, wobei Naghûl Kiyoshi neugierig von der Seite her beobachtete. Die Knie des jungen Mannes schienen tatsächlich kurz zu zucken, doch er blieb stehen, verbeugte sich und schlug die Faust auf die Herzgegend. Dann verharrte er bewegungslos. Sarin nickte den Eintretenden zu, und dem Tiefling fiel auf, dass der Bundmeister an diesem Tag ein wenig ramponiert wirkte. Er hatte ein blaues Auge und eine relativ frische Platzwunde über der rechten Braue. Naghûl nickte bei sich. Sarin war dafür bekannt, auch jetzt noch regelmäßig heiklere und gefährlichere Einsätze zu leiten und dabei auch gerne in erster Reihe zu stehen. Das trug sowohl zu der Anerkennung bei, die seine Leute für ihn empfanden als auch zu dem Respekt, den die kriminellen Elemente Sigils ihm gegenüber verspürten – allerdings nicht immer zu seiner Gesundheit, wie man sah. Er schien allerdings kein Mensch zu sein, der sich von derartigen Dingen abhalten ließ. Nun blickte er von dem Brief auf, den er gerade schrieb, und nickte ihnen zu.

„Der Segen der Dame“, grüßte er sie und sah dabei kurz zu Eliath.

Der Magier wurde allein bei diesem flüchtigen Blick ein wenig kleiner, doch der Bundmeister wandte sich sogleich an Kiyoshi. „Soldat?“

„Ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui“, erwiderte dieser. „Dies ist Eliath, der angeblich des Todes war und angeblich zurück kam. Wir würden ihn gerne hier in der Kaserne in Schutzhaft nehmen lassen, da er ein wichtiger Informant sein könnte.“

Sarin brauchte ein paar Sekunden und hob dann forschend die unverletzte Braue. „Wie bitte? Langsam ...“ Er steckte die Feder, die er in der Hand hielt, ins Tintenfass zurück. „Aha, Ihr seid also Eliath.“ Er wandte seinen Blick nun wieder dem Magier zu. „Ja, Ambar hat es mir berichtet, in seiner farbenfrohen Art.“

Lereia lächelte kurz bei dieser Bemerkung, Eliath hingegen wurde blass.

„Ich … ich entschuldige mich vielmals, Bundmeister“, stotterte er und verneigte sich tief.

„Aha.“ Sarin musterte ihn skeptisch. „Für was denn?“

„Na ja ...“ Der Magier schluckte. „Für alles, denke ich ... Vorsichtshalber ...“

Lereia legte ihm beruhigend ihre Hand auf den Unterarm und Naghûl warf ihm einen mitfühlenden Blick zu. Er konnte gut nachvollziehen, wie überfordernd es war, so plötzlich direkt vor einem Bundmeister Sigils zu stehen – noch dazu vor dem des Harmoniums, wenn man in Schutzhaft genommen werden sollte. Sarin musterte Eliath eingehend.

„Ich gratuliere Euch zu Eurer glücklichen Auferstehung von den Toten“, meinte er dann.

Seinem Tonfall konnte Naghûl nicht wirklich entnehmen, ob Ironie oder Skepsis in seiner Stimme mitschwang. Möglicherweise war es auch beides. Eliath lächelte nervös, dann wandte der Bundmeister sich wieder an Kiyoshi.

„Bericht“, befahl er knapp.

Der junge Soldat nahm umgehend Haltung an. „Ehrenwerter Bundmeister Sarin-gensui, wir erhielten erste Informationen zu Eliaths Verbleib …“

Er begann mit einem ausführlichen, erschöpfenden, detaillierten und unfassbar langweiligen Bericht über die Ereignisse, bei dem Naghûl gedanklich bald abschweifte. Er warf unterdessen einen kurzen Seitenblick auf Jana, die ihm irgendwie merkwürdig erschien. Sie sah Eliath und Sarin immer nur flüchtig an, hatte schon vor Kiyoshis anstrengendem Bericht keinerlei Interesse gezeigt, dem Gespräch zu folgen und stierte merkwürdig abwesend vor sich hin. Was war nur los mit ihr? Nicht das beste Auftreten bei einem Bundmeister, und Naghûl hoffte, dass Sarin sie nicht zu sehr beachtete und es ihm dadurch vielleicht nicht auffallen mochte. Der Paladin hingegen hob bei Kiyoshis Bericht hin und wieder die Brauen, verschränkte irgendwann die Arme vor der Brust, ließ sie wieder sinken, betastete kurz die Platzwunde über dem Auge, verschränkte die Arme wieder und seufzte kaum merklich. Dann wurde es ihm offenbar zu bunt, und er unterbrach Kiyoshi mit der Aufforderung, sich kürzer zu fassen. Für einen Moment gelang dies dem jungen Soldaten auch … ehe er wieder in die unnötig detaillierte Berichterstattung abdriftete. Diesmal wirkte Sarin deutlich angestrengter und befahl Kiyoshi mit Nachdruck, endlich zum Punkt zu kommen. Naghûl war ihm sehr dankbar dafür, denn er musste sich bereits auf seinen Stab stützen und hatte Bedenken, ansonsten bei Kiyoshis unfassbar langweiliger Schilderung wegzunicken. Tatsächlich fand dieser nun einigermaßen schnell zum Ende seines Berichts. Lediglich die Sache mit Tylaric hatte er vorerst noch ausgelassen.

„… und beschlossen deshalb, ihn hierher zu bringen“, schloss er mit Blick zu Eliath, schlug die Faust auf die Brust und verneigte sich. „Ich würde Euch gerne noch mehr berichten, sobald der Verbleib Eliaths geklärt und er in Sicherheit ist, ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui.“

Sarin nickte - man konnte fast meinen erleichtert - als Kiyoshi endete. „Das nächste Mal tut es auch eine Zusammenfassung des Wesentlichen“, erklärte er und sah dann wieder zu Eliath. „Und Ihr bestätigt diese Geschichte?“

„Ja, Herr.“ Der Magier wirkte fast ängstlich. „Ich weiß, es klingt alles völlig verrückt, aber … so war es.“

Lereia nickte bestätigend und kam ihm zu Hilfe. „Wir haben eine solche Geschichte auch bereits aus anderer Quelle gehört, Bundmeister. Unabhängig von Eliath.“

Sarin lächelte nun tatsächlich ein wenig, zum ersten Mal, seit sie den Raum betreten hatten. „Es ist nicht das Verrückteste, das ich gehört habe, seit ich in Sigil bin, seid versichert. Nach allem, was Ihr erlebt habt, bin ich sicher, es ist etwas dran, an dieser Sache.“

Nun sah Jana auf und versuchte sichtlich, wieder Anschluss an das Gespräch zu finden. Anders als von Naghûl erhofft, hatte Sarin ihre Abwesenheit offenbar durchaus bemerkt.

„Ist mit Euch alles in Ordnung?“ fragte er sie direkt. „Ihr habt doch nicht wieder eine Vision, nein?“

Jana schüttelte hastig den Kopf. „Nein, ich ... Nein, es geht mir gut, Bundmeister. Mir... gehen nur viele Dinge durch den Kopf, bitte entschuldigt.“

Sarin musterte sie kurz forschend, beließ es dann aber dabei. „Ja, nicht nur Euch …“, meinte er, eher zu sich selbst, ehe er wieder zu Eliath sah. „In Anbetracht der Lage wäre es wohl tatsächlich das Vernünftigste, Ihr würdet erst einmal hier bleiben.“

„Ähm, ja …“ Der Magier schaute mehr als unglücklich drein. „Ich … muss aber nicht ins Gefängnis, oder? Ich habe doch nichts Unrechtes getan, wirklich!“

„Keine Sorge“, erwiderte Sarin. „Ihr bleibt in der Kaserne. Ich will nur sicherstellen, dass man Euch nicht noch nachstellt. Und offen gesagt könnte es sein, dass wir Euch noch einmal brauchen. Nur für ein paar Fragen.“

Eliath nickte schicksalsergeben. „Sicher, Bundmeister. Ganz wie Ihr sagt.“

Der Paladin rief ein kurzes Kommando nach draußen, woraufhin die Dekuria eintrat, die vor der Tür Wache hielt.

„Bundmeister!“ grüßte sie und salutierte knapp.

„Bringt diesen Mann in eine Verhörzelle“, ordnete Sarin an. „Stufe eins. Und zusätzlich unter Berücksichtigung der Tatsache, dass wir ihm bislang nichts zur Last legen.“

Bei dem Wort bislang wurde Eliath wieder etwas blasser.

„Ja, Bundmeister!“ Die Dekuria salutierte erneut und nickte dann Eliath auffordernd zu.

Lereia schenkte dem Magier noch ein aufmunterndes Lächeln. Er nickte dankend und trottete dann hinter der Offizierin her. Naghûl warf ihm einen mitfühlenden Blick nach. Der arme Kerl hatte nie wirklich zu den Sinkern gehen wollen und war ohne eigenes Verschulden ein Opfer dieser dubiosen Gruppierung geworden. Nun lag sein altes Leben in Trümmern und er saß in der Kaserne fest. Auch Sarins Blick war weniger streng und mehr nachdenklich, sobald sich die Tür hinter Eliath geschlossen hatte. Doch dann wandte er sich wieder an Kiyoshi.

„So, und nun zu den Dingen, die Ihr ansonsten noch berichten wolltet.“

Der junge Soldat nickte, sah aber Richtung Naghûl und Jana. „Da es sich dabei um eine Sache der Magie handelt, würde ich darum bitten, Euch das von einem der Magiebegabten erklären zu lassen, ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui.“

„Ich verstehe“, erwiderte der Paladin. „Aber bitte, setzen wir uns doch.“ Er deutete zum Tisch und es war merkbar, dass sein Tonfall und Verhalten, seine ganze Art nun etwas weniger förmlich und streng wirkten.

„Sehr gerne“, antwortete Lereia. „Vielen Dank, Bundmeister.“

Sie nahmen rund um den langen Tisch herum Platz, der an der dem Schreibtisch gegenüberliegenden Wand stand. Dort hingen mehrere große Landkarten, die Sarins materielle Heimatwelt Ortho zeigten, sowie ein paar weitere, die Naghûl nicht ganz einordnen konnte. Vielleicht handelte es sich um die materiellen Koloniewelten des Orthonianischen Imperiums, das man in Sigil eigentlich nur als das Harmonium kannte.

„Ich höre“, riss des Bundmeisters Stimme den Tiefling aus diesen Überlegungen.

Er fühlte sich prompt zu einem Bericht aufgefordert und setzte sich etwas aufrechter hin. „Wie Kiyoshi ja berichtete, fand Sgillin heraus, dass in Eliath etwas unterdrückt wird. Was er aber noch nicht erwähnte ist, dass es im Harmonium einen noch ganz frischen Rekruten gibt, einen gewissen Tylaric Sturmschwinge, auf den dasselbe zuzutreffen scheint. Da Eliath und ebenso Tylaric auf der Liste stehen, vermuten wir, dass es sich um so genannte Schläfer handeln könnte – um den schlimmsten Fall in Betracht zu ziehen.“

Sarin hob die Brauen. „Das wäre allerdings eine sehr unerfreuliche und auch gefährliche Sache.“

Naghûl nickte. „Beide starben, beide kamen wieder und vor allem bei Eliaths Vision handelt es sich schlicht um einen schlechten Witz. Eliath hat übrigens ein Zeichen hinter dem Ohr, das in dem Brief erwähnt wurde, den Ihr mittlerweile von Bundmeister Ambar erhalten haben solltet.“

„Ja“, bestätigte der Paladin. „Er hat mir eine Kopie gegeben.“

„Ich habe auch mit Lady Erin gesprochen“, fuhr der Tiefling fort. „Daher weiß ich, dass Da'nanin ein solches Mal nicht besitzt.“

„Immerhin etwas“, meinte Sarin seufzend. „Die Namen auf dieser Liste finde ich ehrlich gesagt ziemlich beunruhigend.“

„Die Schläfertheorie ist natürlich erst einmal nur ein Verdacht“, räumte Naghûl ein. „Aber wir sind vorsichtshalber vom schlimmsten Fall ausgegangen. Vor allem, weil es sich auch um einige enge Vertraute der Bundmeister handelt.“

Nun meldete sich Lereia zu Wort. „Wenn Da'nanin kein Mal besitzt, kann das vielleicht damit zusammenhängen, dass er noch nicht scheintot war? Sie bekommen das Zeichen vielleicht erst bei dem magischen Übergriff durch diesen Halbelfen.“

„Ja“, erwiderte Sarin. „Nach allem, was Ihr erzählt habt, würde ich das auch annehmen. Es ist eine Kennzeichnung, damit diese Toranna die richtigen Leichname auswählt. Aber was genau hat sie mit ihnen gemacht? Wisst Ihr darüber etwas?“

„Nach eigenen Angaben hat sie sie durch ein Portal in die Feuerebene geschickt, ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui“, gab Kiyoshi zur Antwort. „Wäre es möglich, dass sie dort von jemandem im Empfang genommen werden, der sie irgendwie erkennt und nicht verbrennt, sondern etwas anderes mit ihnen macht?“

„Das ist eine gute Theorie, Kiyoshi“, befand der Bundmeister.

„Aber das verstehe ich nicht“, warf Lereia ein. „Ohne Toranna wäre es logisch: Der Magier macht die Personen scheintot, er beeinflusst ihren Geist. Sie wachen auf und denken, sie wurden zurück geschickt, infiltrieren ohne es zu wissen eine Organisation und die Geschichte nimmt ihren Lauf. Aber so ...“ Sie wiegte nachdenklich den Kopf. „Ihr meint, dass die Sache mit der Geistesbeeinflussung erst auf der Feuerebene gemacht wird?“

Der Paladin nickte. „Wenn es tatsächlich so sein sollte, dass diesen Personen ein zweites, sozusagen schlafendes Bewusstsein eingepflanzt wird, dann ist das nicht nur eine gefährliche Sache, sondern auch eine sehr machtvolle Fähigkeit, die da ausgeübt wird. Ich bezweifle stark, dass man das mal eben so in den Straßen des Stocks machen kann. Dazu ist sicher mehr nötig. Ich bin kein Magier, aber ich würde nicht einmal die Hand dafür ins Feuer legen, dass das durch Magie funktioniert.“ Er dachte eine Weile nach und seufzte dann. „Wir werden es herausfinden müssen. Und damit meine ich Euch.“

Naghûl hatte bereits damit gerechnet, dass all das sie auch weiterhin betreffen würde, dass sie den Wirren dieser Geschichte nicht einfach würden entkommen können.

„Ich hätte da eine wagemutige Idee“, erklärte er daher ganz direkt.

„Ich fürchte, meine ist auch etwas gewagt“, antwortete Sarin. „Aber bitte, Ihr zuerst. Sprecht.“

„Dieses Mal könnte man doch sicher nachzeichnen?“ meinte der Tiefling. „Vielleicht sollte sich jemand von uns tot stellen, und ... sich auf die Feuerebene schicken lassen?“

Er blickte von einem zum anderen, und Sarin ließ ein leises Pfeifen hören.

„Dass das von dem Sinnsaten in der Runde kommt, war klar.“

Der angesprochene Sinnsat hob unschuldig die Schultern. „Na ja ...“

Der Bundmeister konnte sich ein kurzes Grinsen nicht verkneifen, wurde dann jedoch sogleich wieder ernst. „Aber das ist schon ein sehr hohes Risiko. Wie wollt Ihr verhindern, dass dann mit Euch dasselbe gemacht wird? Oder dass Ihr sofort verbrennt.“

Naghûl räusperte sich. „Ich weiß. Ich will auch niemanden dazu überreden - es ist wirklich riskant. Was wäre Euer Vorschlag, Bundmeister Sarin?“

„Nun ja. Der ist auch gewagt“, gab der Paladin zu. „Er lautet, dass Ihr zusammen durch das entsprechende Portal geht und prüft, was dahinter ist und was dort gemacht wird. Natürlich könnte ich eine Gruppe ausgewählter Offiziere damit beauftragen. Allerdings geht es hier zweifellos um eine wichtige und tiefgreifende Angelegenheit. Ich möchte keinesfalls, dass diese Sache bekannter wird als unbedingt nötig. Ihr alle hier wisst bereits davon und genießt das Vertrauen Eurer jeweiligen Bundmeister. Ich kann Euch - außer Kiyoshi – aber natürlich nicht befehlen, der Sache auf den Grund zu gehen.“

Naghûl schmunzelte innerlich. Auch wenn es kein direkter Befehl sein mochte, es klang durchaus wie eine Order. Doch das war in Ordnung, er hätte den jungen Soldaten in jedem Fall unterstützt.

„Ich begleite Kiyoshi“, erklärte er daher sofort.

„Ich natürlich auch“, schloss sich Lereia an, und Sgillin und Jana nickten ebenso.

„Das ehrt Euch“, erwiderte Kiyoshi dankend.

„Gut.“ Sarin nickte zufrieden. „Ich werde Euch einige Bundabzeichen der Staubmenschen aushändigen lassen. Ihr solltet Euch unter allen Umständen unbemerkt durch die Leichenhalle bewegen. Sonst steht morgen Skall hier bei mir, und das möchte ich unbedingt vermeiden.“

„Wir sollen uns als Staubmenschen ausgeben?“ vergewisserte Lereia sich.

„Ja.“ bestätigte der Bundmeister. „Ansonsten dürft Ihr sicher kaum zu dem Portal. Und ich möchte nicht, dass Skall weiß, dass ich mich in seine ... Was ist los, Kiyoshi?“

Auch Naghûl hatte den immer unglücklicher werdenden Blick des jungen Soldaten bemerkt. Er bemühte sich dennoch nach wie vor um eine ausdruckslose Miene – wenngleich nicht ganz so erfolgreich wie sonst - und straffte sich, als er antwortete.

„Ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui. Offenbar habe ich die Gesetze der Stadt falsch verstanden, denn ich ging bisher davon aus, so etwas sei nicht erlaubt. Ich danke Euch dafür, mir in dieser Hinsicht die Augen geöffnet zu haben.“

Sarin senkte kurz den Kopf, offenbar um einen allzu offensichtlich amüsierten Ausdruck zu verbergen, dann sah er wieder zu seinem Soldaten. „Auf Arborea gibt es ein Sprichwort, Kiyoshi: Was Zeus erlaubt ist, ist dem Ochsen noch lange nicht erlaubt. Ich möchte nicht so weit gehen, mich für einen Gott auszugeben, aber Ihr könnt das auf das Harmonium und den normalen Bürger übertragen.“

Kiyoshi schien darüber nachzudenken und konnte dann ein leises Seufzen nicht unterdrücken. „Ich muss gestehen, dass mir dies widerstrebt, da die Regeln des Harmoniums das Lügen nicht erlauben. Doch ich kann ja einfach schweigen.“

Er wirkte tatsächlich ziemlich unglücklich dabei. Ein kurzer Seitenblick zu Sarin verriet Naghûl, dass Kiyoshis Verhalten den Bundmeister durchaus anzustrengen schien, auch wenn er sich um eine neutrale Meine bemühte.

„Das ist keine Lüge, Soldat“, erklärte er. „Das nennt man verdeckte Ermittlungen. Und die sind nötig, wenn es um die Sicherheit von Sigil geht. Warum es dabei um die Sicherheit der Stadt geht, kann ich Euch gerne darlegen: Wenn wir den Staubmenschen von unserem Verdacht erzählen und sagen, wir wollen uns in ihrem Hauptquartier umsehen, werden sie Folgendes sagen: 'Vielen Dank für diese Informationen, werter Bundmeister Sarin, wir kümmern uns selber um die Sache und sagen Euch dann, was dabei herausgekommen ist.' Ich kann keinesfalls erzwingen, meine Leute in ein anderes Hauptquartier zu schicken, wenn dieser Bund nicht ganz klar Sigil bedroht. Dann wird Skall seine Leute durch das Portal schicken und herausfinden, was dort läuft. Und das wird er uns dann natürlich nicht sagen, sondern am Ende noch für sich selber nutzen. Und das könnte in der Tat eine Bedrohung für Sigil werden.“

Kiyoshi hatte ihm sehr aufmerksam gelauscht und nickte nun ernsthaft. „Ich verstehe. Ich danke Euch für diese erleuchtenden Worte, ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui.“

Der Paladin nickte begütigend. „Mir ist bewusst, dass das alles noch neu für Euch ist. Nicht alles, was in Sigil passiert, lässt sich durch in einem Buch niedergeschriebene Regeln lösen - auch wenn es schön wäre. Gerade für einen Bund wie den unseren. Aber manchmal muss man leider etwas verschlungenere Wege gehen. - Also schön, Euer Auftrag lautet also, herauszufinden, was dort vor sich geht. Begebt Euch aber nicht in unnötige Gefahr. Solltet Ihr das beenden können, ohne ein größeres Risiko einzugehen, tut es. Falls nicht, findet nur heraus, was Ihr könnt, und erstattet dann Bericht.“

Naghûl schmunzelte. „Bundmeister, wir Sinnsaten sind dafür bekannt, kein unnötiges Risiko einzugehen.“

„Na, aber ganz sicher“, erwiderte Sarin ironisch, aber nicht unfreundlich. Dann wandte er sich an Jana. „Terrance berichtete mir noch von einer Vision, die Ihr in seinem Beisein hattet. Und deutete an, dass wir darüber sprechen sollten. Könntet Ihr mir darlegen, worum es in dieser Vision ging?“

Jana zwirbelte gedankenverloren eine Haarsträhne auf zwei Finger ihrer linken Hand und schien die Frage nicht einmal mitbekommen zu haben. Naghûl biss sich auf die Lippen – und ärgerte sich auch ein wenig. Das war schon in einem normalen Gespräch keine Art, aber in einer Unterredung mit einem Bundmeister konnte man so etwas einfach nicht machen. Auch Sarin hob missbilligend die unverletzte Braue.

„Was ist eigentlich mit Euch los, Jana?“ fragte er mahnend.

„Ich … ähm ...“ Die Hexenmeisterin wurde rot und stammelte kurz. „Ich … also ich … sollte, glaube ich, etwas essen? Ich bin manchmal furchtbar unkonzentriert und … vor allem, wenn ich nichts gegessen habe, länger. Entschuldigt bitte, Bundmeister.“ Kleinlaut verstummte sie, als Sarins Blick immer ärgerlicher wurde ob ihres Gestotters.

„Ihr hört Euch an, als wäret Ihr zu den Xaositekten übergetreten“, erklärte der Paladin tadelnd.

Sgillin beugte sich etwas vor. „Wieso?“ fragte er interessiert. „Werden die unkonzentriert, wenn sie nichts gegessen haben?“

Naghûl hielt die Luft an. Er konnte geradezu spüren, wie Sarin ungehalten wurde.

„Es reicht!“ erwiderte dieser nun auch scharf. „Was glaubt Ihr, wo Ihr hier seid?“

Seine bislang relativ umgängliche Stimmung schlug rasch und spürbar um. Fast war es, als konnte man fühlen, dass die Luft im Raum heißer wurde. Lereia zuckte bei seinen energischen Worten kurz zusammen und Naghûl biss sich auf seine Unterlippe. Kiyoshi gab sich sichtlich Mühe, seine Gesichtszüge im Griff zu halten. Mit durchbohrendem Blick wandte sich Sarin an Jana.

„Das ist hier keine Spelunke im Stock. Auch wenn Ihr zur Zeit offenbar vor allem dort ermittelt. Ihr esst nächstes Mal etwas, ehe Ihr zu einem Gespräch mit einem Bundmeister erscheint! Das ist keine Art.“

„Sehr wohl, Bundmeister“, erwiderte Jana leise und machte dann keinen Mucks mehr.

Der Paladin sah noch einmal zu Sgillin. „Und Ihr haltet Euer Mundwerk besser im Zaum. Früher oder später wird Euch das sonst Probleme bereiten.“

Lereia strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und nahm eine aufrechtere Sitzhaltung ein, während Sgillin abwehrend die Hände hob, offenbar überrascht über den für ihn unerwarteten und harschen Tadel des Bundmeisters.

„Alles klar“, erwiderte er schnell und lehnte sich zurück.

Sarin nickte, fast konnte man sehen, wie seine Stimmung wieder etwas abkühlte, nachdem er den Halbelfen und die Hexenmeisterin zurechtgestutzt hatte.

„So“, meinte er dann, an Jana gewandt. „Was ist nun mit dieser Vision?“

Jana nickte hastig und setzte sich ebenso wie Lereia aufrecht hin. „Ich, also ... habe Euch gesehen, Bundmeister. Ich ... es ist mir unangenehm und ich … äh, konnte mich dem weder entziehen noch ... also, die Augen oder Ohren davor … Ich ... es tut mir leid, dass ich in Eure privaten Kreise … Also, dass ich Euch ... belauscht habe.“

Sie wurde immer wirrer, während sie sprach und Sarin runzelte merklich die Stirn, hörte aber erst einmal zu.

„Jana, ganz ruhig und sachlich“ warf Naghûl besänftigend ein.

Sie nickte, holte kurz Luft, ordnete sich sichtlich und berichtete dann von ihrer Vision, zwar leise und hastig, aber dafür nun zumindest wohldurchdacht. Sarin hörte ihr aufmerksam zu und gab sich offenbar Mühe, seine Gefühle nicht allzu deutlich zu zeigen. Doch Naghûl beobachtete ihn genauer und erkannte, dass dem Bundmeister ein- oder zweimal beinahe die Gesichtszüge entgleisten. Als Jana endete, starrte er sie eine Weile an, dann seufzte er tief, stützte beide Ellbogen auf den Tisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Lereia sah von ihrem Buch auf, in dem sie noch einige Dinge notiert hatte.

„Bundmeister, geht es Euch gut?“ fragte sie leise und vorsichtig.

„Nein“, erwiderte Sarin lakonisch, sah dann aber wieder zu Jana. „Habt Ihr noch mehr gesehen?“

Sie schüttelte nur kurz den Kopf und der Paladin lehnte sich im Stuhl zurück.

„Wir nehmen zur Zeit an, dass Eure Visionen in Zusammenhang mit der Prophezeiung und der Göttermaschine stehen, oder?“

Jana nickte zögernd, woraufhin Sarin kurz die Augen schloss. „Ihr himmlischen Mächte, bitte verschont mich doch einfach“, murmelte er leise.

Seine Reaktion überraschte Naghûl nicht vollkommen. Er wusste um die Probleme, die es in der jüngeren Vergangenheit mit Lord Valiant gegeben hatte, und wenn es sich in der Vision, wie anzunehmen, tatsächlich um den Celesten handelte, war Sarins Missvergnügen nur allzu verständlich. Jana sah auf Lereias Buch, wobei ihr etwas einzufallen schien, denn sie holte ihre Mappe hervor, öffnete sie und suchte einige Zeit darin herum. Sarin starrte unterdessen auf den Globus vor sich und schien die Anwesenheit der anderen für den Moment ausgeblendet zu haben. Jana zog die Zeichnung heraus, die sie nach Eliaths Angaben angefertigt hatte.

„Ich habe hier eine Skizze“; erklärte sie vorsichtig. „Etwa so soll der Mörder aussehen, der im Stock ... also, der Eliath ermor ... angegriffen hat.“

Von Janas Bemerkung in die Wirklichkeit zurückgeholt, beugte Sarin sich vor und sah sich die Zeichnung an. Sgillin musterte ihn interessiert, als er das Porträt betrachtete, doch der Bundmeister zeigte keine besondere Reaktion.

„Ich lasse es an meine Offiziere weitergeben“, erklärte er. „Da er sich im Stock aufhält, ist unsere Chance wohl eher gering, aber dennoch ...“

Er unterbrach sich, als Jana in ihrem Stuhl hin und her wankte und nach der Tischplatte griff.

„Oh je“, stellte Sgillin fest. „Es scheint wieder loszugehen.“

„Ich sollte … mich …“ murmelte die Hexe noch leise, dann rutschte sie vorsorglich vom Stuhl auf den Boden. Plötzlich wurden ihre Augen milchig, dann komplett weiß, ohne Iris und Pupille.

Sarin stand ruckartig auf. „Was ist mit ihren Augen? Ist das jetzt immer so?“

Lereia schüttelte den Kopf. „Das habe ich bisher noch nie an ihr bemerkt“, erklärte sie erschrocken.

Jana lehnte sich gegen Naghûls Stuhl, atmete hektisch und bewegte den Kopf und die weißen Augen hastig hin und her. Noch ehe der Tiefling sich zu ihr beugen und irgendetwas tun konnte, schien plötzlich die Luft wie elektrisch aufgeladen und er vermeinte, das Licht flackern zu sehen. Kiyoshi kniete nieder und klatschte zweimal in die Hände, begann dann, Worte in seiner Muttersprache zu murmeln. Naghûl wurde warm und er blickte zu den anderen, doch seine Sicht verschwamm. Ihm wurde schwindelig, etwas brauste in seinen Ohren … es wurde immer dunkler und sehr warm – dann blitzte es auf, so grell, dass er meinte, geblendet zu sein.

 

Als er die Augen wieder öffnete, wieder sehen konnte, war er an einem anderen Ort … nach wie vor in der Kaserne, erkannte er verwirrt, aber nun im Großen Auditorium. Er konnte sich weder bewegen noch etwas sagen, doch meinte er die anderen in seinem Augenwinkel zu erkennen, wie sie neben ihm standen. Was ging vor sich? Doch er hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, denn direkt vor sich erblickte er nun zwei Personen: Killeen Caine … und Lord Valiant. Sie standen einander im Auditorium gegenüber. War das etwa Janas Vision? Konnten sie diesmal alle sehen, was Jana gesehen hatte? Gespannt richtete der Tiefling seine Aufmerksamkeit auf die beiden Männer vor sich ...

Killeen Caine, hochgewachsen, für einen Magier recht athletisch gebaut und sehr attraktiv. Das lange, schwarze Haar, die violetten Augen ... sein elfisches Erbe war in seinen Gesichtszügen deutlich zu erkennen, während in Größe und Körperbau das menschliche zu überwiegen schien. Lord Valiant hingegen verkörperte alles, was man sich unter einem Celesten vorstellte: Er überragte Killeen noch einmal um ein gutes Stück, seine Schultern waren breiter und er trug eine wundervolle, mit Gold verzierte Rüstung im empyreischen Stil. Seine alabasterne Haut, das goldene Haar und vor allem die großen, weißen Schwingen sprachen überdeutlich von seiner himmlischen Herkunft. Doch besaß er bei all seiner Schönheit dennoch eine irritierende Aura. Etwas, das über die allen Engeln eigene, respekteinflößende Majestät hinausging, etwas Kühles, Einschüchterndes. Er maß Killeen mit gereiztem Blick.

„Für wen haltet Ihr Euch eigentlich?“ fuhr er den Halbelfen an. „Ihr macht, was ich sage!“

Auch der Magier war sichtlich aufgebracht. „Bei allem Respekt, Lord Valiant“, erwiderte er ungehalten. „Aber Ihr seid nicht mein vorgesetzter Offizier.“
„Ich stehe im Rang über Euch!“ stellte der Engel fest. „Da gibt es nichts zu diskutieren.“
Killeens dunkle Brauen zogen sich zusammen. „Ihr seid Präfekt zweiten Ranges und ich des ersten, das ist wahr. Aber es ist im Planaren Harmonium nicht üblich, dass ein Präfekt einen anderen herumkommandiert, nur weil er einen Rang höher steht. Und ich bezweifle, dass es auf Ortho dem normalen Vorgehen entspricht.“
Auf den Lippen des Celesten erschien nun ein spöttisches Lächeln. „Jetzt schlägt wohl der Elf in Euch durch, was? Ich war immer der Ansicht, dass die Abkömmlinge chaotischer Völker dem Harmonium besser fernbleiben sollten.“

Nun kam Sarin hinzu und es wurde klar, dass auch diese Vision einige Jahre zurückliegen musste. Der Paladin trug eine andere Rüstung, ein Naghûl unbekanntes Rangabzeichen – vielleicht das eines Präfekten - und er sah um einige Jahre jünger aus. Er trat zu Killeen und Valiant, man konnte erkennen, wie er sich anspannte, noch ehe er wusste, worum es ging.

„Was ist hier los?“ fragte er, offenbar um Gleichmut bemüht.
Killeen blickte zu Sarin und verschränkte die Arme. „Dasselbe wie immer. Präfekt Valiant versucht mir zu erklären, dass er im Besitz der einzigen Wahrheit ist, was die Ziele und das Wesen unseres Bundes betrifft.“

Der Celest lächelte abfällig. „Treibt es nicht zu weit, Präfekt Caine. Lady Juliana ist jetzt auf Arcadia, sie ist nicht mehr hier, um ihre Hand über Euch zu halten.“
Man sah Sarin deutlich an, dass er sich zu beherrschen versuchte. „Ich würde es begrüßen, wenn wir hier endlich vernünftig miteinander umgehen könnten“, erklärte er. „Wir sind Faktoren des Harmoniums, ein solches Verhalten steht uns allen nicht gut zu Gesicht.“
„Dann bekommt Eure Leute in den Griff, Präfekt Sarin“, erwiderte Valiant von oben herab. „Auf Ortho ...“
“Wir sind nicht auf Ortho“, unterbrach der Paladin ihn. „Dies ist Sigil, Lord Valiant. Der Käfig tickt anders als die Heimatwelt.“

Der Engel maß ihn mit verärgertem Blick. „Ich bin kein Planloser, das weiß ich auch. Aber die Stadt hat sich nach dem Harmonium zu richten, nicht das Harmonium nach der Stadt.“
Killeen schnaubte genervt. „Bei der Dame, so einfach ist das nicht!“

„Für Euch nicht, das ist mir klar“, erwiderte Valiant geringschätzig. „Und Ihr, Sarin, erzählt mir nicht, was einem Präfekten gut zu Gesicht steht. Denn dass Ihr erst kürzlich wegen der Verweigerung eines direkten Befehls von Bundmeister Delazar persönlich bestraft worden seid, ist ja wohl jedem bekannt.“

Naghûl konnte erkennen, dass Sarin bei dieser Bemerkung das Blut in die Wangen stieg. Aber er beherrschte sich. Der Halbelf hingegen ließ nun jede Selbstkontrolle fallen.
„Fahrt zur Hölle!“ fuhr er den Celesten an.
„Hör auf, Killeen“, erwiderte Sarin ernst. „Er will uns nur provozieren.“
Der Magier wirkte, als würde er Valiant am liebsten an die Kehle springen. „Was mich betrifft, funktioniert das ganz hervorragend!“
Der Engel drehte sich wieder zu Killeen und warf ihm ein höhnisches Lächeln zu. „Oh, Ihr dürft es gerne versuchen, Präfekt Caine. Ich habe kein Problem damit, hier mit Euch den Boden aufzuwischen.“

Tatsächlich machte der Halbelf einen Schritt nach vorn, doch Sarin hielt ihn zurück.

„Killeen! Geh!“

Er sah zu Sarin, seine violetten Augen brannten geradezu. Valiant lächelte, man konnte fast meinen, geradezu in der Hoffnung, dass der Magier vollständig die Beherrschung verlor und ihn angriff.

„Geh!“

Sarin schob seinen Freund förmlich zurück, und Killeen ließ es sich nur widerwillig, mit geballten Fäusten, gefallen. Er warf Valiant noch einen vernichtenden Blick zu, drehte sich dann aber um und verließ wortlos das Auditorium. Der Celest maß Sarin mit einem gönnerhaften Blick.

„Klug von Euch, Sarin. Wirklich sehr klug. – Wir sehen uns dann bei der Einsatzbesprechung.“
Der Paladin musterte Valiant finster. „Ich befürchte es.“

 

Dann blitzte es erneut grell auf … und Naghûl befand sich wieder in Sarins Büro. Nun, wahrscheinlich hatten sie sich die ganze Zeit über dort befunden. Doch der unerwartete Ausflug in Janas Vision hatte sie offenbar ein wenig mitgenommen. Der Tiefling saß vor seinem Stuhl, aus dem er wohl während des überraschenden Ortswechsels gerutscht war, lehnte mit dem Rücken an der Sitzfläche. Auch Lereia und Sarin richteten sich gerade vom Boden auf, schüttelten benommen den Kopf. Lediglich Kiyoshi, der sich schon zu Beginn der sich anbahnenden Vision hingekniet hatte, war in derselben Position wie zuvor. Naghûl vernahm ein Ächzen rechts von sich und erkannte, dass Sgillin nicht so viel Glück gehabt hatte wie er. Der Halbelf musste unsanft mit der Kante seines Stuhls Bekanntschaft gemacht haben, denn er griff sich an den Hinterkopf und hatte Blut an der Hand, als er sie wieder zurückzog. Ein dünnes, rotes Rinnsal lief an seinem Hinterkopf hinunter. Jana zog sich währenddessen an der Tischkante hoch und nahm vorsichtig wieder auf ihrem Stuhl Platz. Noch immer benommen beobachtete der Tiefling, wie Sarin sich erhob und dann Lereia die Hand reichte, um ihr aufzuhelfen.

„Danke“, murmelte die junge Frau und griff nach seiner Hand, nickte ihm schwach zu.

Während sie sich noch leicht schwankend am Stuhl festhielt, sah der Bundmeister zu Sgillin, dessen Verletzung er bemerkt hatte.

„Braucht Ihr Hilfe?“ fragte er.

Sgillin schaute den Paladin mit etwas verklärtem Blick an. „Ich ... glaub schon“, erwiderte er, noch deutlich blass um die Nase.

Sarin beugte sich zu ihm, legte ihm eine Hand auf und sagte leise etwas auf Celestisch, woraufhin die Blutung stoppte. Dann klopfte er Sgillin kurz auf die Schulter und setzte sich wieder.

„Oh … vielen Dank“, erwiderte der Halbelf und klang dabei etwas überrascht.

Worüber genau, konnte Naghûl jedoch nicht einordnen. Auch er hatte inzwischen wieder in seinem Stuhl Platz genommen, ebenso wie Lereia und Kiyoshi. Sarin blickte nun entgeistert zu Jana.

„Das ist doch ... Was bei allen Höllen, war das? Habt Ihr etwa gerade eine Eurer Visionen mit uns geteilt?“

„Ich ... glaube schon, Bundmeister“, murmelte die Hexenmeisterin schwach.

„Wie habt Ihr das gemacht?“ wollte der Paladin energisch wissen.

„Hab ich nicht, Bundmeister", erwiderte Jana abwehrend. „Also, nicht mit Absicht. Es tut mir schrecklich leid ...“

„Das Kind, das in Vergangenheit und Zukunft blickt …“, meinte Lereia leise, fast eher zu sich selbst.

Sarin nickte ernst zu ihren Worten. „Ja, wir haben gerade die Vergangenheit gesehen. Ebenso wie das, was Jana schon vorher sah.“

Beeindruckt sah Sgillin zu der Hexenmeisterin. „Ich wusste gar nicht, dass du uns alle in deine Visionen mitnehmen kannst.“

„Ich auch nicht“, antwortete Jana matt. „Ich ... es muss doch einen Grund geben, warum ich ... warum wir das gesehen haben. Glaubt Ihr, dass dieser Lord Valiant etwas mit unserer Sache zu tun hat?“

Naghûl verzog etwas das Gesicht bei Janas Vermutung. Das war ein unerfreulicher Gedanke, und Sarin schien diese Einstellung offensichtlich zu teilen, denn er schnaubte gereizt.

„Verdammt“, entfuhr es dem Paladin. „Ich hoffte, das Thema wäre einfach abgehakt, vorbei und vergessen. Aber wenn Ihr, Jana, das nun in Euren Visionen seht … Ich bete zu den Göttern, dass dem nicht so ist. Ich fürchte aber, eben aufgrund Eurer Visionen, dass Valiant damit in irgendeiner Verbindung steht oder stehen wird.“ Kurz vergrub er das Gesicht in den Händen und seufzte, ehe er wieder in die Runde blickte. „Wenn Jana dies alles in ihren Visionen sieht, hat es wohl Bedeutung für unsere Sache. Und in diesem Fall habt Ihr möglicherweise das Recht, ein paar Dinge zu erfahren. Also schön.“ Er lehnte sich zurück. „Fragt. Ich verspreche nicht, jede Frage zu beantworten, wenn es um Bund-Interna geht. Aber fragt.“

Sie warfen einander ein paar Blicke zu, dann machte Sgillin den Anfang.

„Was war denn der Grund dieses Streits?“

Sarin zog die Brauen zusammen. „Der Grund war, dass Präfekt Valiant sich anzumaßen versuchte, nahezu gleichrangigen Präfekten Befehle zu erteilen wie einfachen Soldaten. Dies obgleich er neu in Sigil war. Und dass …“ Er zögerte kurz, winkte dann aber ab, als sei es auch schon egal. „Und dass, wie man dem Streit entnehmen konnte, wir – unter anderem Killeen und ich – oft nicht seiner Meinung waren.“

Das passte ziemlich genau zu dem, was Naghûl über die jüngere Vergangenheit des Harmoniums in Sigil wusste.

„Das traf auch auf Tonat Shar zu, nicht wahr?“ fragte er daher vorsichtig. „Und ebenso auf Lady Juliana.“

„Das ist korrekt“, erwiderte der Paladin knapp.

„Ich hätte auch zwei Fragen“, meldete sich Lereia zu Wort. „Zum einen: Wer ist Lady Juliana? Und zum anderen: Eure Reaktionen auf Janas erste Vision und jetzt diese waren doch nicht die Reaktionen auf einfache Zwistigkeiten innerhalb eines Bundes oder? Steckte nicht mehr dahinter?“

Naghûl hob die Brauen bei der Formulierung einfache Zwistigkeiten. Lereia konnte ja natürlich nicht ahnen, was damals alles vor sich gegangen war. Auch er selber wusste nur die öffentlich bekannten Dinge, aber allein die genügten schon. Sarin musterte Lereia auch durchaus unfroh, wenngleich wohl eher wegen der allgemeinen Situation als wegen ihrer Frage.

„Zum ersten“, antwortete er. „Lady Juliana war meine damalige Vorgesetzte. Sie wurde nach Ulan Delazar Bundmeisterin, ehe ich es wurde. Sie ist jetzt Erzbischöfin der Archoniten in der Torstadt Excelsior. Zum Zweiten: Als einfache Zwistigkeiten würde ich es nicht bezeichnen, eher als grundlegende Meinungsverschiedenheiten. Und in einem Bund wie dem Harmonium ist das gar nicht lustig.“

„Es prägte alle Beteiligten?“ fragte Lereia vorsichtig.

Der Paladin musste lachen, klang aber nicht sehr fröhlich dabei. „Ihr habt den Streit gehört. So etwas ist nicht gerade der normale Ton im Harmonium, schon gar nicht unter den Präfekten. Es prägte uns nachhaltig, möchte ich meinen.“

Lereia nickte leicht. „Darf ich fragen, was aus Lord Valiant geworden ist?“

„Er hat Sigil mit Ulan Delazar verlassen“, erklärte Sarin. „Als dieser … abtrat. Er ging nach Ortho zurück und ist inzwischen Mitglied der Oktade.“

Bei diesen Worten seufzte er erneut und Lereia runzelte die Stirn. „Oktade?“

„Das sind die acht Personen, die Ortho sozusagen regieren. Jeder ist für einen bestimmten Bereich zuständig. Ich bin auch Mitglied, ich bin für die planaren Angelegenheiten verantwortlich.“

„Und für was ist Lord Valiant verantwortlich?“ erkundigte Sgillin sich.

„Innere Harmonie“, erwiderte Sarin und verzog auf ein Auflachen von Jana hin die Lippen zu einem sarkastischen Lächeln. „Ja, ich weiß …“

Sgillin hob vielsagend die Brauen, dann fiel ihm eine weitere Frage ein. „Ist Killeen Caine auch Mitglied der Oktade?“

„Nein.“ Der Bundmeister schüttelte den Kopf. „Er ist Legat von Arcadia, aber nur die Bundmeister des Planaren Harmoniums sind Mitglieder der Oktade.“

„Also auch Delazar?“ warf Lereia ein.

„Ja, allerdings jetzt in anderer Eigenschaft. Er war es als Bundmeister. Als er sein Amt niederlegte, ging er nach Ortho, weil dort ein anderer Platz in der Oktade frei geworden war. Diesen hat er auch heute noch inne.“

Naghûl bemerkte durchaus, wie Sarin die Frage nach Delazars derzeitigem Amt nicht sofort beantwortete. Doch er beschloss zu warten, ob seine Freunde die Sprache noch darauf bringen würden. Sgillins Interesse jedoch ging erst einmal in eine andere Richtung.

„Hatte der Zwist mit Lord Valiant irgendwelche negativen Auswirkungen auf seine Karriere? Auf Killeen Caines meine ich?“

„Nein“, erwiderte Sarin. „Ganz knapp nicht.“

„Aber sie sind sich immer noch nicht grün, nehme ich an?“

Der Paladin lachte kurz. „Ganz und gar nicht. Ich meine, wir haben Valiant seitdem nicht mehr persönlich gesehen. Aber dennoch ...“

Nun brannte Naghûl doch eine Frage auf den Nägeln, und er schaltete sich in das Gespräch ein. „Valiant ...“, meinte er. „Warum ist er im Harmonium? Ist er vielleicht … mehr rechtschaffen als gut?“

Sarin atmete tief ein und zögerte kurz. Dann schüttelte er missgelaunt den Kopf „Meine Güte. Also, hört zu: Dieser ganze Mist ... ich meine, all das steht offenbar in Zusammenhang mit der Prophezeiung, daher habt Ihr wohl ein Recht, manches zu erfahren. Aber kein Wort davon verlässt diesen Kreis, ist das klar?“

Lereia nickte fest und auch die anderen signalisierten ihre Zustimmung.

„Nun gut“, fuhr der Bundmeister fort. „Valiant ... Er ist ein Celest. Ich weiß nicht, was er für eine Gesinnung hat. Aus Gründen, die Ihr Euch denken könnt, habe ich es einmal versucht. Versucht, seine Gesinnung zu erkennen. Er hatte sie sehr gut verschleiert, und er bemerkte es sofort. Er wehrte mich ab und der Schmerz war ...“ Er verstummte kurz, erinnerte sich offenbar lebhaft daran zurück. „Er war atemberaubend. Ich habe es nie wieder versucht.“

Sgillin hob die Brauen. „Welchen Grund hat denn ein Celest, seine Gesinnung zu verschleiern?“

„Wenn sie nicht mehr das ist, was sie sein sollte ...“, mutmaßte Naghûl.

Sarin lehnte sich in seinem Stuhl zurück und seufzte. „Er sagte mir damals, es sei Anmaßung, die Gesinnung eines Celesten prüfen zu wollen. Und dass es niemandem zustünde, an ihm zu zweifeln. Und er müsse uns gar nichts beweisen.“

„Wer sich nichts zuschulden kommen hat lassen, hat auch nichts zu befürchten“, erklärte Kiyoshi sachlich.

Die Bemerkung entlockte seinem Bundmeister ein Schmunzeln, wenngleich Naghûl den Eindruck hatte, dass es mit einer Spur von Selbstironie durchsetzt war. Dann stellte Kiyoshi die Frage, auf die Naghûl eigentlich schon gewartet hatte - und Sarin wohl auch, wie er an dessen Blick erkannte.

„Nachdem Ihr ja ausdrücklich erlaubt habt, Fragen zu stellen, bitte ich Euch, meine Unwissenheit zu verzeihen, ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui. Doch welche Position hat der ehemalige Bundmeister Delazar Ulan-gensui seitdem in der Oktade?“

Die immer neuen Suffixe, die Kiyoshi in seiner umständlichen Art an alle Namen anfügte, entlockten Naghûl doch hin und wieder noch ein Stirnrunzeln, auch wenn er sich inzwischen weitgehend daran gewöhnt hatte. Sarin schien es nicht anders zu gehen, doch er beschränkte sich darauf, die Frage des jungen Soldaten zu beantworten – mit einem vernehmlichen Seufzen.

„Delazar führt den Vorsitz der Oktade. Zwar regieren alle acht Mitglieder zusammen, doch einer von uns hat immer eine herausgehobene Position, die des Oktarius Elatus. Durch dieses Amt hat man auch ein paar mehr Rechte als die übrigen Mitglieder.“

Er klang nicht begeistert und Kiyoshi nickte ernsthaft.

„Ich danke Euch für diese erleuchtenden Worte über den Oktarius Elatus Delazar Ulan-daigensui, ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui.“

Naghûl seufzte innerlich und beschloss, nicht mehr zu versuchen, Kiyoshis Suffix-Vergabe zu verstehen. Nun schaltete sich Lereia wieder in das Gespräch ein.

„Euer Verhältnis zu Delazar scheint auch eher angespannt?“

Nun konnte der Tiefling sich mit einem Einwurf nicht zurückhalten. „Ganz Sigil hatte ein angespanntes Verhältnis zu ihm.“

Der Bundmeister schien keinen Anstoß an seiner Bemerkung zu nehmen, sondern nickte zustimmend. „Allerdings.“

„Und welches Problem hatte Sigil mit Delazar?“ wollte Sgillin wissen.

„Delazar kam von Ortho“, erklärte Sarin. „Nun, ich komme auch von Ortho, aber er war vor seiner Bundmeisterschaft nie in Sigil gewesen. Ich war über fünfzehn Jahre hier, ehe ich es wurde. Delazar ... hat nie verstanden, wie Sigil funktioniert.“

Der Halbelf nickte. „Ich verstehe ... ebenso wie Lord Valiant?“

„Genau. Ich habe größte Befürchtungen, dass er … meine Güte, wenn er wieder nach Sigil kommt ...“

„Befürchtet Ihr größeren Ärger mit den anderen Bünden?“ hakte Sgillin nach.

Sarin lachte unfroh. „Das auch. Aber ich befürchte den größten Ärger in meinem eigenen Bund.“

Jana warf ihm einen längeren, forschenden Seitenblick zu. „Man sagt, Ihr säßet recht fest in Eurem Stuhl“, bemerkte sie leise.

Der Bundmeister hob eine Braue, als er zu ihr hinüber sah. „Es ist schön, dass man das so sieht. In aller Bescheidenheit würde ich annehmen, dass dem auch so ist.“

Die Hexenmeisterin nickte und richtete sich dann etwas auf. „Also, ich kann nicht sagen, wie zuverlässig das ist, was ich sehe. Auch wenn dieser Streit unzweifelhaft stattgefunden hat … Was ist die Schlussfolgerung daraus? Könnte es auch sein, dass uns jemand ganz bewusst gegen Lord Valiant aufbringen will?“

„Das ist gar nicht nötig“, bemerkte Sarin säuerlich. „Glaubt mir, eine einzige Begegnung mit ihm, und er würde Euch ganz allein gegen sich aufbringen.“

Naghûl räusperte sich. Er hatte noch eine durchaus unbequeme Frage. „Gibt es irgendein Kind in unseren Schriften ... das auf Valiant zutreffen könnte?“

„Naghûl ...“ Sarin seufzte tief. „Müsst Ihr jetzt hier wirklich den größten Alptraum auspacken?“

„Ich will nur den schlimmsten Fall ausschließen können“, entschuldigte der Tiefling sich.

Jana schaute zu ihm hinüber. „Du glaubst, diese Visionen weisen uns vielleicht den Weg zu anderen Kindern?“

Naghûl nickte. „Man muss es in Betracht ziehen, finde ich.“

„Ich glaube eher, dass das Ganze in Richtung Grab der Bünde geht …“, murmelte Sgillin.

Lereia warf ihm einen besorgten Blick ob dieser Mutmaßung zu, wandte sich dann aber an Kiyoshi. „Da wir gerade von anderen Kindern der Prophezeiung reden: Ihr hattet doch dieses Gespräch mit der Fratze über Hüterin und Verkünder. Wo sollten diese noch einmal zu finden sein?“

„Es hieß unter den Himmeln des Himmels, ehrenwerte Lereia-san“, antwortete der junge Soldat. „Findet sie, wo das Land in den Wellen nur ist wie die Sterne am Himmel. Findet sie, wo Tränen wie Juwelen sind. Wir hatten die Vermutung, dass das Elysium gemeint sein könnte.“

„Ja, das hört sich in der Tat nach dem Elysium an“, stimmte Sarin zu, offenbar froh, das Thema wechseln zu können. „Nun gut, aber eins nach dem anderen. Erst seht Ihr Euch das Portal in der Leichenhalle an, danach kümmern wir uns um mögliche andere Kinder der Prophezeiung. Ruht Euch ein wenig aus, ich lasse in der Zwischenzeit alles vorbereiten. Kommt in drei Tagen wieder hierher, dann erhaltet ihr die Bundabzeichen und passende Kleidung für diese Mission.“

 

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gespielt am 25. April und 3. Mai 2012

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