Zu jeder Zeit und an jedem Ort von Sigil ist öffentliche Gewalt strengstens verboten. Jede Art von Gewalt gegen Einwohner der Stadt der Türen wird sofort von den dafür Zuständigen (Harmonium oder Gnadentöter) geahndet. (Anmerkung: Von den Gnadentötern nur, wenn kein Harmonium in der Nähe ist.) Tätliche Angriffe auf Einwohner von Sigil ziehen Ehrenstrafen, Körperstrafen, Freiheitsstrafen von unterschiedlicher Dauer oder auch die Todesstrafe nach sich, abhängig von der Schwere der Tat. Auch Handlungen, die indirekt und fahrlässig zur Gefährdung oder Schädigung von Einwohnern führen, sind strafbar.“

Punkt 1 unter „Die Fünf Größeren Vergehen in Sigil“, so erlassen - 496 HR

 


 

Dritter Untertag von Regula, 126 HR

Die Gedanken rasten geradezu durch Naghûls Kopf, als er zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen die Treppen zum privaten Sinnsorium seiner Bundmeisterin hinaufstieg. Eigentlich hatte alles ganz gut begonnen. Marinda. Des Harmoniums Bundmeisters Tochter war das Thema gewesen. Sie war ein wenig zu begeistert von der Person des Eichelhähers. Und da dieser glücklicher- wenn auch weithin unbekannterweise dieselbe Person war wie Naghûl Ka'Tesh, konnte der Sinnsat ein wenig Einfluss nehmen auf das, was Marinda von ihm zu sehen bekam. Sehen sollte sie eine Affäre des Musikers mit einem hübschen jungen Kerl. Das würde sie zumindest ein wenig ins Grübeln bringen, ob der Mann tatsächlich persönlich Schwerpunkt ihres Interesses sein sollte oder ob sie sich nicht lieber nur auf seine Musik konzentrierte. Raralia hatte ihn natürlich gewarnt. Es konnte sein, dass dies die Fantasie eines jungen Mädchens erst recht anregen und das Interesse gar noch steigern könnte. Nun, er konnte nicht in Marindas Herz blicken, aber irgendetwas musste er versuchen, um Sarins Geduld nicht zu sehr auf die Probe zu stellen. So beschloss er, es darauf ankommen zu lassen. Er holte sich einen jungen Schauspieler und erklärte ihm – in der Person des Eichelhähers – dass er durch einen inszenierten, aber leidenschaftlichen und sehr öffentlichen Kuss eine junge Verehrerin abwimmeln wollte. Dank Marindas Dienstplan wusste er, wann und wo die Einlage am besten stattfinden sollte. Als es soweit war, positionierte er sich mit seinem engagierten Liebhaber und in seinem auffälligen Kostüm an einem Brunnen im Gildenhallenbezirk. Sgillin hatte es sich nicht nehmen lassen, das Ganze von der nächsten Hausecke aus zu beobachten und fühlte sich bereits im Vorfeld köstlich unterhalten. Er hatte auch seine Freundin mitgebracht, eine junge Frau namens Lereia. Auf den ersten Blick wirkte sie still, fast zurückhaltend, doch Naghûl wusste, dass in der zart gebauten, hübschen Frau mit dem langen, weißen Haar noch etwas anderes steckte: Sie war eine weiße Wertigerin. Der Sinnsat hatte sie bereits in ihrer verwandelten Form gesehen und war sehr beeindruckt gewesen. Doch an jenem Nachmittag stand sie in unauffälligerer menschlicher Gestalt bei dem Halbelfen und beobachtete ebenso wie dieser gespannt die Szene am Brunnen. Zunächst verlief alles nach Plan. Marinda kam mit einer anderen Triaria auf ihrer Patrouille an dem Platz vorbei, entdeckte den Eichelhäher am Brunnen, wollte schon begeistert zum ihm laufen und sah dann aus nächster Nähe den leidenschaftlichen Kuss, den Naghûl mit dem angeheuerten Schauspieler austauschte. Sgillin, der ihre Reaktion wie von Naghûl gewünscht genau beobachtet hatte, beschrieb sie später als erstaunt und leicht verwirrt. Das Mädchen wechselte ein paar Worte mit der anderen Soldatin, dann setzten sie ihre Patrouille fort, nicht ohne noch den einen oder anderen Blick zum Brunnen zurückzuwerfen. So weit, so gut. Naghûl dankte dem Schauspieler, der gut gelaunt ob der gelungenen Einlage von dannen zog. Nachdem Marinda in sicherer Entfernung war, kamen Sgillin und Lereia herüber, es wurden ein paar freundliche Worte zur Begrüßung und einige Scherze ausgetauscht. Damit hätte es gut sein können. Sie wollten in die Limbusbar gehen und den Abend gemütlich ausklingen lassen. Doch nein … Das Schicksal hatte andere Pläne. Ein Dabus näherte sich ihnen, und zu ihrem großen Erstaunen sprach er sie an. Wenn man es bei den Dabus überhaupt so nennen konnte. Die kleinen Bilder und Symbole, die leuchtend über seinem Kopf in der Luft schwebten, wirbelten immer wieder herum, als er offenbar versuchte, sie zu einem Rätsel anzuordnen, dessen Lösung den dreien am Brunnen sein Anliegen offenbart hätte. Schon allein, dass der Dabus sich ihnen aktiv näherte, war unheimlich. Normalerweise beachteten die Dabus die Einwohner von Sigil nicht – ebenso wie umgekehrt. Nur selten sprach man einen Dabus überhaupt an, aber quasi niemals wurde man von einem angesprochen. Damit nicht genug schien dieser auch noch aufgeregt oder nervös zu sein. Da das Verhalten der Dabus die Stimmung der Dame spiegelte, war dies wirklich ein Grund, unruhig zu werden. Lereia und Sgillin waren zu unerfahren in Sigil, um die Sprache des Dabus verstehen zu können. Und auch Naghûl hatte seine Schwierigkeiten. Zum einen, weil er sich noch nie gerne mit Rätseln befasst hatte – und die Dabus bekannterweise ausschließlich in Rätseln sprachen. Zum anderen, weil die Bilder und Symbole über dem Kopf des Dabus ständig in Bewegung waren und die Position wechselten. Ein Haus … zwei Augen … ein Fragezeichen. Hände, die die Augen zuhielten. Dann schau halt weg, riet Naghûl dem Dabus genervt, als er einfach nicht aus seiner Botschaft schlau wurde. Da schien der Dabus es aufzugeben und schwebte davon. Als sie ihm nicht nachgingen, hielt er jedoch wieder inne und wandte sich zu ihnen um. Sie sollten ihm offensichtlich folgen, und neugierig geworden, taten sie es auch. Der Dabus führte sie zu einem älteren Haus unweit des Großen Gymnasiums. Vor der Tür des Hauses stiegen wieder verschiedene Bilder über seinem Kopf auf, doch erneut konnten die drei Freunde sich keinen Reim darauf machen. Der Dabus wirkte verwirrt und besorgt. Als niemand ihn verstand, schüttelte er schließlich einen Schlüssel aus dem Ärmel seiner langen Robe, den er klirrend vor Naghûls Füßen aufs Pflaster fallen ließ. Dann schwebte er einfach davon. Die Aufforderung war ebenso eindeutig wie gespenstisch. Mit gemischten Gefühlen hob Naghûl den Schlüssel auf und wie befürchtet passte er in das Schloss der Haustür. Die Freunde betraten kein Wohnhaus, wie man es im Gildenhallenbezirk erwartet hätte, noch eine Werkstatt oder einen Lagerraum. Es handelte sich um ein kühles, altes Gemäuer aus grauem Stein – und es war völlig leer. Nichts als kahle Wände und nackter Boden. Und doch war etwas Lebendiges in dem Haus. Ein etwa katzengroßer Skorpion huschte aus einer schattigen Ecke hervor. Sie schreckten alarmiert zurück, doch das Tier verhielt sich nicht aggressiv, krabbelte ruhig vor ihnen hin und her. Bei genauerer Betrachtung fiel auf, dass er ein Auge auf dem Rücken hatte. Ab und an schloss es sich kurz, doch ansonsten schien es die Besucher aufmerksam zu mustern. Naghûl liebte neue Erfahrungen, doch diese jagte ihm ein Schaudern über den Rücken, das musste er zugeben. Und er sah Sgillin und Lereia an, dass es ihnen ebenso ging. Am liebten hätten sie alle wieder kehrt gemacht, doch das Haus zog sie geradezu magisch an. Der Skorpion krabbelte auffällig langsam zu einer Tür, die in einen weiteren Raum führte. Ebenso wie der Dabus schien er zu wollen, dass sie ihm folgten. Sie betraten einen weiteren leeren Raum, doch in diesem war etwas anders. Ein Vortex aus weißer Energie wirbelte in der Mitte des Zimmers und plötzlich geschahen merkwürdige Dinge. An der der Tür gegenüber liegenden Wand konnte Naghûl ganz deutlich drei Ziffern erkennen, die in einem bläulichen Licht leicht glühten: 3 – 5 – 3. Doch es stellte sich heraus, dass weder Sgillin noch Lereia sie sahen. Lereia hingegen war sicher, den Duft verwelkender weißer Rosen wahrzunehmen. Doch keinem der beiden anderen fiel dies auf. Sgillin hingegen wirkte plötzlich verwirrt und aufgeregt. Ich schwöre euch, ich habe gerade den Körper mit diesem Skorpion getauscht, versicherte er. Das ist kein Witz! Ich war in seinem Körper, für einen ganz kurzen Moment! Doch noch ehe sie überhaupt versuchen konnten, sich einen Reim auf diese seltsamen Geschehnisse zu machen, erschienen wie aus dem Nichts sieben Grabsteine vor ihnen. Ein jeder trug eine eingemeißelte Inschrift, und sie lasen mit Schaudern: Grab der Bünde – Grab der Wirklichkeit – Grab der Götter – Grab der Zeit – Grab der Träume – Grab des Lebens – Grab der Ebenen. Und dann wehte wie ein Windhauch eine Stimme durch den Raum, die flüsterte: Wer ist der Sucher und wer ist der Wächter? Wer ist der Träumer und wer ist der Denker? Wer wird erschaffen und wer wird zerstören? Wer wird Vergangenheit und Zukunft sehen? Wer ist der Tänzer? Und wer, ja wer ist der Heiler? Und in dem Moment, als die Stimme endete, endete auch der Rest des Spuks: Die Grabsteine, der Vortex, der Skorpion … alles war verschwunden, das seltsame Haus wieder vollkommen leer. Nur der Schlüssel in Naghûls Händen bewies, dass sie all dies nicht einfach geträumt hatten. So sehr der Sinnsat neue Erfahrungen auch liebte: Diese war zu bizarr und fühlte sich zu bedeutungsschwer an, um sie für sich zu behalten. Dies hatte irgendetwas zu bedeuten, und zwar etwas Wichtiges, das war ihm klar, auch ohne es wirklich zu verstehen. Er musste mit seiner Bundmeisterin darüber sprechen. Und da Sgillin und Lereia offensichtlich auch in der Sache steckten, nahm er sie gleich mit in die Festhalle. Lady Erin war nicht in der Haupthalle anzutreffen, doch wie zumeist war ihr Gefährte, der Halbelf Cuatha Da'nanin, meist nur Da'nanin genannt, anwesend. Er grüßte Naghûl freundlich, bemerkte jedoch rasch, dass etwas Wichtiges und auch Beunruhigendes dem Tiefling auf der Seele brannte. Ohne große Umschweife brachte er Naghûl, Lereia und Sgillin daher nach oben ins private Sinnsorium. Bundmeisterin Erin war überrascht, doch erfreut, die beiden Männer zu sehen und auch Lereia kennenzulernen. Sie bat die drei, sich ihr gegenüber zu setzen, während Da'nanin an ihrer Seite Platz nahm. Naghûl atmete einmal tief durch und erzählte dann ausführlich und vollständig, was sie soeben in dem geheimnisvollen Haus erlebt hatten. Lady Erin und ihr Stellvertreter und Gefährte tauschten mehrmals bedeutungsvolle Blicke während dieses Berichts, unterbrachen den Tiefling jedoch nicht. Und dann schien es, dass Erin ihnen – so überraschend wie erleichternd – zumindest ein wenig mehr Aufschluss über das Erlebte geben konnte. Sie musterte die Gruppe ernst und zugleich mit einer gewissen Aufregung.

„Es gibt viele Legenden, die sich um unsere Stadt ranken“, erklärte sie. „ Manche sind nur allzu bekannt, manche sind verborgener. Und einige liegen fast völlig im Dunkeln. Eine solche Legende erzählt, dass sich in Sigil etwas befindet, das alles verändern kann: Raum und Zeit, Gesinnungen, Träume, die Realität selbst.“

Sgillin sank ein wenig in seinem Stuhl zusammen. „Und wir haben's gefunden ...“, murmelte er leise, „Großartig.“

Die Bundmeisterin quittierte seine Bemerkung mit einem kurzen Schmunzeln, ehe sie fortfuhr: „Es handelt sich um ein Artefakt oder ... etwas ähnliches. Es ist in die Stadt integriert, ein Teil von ihr. Doch niemand weiß, wo genau. Niemand weiß, wie es funktioniert oder aktiviert wird. Es gibt vieles, das an dieser Legende unklar ist. Ich kann Euch nur sagen, dass dieses Artefakt Deus Machina genannt wird. Und diese Legende ist wiederum verknüpft mit einer anderen, einer alten Prophezeiung: Wenn einst die Zeit kommt, in der die Maschine zum Leben erweckt werden könnte, werden die Erwählten des Ringes da sein. Mit dem Ring ist wahrscheinlich Sigil gemeint, vielleicht aber auch der ganze Ring der Äußeren Ebenen. Es heißt, dass diese Erwählten besondere Fähigkeiten haben, die sonst niemand besitzt und die sie selber noch nie bemerkten, bis zu dem Tag ... an dem es beginnt.“

Sie endete und blickte in die Runde der teils erstaunten, teils überforderten Gesichter. Da'nanin wirkte weniger überrascht, die Legende war ihm offenbar bekannt gewesen. Sgillin war der erste, der mit einem ebenso kurzen wie prägnanten Kommentar die Stille brach. „Tja …“

Es dauerte eine Weile, bis Erins Worte ihre komplette Wirkung und Bedeutung in seinen Gedanken entfalteten. Doch dann setzte Naghûl sich gerader hin, alarmiert.

„Mo ... Moment“, warf er ein. „Wir ... sind das aber nicht, oder? Diese Erwählten?“

Erins Lächeln konnte fast ernst genannt werden. „Ich fürchte doch.“

Selbst für einen Sinnsaten war dies gerade schwer zu verdauen. Naghûl lehnte sich zurück und blickte zur Decke. Lereia hingegen ließ den Kopf sinken.

„Aber ... was sollen die Erwählten mit einer Maschine machen?“

Lady Erin seufzte und wirkte selbst ein wenig ratlos, was Naghûl nicht oft bei ihr erlebte. „Ich weiß es nicht. Wir wissen insgesamt leider nur sehr wenig von dieser Legende und dies auch erst seit Kurzem.“

„Und diese neun von der Stimme genannten Personen? Der Denker, der Sucher und so weiter?“ überlegte Lereia, „Sind sie dann die Erwählten?“

„Das könnte man so deuten“, erwiderte Erin, „Es fragt sich, warum gerade neun.“

„Vielleicht die neun Gesinnungen?“ überlegte Da'nanin.

„Verzeiht, Bundmeisterin“, schaltete Sgillin sich nun wieder ein, „Wie habt Ihr denn von der Legende erfahren?“

Erin warf dem Halbelfen jenes Lächeln zu, mit dem sie ihn schon beim ersten Treffen gekonnt aus der Façon gebracht hatte. „Die Bünde von Sigil haben viele Informationsquellen, und die Sinnsaten nicht die wenigsten.“ Sie beließ es dabei und sah dann zu Lereia, die nun etwas überfordert die Hände hob.

„Ich kann diese Fähigkeiten nicht einordnen, die wir in dem Haus plötzlich hatten“, erklärte die junge Frau, „Das war so wirr ... und passt auch nicht auf die neun Bezeichnungen.“

Erin sah die drei unverhohlen neugierig an - nach der ersten Überraschung siegte nun offensichtlich die Aufregung. „Das wird nun herauszufinden sein“, stellte sie fest und blickte in die Runde. „Wer von Euch ist der Sucher? Oder der Heiler?“

„Oder die Träumerin?“ ergänzte Da'nanin lächelnd, „Oder wer weiß?“

Auch Naghûl spürte nun, wie sich nach dem ersten Schreck die Neugierde regte und eine sinnsatische Aufregung sich bemerkbar machte. „Ich für meinen Teil fände den Tänzer ganz gut“, bemerkte er. „Aber ich glaube, das kann ich mir nicht aussuchen und schon gar nicht passt das mit den Zahlen zusammen, die ich gesehen habe.“

„Das klingt eher nach Denker oder Prophet“, meinte Lereia, und Naghûl seufzte tief.

„Bitte nicht.“

Das war wirklich nicht gerade die Rolle, auf die er erpicht war. Die junge Frau hob die Schultern und stellte dann eine Frage, die sie offenbar schon eine Weile bewegte:

„Sind diese Gaben oder die Maschine etwas Schlechtes?“

Nachdenklich wiegte Lady Erin den Kopf. „So wie eine Waffe gut oder schlecht ist, je nachdem, wer sie benutzt, wird es wohl auch mit der Maschine sein. Vermute ich.“

„Bundmeisterin“, meldete sich Sgillin zu Wort, „Ich hätte noch eine Frage. Wann habt Ihr von der Legende erfahren? Mir geht es nur um den Zusammenhang zwischen dem Zeitpunkt Eurer Information und dem heutigen Tag.“

Lady Erin schmunzelte, als er erneut versuchte, ihr eine Information dazu zu entlocken, nickte jedoch, als er seine Frage noch ein wenig anpasste. „Von der Maschine wissen wir schon länger, das mit den Erwählten aber erst seit ein paar Wochen.“

Der Halbelf ließ noch nicht locker. „Und wie seid Ihr darauf gekommen? Durch Zufall, also irgendjemand hat es in einem alten Buch gelesen? Oder ist etwas passiert?“

Erin lächelte erneut, doch diesmal lag eine gewisse Unnachgiebigkeit darin. „Es ist vielleicht zu früh, dies auszubreiten.“

„Wie habt Ihr die Brücke geschlagen?“ wollte Lereia wissen, „Dass es sich bei unseren Geschehnissen um die Erfüllung der Prophezeiung handelt?“

„Die Prophezeiung beschreibt die Fähigkeiten der Erwählten“, erwiderte Erin, „Aber sie nennt nicht deren Namen. Zumindest nicht der Ausschnitt, den wir besitzen.“

„Allerdings werden nur sechs Fähigkeiten genannt“, fügte Da'nanin an.

„Wie werden sie beschrieben?“ fragte Lereia.

Erin schlug ein Bein über das andere, und ihr Kleid raschelte leise. Sie konnte die alte Überlieferung offenbar mühelos aus dem Kopf wiedergeben. „Es heißt: das Kind, das die unsichtbaren Zeichen sieht und das Kind, das den Duft der Ebenen kennt.“ Sie blickte dabei erst zu Naghûl, dann zu Lereia. „Von Sgillins Fähigkeit allerdings wird nichts erwähnt. Die anderen vier lauten: das Kind, das die Alte Sprache versteht - das Kind, das in Vergangenheit und Zukunft blickt - das Kind, das durch die Träume wandelt und das Kind, dessen Blut die Klingenrebe zum Blühen bringt.“

Sgillin hob die Schultern „Aber vielleicht ist es ja gar keine Fähigkeit, sondern war nur Zufall. Bedingt durch den Vortex oder dessen Auftauchen und Verschwinden.“

Die Bundmeisterin der Sinnsaten lächelte unergründlich. „Vielleicht. Aber ich glaube eigentlich nicht an Zufälle. Nicht an solche.“

Lereia malte in ihrem Notizbuch Linien und tippte immer wieder mit dem Finger an eine andere Stelle. „Schwierig, sie zuzuordnen“, murmelte sie.

Da'nanin nickte. „Ja, umso mehr, da es offenbar neun Erwählte gibt.“

Sgillin währenddessen schien eine ganz andere Frage zu beschäftigen. „Hmm ... ich frage mich, wenn dem so ist ... Wo ist dann der Geist des Lebewesens, in dem ich mich befinde?

„Vielleicht in Euch?“, mutmaßte Lady Erin.

Sgillin sah zu Lereia. „Hab ich mich wie ein Skorpion verhalten, als mein Geist eventuell in dem Tier war? Also, hab ich mit den Händen geklappert oder mit dem ... na ja, egal. “

Erin musste auf die Frage hin lachen und Lereia runzelte die Stirn.

„Da hatte ich nicht auf dich geachtet.“ Dann schloss sie langsam das Buch. „Ich würde gerne eine Nacht darüber schlafen. Und dann vielleicht versuchen, mehr über die Legende der Maschine und die zugehörige Prophezeiung zu erfahren. Was bedeutet Deus Machina?“

„Es bedeutet Göttermaschine“, erklärte die Bundmeisterin der Sinnsaten.

„Das klingt mächtig“, bemerkte Sgillin.

Da'nanin nickte. „Und das hier im Käfig ... ein heißes Eisen.“

Der Halbelf blickte nun zu Naghûl und Lereia. „Glaubt ihr, wir können diese Fähigkeiten trainieren?"

„Eine gute Frage“, erwiderte Naghûl, „Ich weiß nicht, ob die meine irgendwie ... Also, wie sollte ich darauf Einfluss darauf nehmen können?“

Lereia rieb sich die Stirn. „Ich ... ich finde das gerade etwas viel. Ich möchte erst erfahren, was das alles überhaupt bedeutet. Zumindest ein bisschen mehr wissen.“

„Ja, das ist verständlich“, erwiderte Lady Erin, „Allerdings solltet Ihr Euch mit dem Gedanken vertraut machen, nun Teil von etwas zu werden, das größer ist als wir alle. Sehr viel größer.“

Naghûl fasste sich an die Stirn, als ihm plötzlich ein Gedanke kam. „Und dass Sie wollte, dass wir dorthin gelangen - oder?“

Erins Blick war untypisch ernst und ihre Antwort untypisch kurz gehalten. „Ja.“

Sgillin atmete hörbar aus und Lereia schüttelte den Kopf.

„Aber wieso erlaubt Sie das den Göttern? Oder überhaupt?“

„Was meint Ihr?“ fragte die Bundmeisterin.

„Dass mit Sigil etwas passiert. Dass sich etwas hier erhebt.“

„Du meinst die Dame?“, wollte Sgillin wissen.

Lereia nickte leicht, und Erin lächelte nun wieder, wenngleich man es diesmal eher nachdenklich als aufgeregt nennen konnte.

„Es gibt Dinge, die im Dunkel liegen“, erklärte sie, „Möglicherweise will die Dame, dass die Maschine gefunden wird. Oder aber auch nicht. Und welche Rolle Ihr dabei spielt oder die anderen Erwählten, die wir noch nicht kennen - ich weiß es nicht.“

„Wie können wir die anderen finden?“ fragte Naghûl, „Oder werden sie uns finden?“

„Leider weiß ich auch das nicht“, entgegnete Erin bedauernd, „Der vielversprechendste Weg scheint mir, nach den uns bekannten Fähigkeiten Ausschau zu halten.“

Sgillin musste plötzlich schmunzeln. „Die Göttermaschine ... Mal sehen, welche Götter mir über den Weg laufen.“

„Betet, dass es nicht allzu viele werden“, erwiderte Da'nanin schmunzelnd.

Naghûl spürte nun, wie die Aufregung eindeutig die Oberhand gewann. „Ich brauche dafür einen eigenen geheimen Sinnstein“, platzte es aus ihm heraus.

„Genehmigt“, entgegnete seine Bundmeisterin lachend, offenbar zufrieden über die Begeisterungsfähigkeit ihres Faktotums.

Lereia hingegen wirkte noch immer nachdenklich. „Wie können wir mehr herausfinden?“

„Wir werden natürlich alles einsetzen, was wir haben“, versprach Lady Erin. „Vielleicht finden wir etwas heraus. Ihr könnt natürlich auch selbst nachforschen.“

Naghûl lachte. „Macht euch darauf gefasst, dass ich euch alle ständig fragen werde, ob ihr dies und jenes seht.“

„Dann übernehme ich irgendwann deinen Geist, damit diese ewige Fragerei aufhört“, drohte Sgillin zwinkernd.

Naghûl grinste breit und lehnte sich, nun entspannter, in seinem Stuhl zurück. „Was die Zahlen 3, 5 und 3 wohl bedeuten ...“

Lereia hob die Schultern. „Ich nehme scheinbar den Duft von Ebenen wahr. Ich finde, das klingt nicht so besonders wichtig. Unsichtbare Zeichen sehen jedoch, da könnt ihr sicher einige Erfahrung sammeln.“

Erin musterte die junge Frau eingehend, ihrem Blick war nicht ganz zu entnehmen, wie sie zu ihrer Bemerkung stand. „Die Ebenen sind das, was unser Multiversum ausmacht“, erklärte sie ruhig, „Irrt Euch nicht.“

Naghûl nickte zustimmend, doch ehe er etwas anfügen konnte schnalzte Sgillin mit den Fingern.

„Vielleicht hast du etwas aus der Ebene wahrgenommen, zu welcher der Vortex geführt hat. Das wäre wie ein Frühwarn-Mechanismus für unbekannte Portale.“

„Ich kann es nur gar nicht einordnen, was der Geruch einer Ebene aussagen soll“, wandte Lereia ein.

„Na ja, wenn es nach Schwefel riecht, sollte man es sich wohl zweimal überlegen, da hindurch zu gehen“, meinte Sgillin leichthin.

Seine Bemerkung entlockte Erin ein Schmunzeln, und diesmal wandte sich Da'nanin an Lereia. „Prophezeiungen umschreiben oft sehr vage. Wer weiß, was Eure Fähigkeit beinhaltet.“

Lereia lehnte sich zurück. „Das ist alles sehr kryptisch, aber ich denke auch, wir werden es mit der Zeit besser einordnen können. Ich hoffe nur, wir machen keine Fehler oder verpassen etwas oder ähnliches. Es ist einfach noch zu undurchsichtig.“

Abermals kam Naghûl ein beunruhigender Gedanke. „Oh nein ... könnte das für mich heißen, dass ich mich mit Kryptographie auseinandersetzen muss?“

Erin lachte herzlich, aber Sgillin ging gar nicht darauf ein, da auch ihm offenbar etwas in den Sinn gekommen war.

„Wir können ja morgen mal zu einem bekannten Portal gehen und schauen, ob etwas passiert. Vielleicht haben wir diese Fähigkeiten auch nur in der Nähe von Portalen.“

Lereia nickte, ein wenig erschöpft. „Eine gute Idee, Sgillin.“

„Noch eine Sache ...“ fügte Erin an. „Es ist unbedingt nötig, dass wir von nun an in engem Kontakt bleiben. Ich möchte daher für nächste Woche ein erneutes Treffen anberaumen.“

Naghûl nickte. „Ich werde wohl mit Schmerz meine Grafschaft im Stich lassen müssen.“

Der Gedanke bedrückte ihn durchaus, umso mehr als er wusste, wie wichtig seiner Frau Morânia ihre Grafschaft auf der Materiellen Ebene war. Und doch hatte er das starke Gefühl, dass sein weiterer Weg ihn von dort weg und wieder dauerhaft zurück in die Ebenen führen würde. Erin schien seine Gedankengänge zu erahnen, denn sie musterte ihn mitfühlend.

„Wir wissen nicht, wie schnell sich all das entwickeln wird. Doch es wird Euer Leben nachhaltig beeinflussen, ja ...“

Naghûl war ihr dankbar für ihre Offenheit, dass sie nicht versuchte, die Lage zu verharmlosen oder zu beschönigen. Doch andererseits klang das vielleicht zu negativ. Denn war es nicht auch so, dass eine einzigartige und großartige Erfahrung auf ihn wartete? Und welches Sinnsaten Herz hätte dabei nicht höher geschlagen?

 

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gespielt am 28. Januar 2012

 

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