„Wo ist Zena?“
Faktor Keldor, wenn er hört, dass ein herrenloser Hund durch die Blech-Werke streunt
Erster Gildentag von Retributus, 126 HR
Obgleich es schon fast Gegenzenit war, hielt sich Ambar an diesem Tag noch in der Gießerei auf. Nicht in der Eingangshalle, sondern in der Haupthalle der Großen Schmiede selbst, wo auch jetzt noch gearbeitet wurde. Zwar war das Treiben nicht ganz so geschäftig wie untertags, doch da die Mitglieder der Göttermenschen ebenso verschiedene Wach- und Schlafenszeiten hatten wie alle anderen Einwohner Sigils, wurde hier auch nachts gearbeitet. Des Bundmeisters Blick wanderte hinauf zu dem riesigen Stahlträger, der an schweren Ketten befestigt in der Halle hing. Eigentlich war es nur ein Teil eines sehr viel größeren Trägers … ein Bruchteil. Ambar hatte wegen der Hitze der Öfen und Essen Gehrock und Weste abgelegt, die Ärmel weit hochgekrempelt und das schulterlange Haar im Nacken zusammengebunden. Neben ihm stand sein Stellvertreter Ombidias, ähnlich locker gekleidet und mit verschränkten Armen. Der Voadkyn überragte ihn um fast einen Meter, und der Barde konnte seinen Blick geradezu spüren, als er auf ihn herabsah. Seufzend rieb er sich den Nacken. „Sag es nicht ...“
„Oh, aber wie ich es sagen werde“, erwiderte sein langjähriger Freund. „Dieses Projekt, mein lieber Ambar, ist der absolute Wahnsinn. Aber nicht im positiven Sinn.“ Seine tiefe Stimme war ruhig und gleichmäßig wie stets, doch der Bundmeister konnte durchaus heraushören, dass Ombidias nicht begeistert war. So gut kannte er den Schamanen nach all den Jahren. Seine Verstimmung war durchaus nachzuvollziehen, denn Karans Idee, für die Überraschung! der Xaositekten sieben Stahl-Speichen quer durch den Ring zu bauen, um Sigil wie ein riesiges Rad aussehen zu lassen …
Natürlich war es Wahnsinn, es war die Idee des Bundmeisters der Chaoten. Doch der Bundmeister der Gläubigen hatte den Auftrag angenommen, diese Speichen in der Gießerei fertigen zu lassen, und nicht nur Keldor und Ombidias hatten die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen. Prinzipiell konnte er sie verstehen, doch waren seine Bedenken nicht so groß wie die ihren. Und zwar aus dem Grund, weil Karan mit Sicherheit niemals abwarten würde, bis ein so großes und langwieriges Projekt fertig gestellt wäre. Er würde bestimmt nicht von Retributus bis Kapriziosus an einer Sache dranbleiben.
„Ombidias, das wird alles nicht so wild“, erklärte Ambar daher leichthin. „Ich gebe der Sache noch zwei, drei Wochen. Dann verliert Karan das Interesse und der Auftrag ist geplatzt. Dann schmelzen wir das Ding wieder ein.“
Der Voadkyn schüttelte den Kopf. „Ernsthaft? Also, ich meine, ja … Durchaus wahrscheinlich, dass es so kommt. Aber warum hast du den Auftrag dann überhaupt angenommen, hm?“
Der Barde legte den Kopf in den Nacken und sah zu seinem Stellvertreter hoch. „Weil die Xaositekten der einzige Bund im Stock sind, mit dem wir zumindest ein neutrales bis entspanntes Verhältnis haben können. Eine Allianz ginge vielleicht zu weit, aber du weißt, dass weder Staubmenschen noch Trostlose sich für Derartiges anbieten. Weil unsere Philosophien dazu einfach zu fundamental verschieden sind.“
Ombidias nickte. „Zugegeben. Das heißt, es geht dir hier um gute Beziehungen zu unseren Nachbarn im Stock?“
„Im Grunde schon“, erwiderte Ambar. „Zum ersten Mal seit Langem haben die Xaositekten einen Bundmeister, der länger als ein Jahr im Amt ist – wenn auch mit Unterbrechungen, aber du weißt, was ich meine. Er verleiht dem Bund erstaunlicherweise so etwas wie Stabilität. Und lenkt die Chaoten in eine ganz angenehme Richtung. Eher hin zu Kreativität aus dem Chaos, weniger zerstörerisch als sie in der Vergangenheit schon öfter mal waren.“
„Da ist was dran“, gab der Voadkyn zu. „Wenn man sich das Gemälde am Großen Gymnasium anschaut … Also, wenn ich es zusammenfasse: Du hoffst auf verbesserte Beziehungen zu zumindest einem der Bünde im Stock, dem wir immerhin direkt benachbart sind. Und hast daher dieses irrwitzige Projekt für Karan angenommen, in der Hoffnung, dass er bald das Interesse verliert und wir das niemals vollenden müssen. Aber trotzdem positive Schwingungen zwischen unseren Bünden übrig bleiben.“
der Gießerei-Distrikt bei Nacht
Ambar lachte, als sein Freund und Stellvertreter sein Ansinnen mit einer
hochgezogenen Augenbraue, aber in durchaus humorvollem Tonfall auf den
Punkt brachte. „Direkt ins Schwarze, Ombidias. Und? Bekomme ich deinen
Segen oder muss ich mich auf eine Rüge einstellen? Du weißt schon: Wenn
du diesen ruhigen, aber tadelnden Tonfall hast und die Brauen so
zusammenziehst … wie du es machst, wenn du mit einem Faktotum redest,
der etwas verbockt hat.“
„Ha ha“, erwiderte der Voadkyn mit einem Grinsen. „Außerdem bist du mein Bundmeister. Ich kann dir also nicht wirklich eine Rüge erteilen.“
Ambar schmunzelte. „Als ob dich das schon einmal abgehalten hätte.“
Ombidias setzte schon zu einer Erwiderung an, als eine der Wächterinnen, die normalerweise am Tor standen, an sie herantrat.
„Entschuldigt die Störung, Bundmeister“, sagte sie. „Aber Euer neuer Schützling ist hier und würde Euch gerne sprechen. Zusammen mit drei anderen Leuten.“
Mit dem neuen Schützling konnte eigentlich nur Lereia gemeint sein. Es war natürlich nicht unbemerkt geblieben, dass er die junge Frau seit einiger Zeit protegierte. Aber wieso mit drei anderen Leuten? Sie waren doch zu fünft in den Stock aufgebrochen. Und auch, dass sie zu so später Stunde hier auftauchten, wo die Chancen, ihn auch wirklich anzutreffen nicht so hoch waren, wo er sich nur zufällig noch in der Gießerei aufhielt … Er nickte der Wächterin zu und begab sich Richtung Eingang, winkte Ombidias, ihm zu folgen. Tatsächlich waren sie nur zu viert: Lereia, Naghûl, Kiyoshi und Sgillin. Jana war nicht zu sehen. Doch da die vier nicht besonders schockiert oder niedergeschlagen wirkten, konnte er wohl davon ausgehen, dass nichts Schlimmeres passiert war. Er trat daher etwas beruhigter auf sie zu, wobei ihm auffiel, dass sie außer Sgillin alle in grobe, dunkle Kutten gekleidet waren.
„Der Segen der Dame“, grüßte er die Erwählten. „Ich hatte Euch gar nicht erwartet.“
Sie verneigten sich und erwiderten seinen Gruß, Lereia lächelte etwas.
„Wir haben einige eilige Informationen“, erklärte sie. „Zumindest denken wir das.“
Ambar nickte ihr zu und konnte sich ein kurzes Schmunzeln über die ungewohnte Kleidungswahl der Gruppe nicht verkneifen. „Netter Aufzug“, bemerkte er, wurde dann aber rasch wieder ernster. „Eilige ...“
Weiter kam er nicht, weil sich in diesem Moment Kiyoshi vor ihm auf die Knie warf und mit der Stirn den Boden berührte. Ambar unterbrach sich und hob die Brauen. Er konnte die Blicke von Ombidias, der etwas entfernt stand, geradezu spüren. Dieser war möglicherweise amüsiert, doch Sgillin verdrehte kurz die Augen und auch Naghûl schien Kiyoshis Verhalten mittlerweile nicht mehr lustig zu finden. Der Bundmeister legte den Kopf schief und musterte den jungen Mann interessiert.
„Werter Kiyoshi, ich fühle mich wirklich sehr geehrt, aber ... Sagt mal, hat Sarin Euch das noch nicht ausgetrieben?“
Kiyoshi erhob sich wieder, sah ihn jedoch nicht direkt an. „Verzeiht, ehrenwerter Bundmeister Vergrove Ambar-heika, aber er sagte lediglich, ich solle nur ihn nicht mit einem Kotau begrüßen.“
„Mich darfst du gerne mit einem Kotau begrüßen“, warf Sgillin grinsend ein, woraufhin der junge Soldat ihm lediglich einen kalten Blick mit versteinerter Miene zuwarf.
Ambar nickte bei sich. Andere Welten, andere Sitten. Er nahm an, dass Sarin das noch in den Griff bekommen würde.
„Ah ja“, stellte er daher nur erheitert fest. „Würde ich ihn nicht besser kennen, würde ich meinen, Sarin macht sich einen Spaß mit mir. Also, das ist durchaus reizvoll, aber ich fürchte, ich bin noch nicht ganz so weit.“ Er deutete nach oben, dann wurde ihm klar, dass der in Sigil so neue Kiyoshi diesen durchaus selbstironischen Scherz über seine eigene Bundphilosophie wahrscheinlich gar nicht verstand. Er ließ die Hand wieder sinken. „Ich meine, in Sigil ist das nicht üblich, wenn man nicht gerade vor dem Hohepriester des Tempels der Abyss steht oder so.“
„Verzeiht meine Unwissenheit“, erwiderte Kiyoshi ernsthaft. „Also werde ich das in Sigil komplett unterlassen, ehrwürdiger Bundmeister Vergrove Ambar-heika.“
„Das ist vielleicht besser.“ Der Barde nickte. „Eine Verbeugung genügt in aller Regel. Und solltet Ihr irgendwann in den Tempel der Abyss müssen, können wir noch einmal darüber reden.“
Sein Blick wanderte wieder zu Lereia, die während der ganzen Szene geduldig abgewartet hatte. Und doch hatte sie die Informationen als eilig bezeichnet, somit wollte er sie nicht länger warten lassen. Allerdings war die große, öffentliche Schmiedehalle der Gießerei nicht gerade der passende Ort dafür.
„Lasst uns unser Gespräch woanders fortsetzen“, meinte er und warf Ombidias einen entschuldigenden Blick zu.
Sein Stellvertreter, der wusste, worum es ging, nickte verstehend und machte sich auf den Weg zur Vorarbeiterin Alissa, um das weitere Vorgehen für die Überraschung! mit ihr zu besprechen. Dann ging Ambar zu Lereia und reichte ihr den Arm, hielt jedoch noch einmal inne. Es war eine einfache, galante Geste, die er Damen gegenüber häufig zeigte ohne groß darüber nachzudenken. Doch er rief sich in Erinnerung, dass Lereia mit Sgillin zusammen war, und er wusste nicht, aus welcher Welt und Kultur der Waldläufer stammte. Möglicherweise konnte er Anstoß daran nehmen, daher zog Ambar den Arm noch einmal zurück und wandte sich an Sgillin.
„Oh ... gestattet Ihr das?“
Dieser nickte lächelnd. „Bei Euch schon.“
„Sehr freundlich“, erwiderte Ambar und reichte Lereia dann erneut den Arm.
Sie sah kurz zu Sgillin und nickte leicht, dann hakte sie sich, etwas schüchtern, bei ihm unter. Naghûl öffnete ihnen die Tür und stellte sich seitlich davon, um sie hinauszulassen. Ambar schmunzelte. Ganz die vollendeten Manieren der Festhalle. Er führte Lereia hinaus und blieb erst stehen, als sie sich ein Stück vom Eingang entfernt hatten. Die kühle Luft des nächtlichen Sigil bildete einen spürbaren Kontrast zur Hitze der Schmiede. Sgillin wedelte sich prompt Luft zu.
„Bei den stinkenden Socken Rabudaraks ...“, keuchte er. „Ist das heiß da drin.“
„Deswegen heißt sie die Große Gießerei“, erwiderte Ambar erheitert. „Aber sagt, wo ist Jana? Es ist doch hoffentlich nichts passiert?“
„Sie ist noch in den Schwarzen Segeln“, erklärte Lereia. „Um, nun … Habt Ihr in letzter Zeit mit Bundmeister Terrance gesprochen? Also nach unserer Unterredung mit ihm?“
Ambar ahnte, worauf sie hinauswollte und ja, das war ein Thema, das nicht warten konnte und sollte. Er beschloss jedoch, die Gelegenheit zu nutzen und die anstehende Unterredung mit etwas zu verbinden, das er gleichfalls nicht warten lassen wollte.
„Ich habe einen Vorschlag“, erklärte er. „Warum führen wir dieses Gespräch nicht in Eurem neuen Haus?“
Er hatte ihr versprochen, in Sigil eine Bleibe für sie zur Verfügung zu stellen und hatte sie nicht in die nächstbeste, kleine, dunkle Wohnung stecken wollen. So hatte er ein Häuschen nahe der Gießerei ausgewählt, das dem Bund schon lange gehörte, aber seit einer Weile leer gestanden hatte. Einer der Architekten, die auch regelmäßig am Bundhauptquartier auf der Ätherebene arbeiteten, hatte den Auftrag erhalten, es zu renovieren. Die schon sehr in die Jahre gekommenen Böden waren neu gelegt, die Wände sauber verputzt und gestrichen, die Wasserleitung instand gesetzt worden und natürlich hatte man das Haus neu möbliert. Seit zwei Tagen war es bezugsfertig. Er hatte Lereia bereits angedeutet, dass der Bund ihr eine Unterkunft zur Verfügung stellen würde, aber dennoch wirkte sie nun durchaus aufgeregt und freudig überrascht.
„Das wäre wundervoll!“ erwiderte sie auf seinen Vorschlag hin.
Sgillin sah sie mehr als überrascht an. „Du hast ein Haus?“
Lereia nickte aufgeregt, und Ambar musste lachen.
„Ihr habt offenbar eine Gefährtin mit vielen Vorzügen“, bemerkte er gen Sgillin.
Lereia senkte etwas den Kopf auf seinen Kommentar hin, doch ihr Gefährte grinste breit.
„In der Tat.“
Ambar führte die Gruppe über den Vorplatz der Gießerei hin zu einer nahen Gasse. Vor einer mit Schnitzereien verzierten Holztür blieb er stehen und zog den passenden Schlüssel aus der Tasche. Hinter sich hörte er Sgillin leise brummen.
„Jetzt hab ich schon in vier Kriegen für diese dämliche Insel gekämpft und gereicht hat es gerade mal für einen Schlafplatz im Hain ... und sie stolpert einmal durch Sigil und bekommt gleich ein Haus ...“
Ambar musste schmunzeln. Nach dem, was Lereia ihm erzählt hatte, sprach Sgillin wahrscheinlich von jener Insel auf der Welt Toril, die beide bis vor Kurzem noch bewohnt hatten. Aufgewachsen in den Wäldern Fayrills hatte er zwar gegen Schlafplätze in Hainen nichts einzuwenden, jedoch auch den Vorzug von Häusern zu schätzen gelernt, insofern konnte er die Gedankengänge des Waldläufers verstehen. Nun, zumindest hatte seine Gefährtin nun ein Haus, das würde ja auch Sgillin zugute kommen. Er sperrte auf und öffnete die Tür.
„Bitte, die Dame zuerst“, meinte er und bedeutete Lereia mit einer Geste, einzutreten.
Sie nickte aufgeregt und ging eilig hinein, blieb dann aber sogleich wie angewurzelt stehen und sah sich sprachlos um. Die Eingangstür führte in einen geräumigen Flur, wo ein schöner, neuer Holzboden verlegt war, der dem Haus eine angenehme Wärme verlieh. Es gab zusätzlich zur Küche und einem Bad insgesamt drei Zimmer: ein Schlafzimmer, einen Aufenthaltsraum und ein größeres Zimmer, in dem eine natürliche Umgebung nachempfunden worden war, mit Sand statt Parkettboden, Pflanzen, Steinen und einer Wasserstelle – für Lereias Tigerseite. Nacheinander traten auch Naghûl, Sgillin und Kiyoshi ein und sahen sich um. Der Tiefling lobte die Qualität der Böden, stellte fest, dass sie sicher teuer gewesen seien. Ambar schmunzelte ob seiner sinnsatischen Expertise, die durchaus zutreffend war. Im Schlafzimmer strich Lereia noch fast zurückhaltend über das Holz der Möbel, während Sgillin sich vor allem über den Kamin freute. Die junge Frau wirkte gleichzeitig aufgeregt und begeistert, aber auch noch ungläubig und ein wenig überfordert über ihren neuen Besitz. Ambar konnte es ihr nicht verdenken. Wäre er damals direkt aus den Wäldern Fayrills nach Sigil gekommen, er hätte ähnlich empfunden. Er hatte damals nur das Leben im Wald gekannt, nicht einmal wie Lereia das in den festen Mauern eines Klosters. Die dichten Kronen der Bäume waren das Dach gewesen und Moos und Gras der Teppich. Lediglich ein einfaches Häuschen hoch in den Ästen hatten seine Mutter und er gehabt, gerade groß genug, um bei Regen darin zu übernachten. Ein Haus in Sigil wäre damals auch für ihn ein großer Schritt gewesen. Freilich, jene unbesorgten Jahre in den Wäldern Fayrills, gemeinsam mit seiner Mutter und später auch seiner Frau Caye, hatten damals ein jähes und schreckliches Ende gefunden. Doch hatte sein Weg ihn danach nicht gleich nach Sigil geführt, sondern erst einmal weit durch die Ebenen. An wundervolle ebenso wie an düstere Orte, teilweise allein, teilweise gemeinsam mit Freunden und Gefährten, die ihm jedoch nicht alle erhalten geblieben waren. Erst dann hatte er die Gläubigen der Quelle gefunden und mit ihnen eine neue Heimat. Sgillin unterbrach ihn in diesen abschweifenden Gedanken, als er scherzhaft fragte:
„Was muss man nochmal tun, um in Euren Bund aufgenommen zu werden?“
Der Barde lachte, während Naghûl die Einrichtung des Hauses lobte.
„Die Farben sind sehr warm. Es erinnert alles ein wenig an eine Savanne. Sehr gut gewählt.“
Der Sinnsat hatte zielsicher den einzigen Punkt getroffen, bei dem die Absprache mit dem Architekten nicht ganz so gelungen war wie gewünscht.
„Tja, ich hatte dem Architekten gesagt, Tiger.“ Ambar rieb sich den Nacken. „Er hat sich wohl irgendwie Löwe gemerkt. Ich meine, da Tiger ja eher im Dschungel leben, aber ... ich hoffe, es ist in Ordnung.“
„Mehr als das“, erwiderte Lereia zu seiner Erleichterung lächelnd, während sie in Richtung Bad und Küche ging.
Auch von dieser schien Naghûl sehr angetan. Er bemerkte, leidenschaftlich gerne zu backen, was Sgillin mit einer gewissen Verwunderung quittierte. Lereia wirkte ebenso begeistert und erklärte, sich schon auf das erste selbst gekochte Mahl freuen. In ihren Jahren im Kloster der Eldath hatte sie das Kochen von Kind an gelernt. Nachdem sie sich alles angesehen hatte, kam sie auf ihn zu, und nach einem kurzen Zögern griff sie, ein wenig schüchtern, nach seiner Hand.
„Ich danke Euch vielmals, Bundmeister“, sagte sie gerührt. „Ihr habt mich so freundlich und großzügig aufgenommen. Ich werde mir alle Mühe geben, Euch nicht zu enttäuschen.“
Er lächelte. „Lereia, Ihr seid höchst bemerkenswert“, erwiderte er beruhigend. „Ich bin sicher, ich werde nicht bereuen, dass Ihr Euren Weg zu uns gefunden habt. Aber lasst uns doch in den Aufenthaltsraum gehen, damit Ihr mir erzählen könnt, was sich ereignet hat.“
Die anderen nickten und so begaben sie sich in das dritte und letzte Zimmer des Hauses. Hier stand ein niedriger Tisch in der Mitte und rundherum auf dem Boden lagen wunderschön bestickte Sitzkissen. Sie nahmen Platz, und Ambar sah zu Lereia, gespannt, was sie zu berichten haben würde.
„Hat Euch Bundmeister Terrance auf den neuesten Stand gebracht?“ erkundigte sie sich.
„Kommt darauf an, was der neueste Stand ist“, erwiderte Ambar. „Aber falls Ihr die Sache mit Eliath meint, davon erzählte er mir, ja.“
Lereia nickte. „Nun, wir waren in den Schwarzen Segeln und haben ihn tatsächlich dort entdeckt. Da meine Fähigkeit bei den Auserwählten hier nicht gewirkt hat, dachten wir uns, wir könnten so herausfinden, ob Eliath einer von uns ist.“
Von diesen Details bezüglich Lereias Fähigkeit hatte Terrance ihm berichtet, und er fand die Möglichkeit sehr spannend
„Und ist er es?“ wollte er wissen.
„Wohl nicht“, antwortete die junge Frau. „Ich konnte bei ihm die seelische Signatur von Bernstein wahrnehmen. Bei ihm waren aber noch drei Sinker, darunter eine Medusa. Sie hatte auch keine Signatur. Bei Untoten nehme ich jedoch auch nichts wahr, ich weiß also nicht, wie zuverlässig wir das auf diese Art bestimmen können. Allerdings muss ich hinzufügen, dass ich es bislang nur an zwei Untoten getestet habe: An einer Vampirin namens Zamakis, die unsere Ansprechpartnerin bei den Staubmenschen ist und an einem Skelett. Ich werde das sobald wie möglich noch bei anderen Untoten ausprobieren.“
Sgillin zündete während dieser Ausführungen die Wasserpfeife an, welche der Architekt offenbar als validen Teil der neuen Inneneinrichtung angesehen hatte. Ambar nickte nachdenklich.
„Bei Eurer Fähigkeit scheint es um die Seele zu gehen. Wenn jemand also keine hätte ...“ Er runzelte die Stirn. „Aber das kann eigentlich nicht sein. Ihr habt doch gewiss eine.“
„Davon gehe ich auch aus“, meinte Lereia mit einem sachten Lächeln. „Deshalb schlossen wir daraus, dass meine Fähigkeit bei den Auserwählten einfach nicht greift. Ah ja, und die Staubmenschen fanden heraus, dass Toranna tatsächlich eine Verräterin war und gestatteten uns, ihr Zimmer zu untersuchen. Dort fanden wir einige interessante Dinge.“
Sie nickte Sgillin zu, der nun einige gefaltete Zettel aus der Tasche zog und zu Ambar hinüberreichte.
„Jetzt wird es spannend.“ Interessiert nahm der Barde die Schriftstücke entgegen und las sie sich durch, zuerst den Brief und die kurze Notiz mit dem Zeichen in roter Tinte. „Marvent. Kann ich spontan nicht einordnen ...“ stellte er fest und las dann die Liste.
„Wir wussten mit der Liste nichts anzufangen“, bemerkte Lereia. „Zuerst dachten wir, es wären die Mordopfer. Aber aufgrund der wichtigen Personen, die darauf stehen, sind wir uns nun nicht mehr sicher, was sie bedeutet. Doch vielleicht sind diese Personen in Gefahr.“
Sgillin nahm sich den Schlauch der Wasserpfeife und zog daran, ein süßlich-herber Geruch verbreitete sich im Raum.
„Davon ist auszugehen“, stimmte Ambar zu. „Eine merkwürdige Zusammenstellung … In jedem Fall sollten wir den entsprechenden Bundmeistern eine Warnung zukommen lassen.“
Lereia nickte. „Das wäre gut. Wer weiß ob diese Personen Schutz brauchen.“ Dann deutete sie auf den kleinen Zettel. „Wisst Ihr, wer oder was ein Schattendieb ist?“
„Leider nein“, entgegnete er seufzend. „Ich könnte nicht einmal sagen, ob das ein Eigenname ist oder eine Bezeichnung.“ Er fasste das Zeichen unter der Notiz etwas genauer ins Auge. „Sieht aus wie eine rote Sonne ...“
„Das Zeichen scheint aber nichts mit den Auserwählten zu tun zu haben, denn keiner von uns hat es“, bemerkte Sgillin. „Vielleicht ist es ja das Mal, von dem in dem Brief die Rede ist.“
„Und wahrscheinlich sind die Personen mit dem Mal hinter dem Ohr die Mordopfer aus dem Stock“, führte Lereia den Gedanken weiter. „Wenn sie scheintot waren, deutet das auf Magie hin, die dieser dunkelhaarige Halbelf nutzte, um die Personen zu 'töten'.“
Ambar nickte. „Ja, das könnte sein. Ich lasse auf jeden Fall in der Halle der Informationen anfragen, ob jemand dieses Zeichen in Sigil als Siegel benutzt.“
Lereia seufzte ein wenig. „Nur erkenne ich momentan keine Zusammenhänge zwischen der Liste und den Mordopfern oder mit uns und der Prophezeiung. Aber vielleicht hat dies auch alles nichts mit der Prophezeiung zu tun. Wir sind ja nur auf Eliath gestoßen, weil er angeblich seltsame Träume hatte. Wir könnten somit auch nur durch Zufall auf eine finstere Machenschaft von Toranna, Marvent und diesem Magier gestoßen sein. Der einzige Hinweis, der wirklich für unsere Sache spricht, ist die Medusa. Alles andere hängt mit der Mordserie zusammen.“
„Ich denke auch, dass es vielleicht keinen Zusammenhang gibt“, stimmte Ambar zu. „Aber da die Pläne dieses Marvent so hochrangige Personen jedes einzelnen Bundes einbeziehen, ist es wichtig, der Sache dennoch auf den Grund zu gehen.“
Sgillin nickte. „Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es etwas mit uns zu tun hat. Denn dann wüssten Marvent und die anderen ja, was es mit der Deus Machina auf sich hat. Und das glaube ich nicht.“
„Nein, ich denke auch nicht“, gab Ambar ihm recht. „Ich hoffe es nicht. Denn wenn die falschen Personen von dieser Sache erfahren, wäre das auch für Euch eine Gefahr.“
Lereia rieb sich über die Schläfe. „Das ist alles so undurchsichtig.“
Ambar konnte ihr Unbehagen darüber nur allzu gut nachempfinden. Er selber hatte ebenso das Gefühl, in dieser Sache überwiegend im Dunkeln zu tappen, und es fühlte sich nicht angenehm an. Es war daher wohl am besten, sich erst einmal mit dem zu befassen, was direkt vor ihnen lag.
„Ich denke, Ihr solltet mit diesem Eliath reden“, meinte der Barde. „Und vielleicht auch mit der Medusa. Ich werde das, was Ihr erfahren habt, an meine Kollegen weitergeben.“
Lereia nickte. „Danke. Ich weiß nur nicht, wie wir geschickt an sie herantreten sollen. Was die Grundlage eines Gesprächs sein könnte.“
„Ich bin noch bundlos“, warf Sgillin ein. „Vielleicht möchte ich mich ja den Sinkern anschließen.“
Er zwinkerte bei diesen Worten, doch Naghûl wiegte skeptisch den Kopf.
„Gefährlich, Sgillin. Einige von ihnen fackeln nicht lange.“
Da musste Ambar dem Tiefling recht geben. Natürlich gab es eine tiefere Abneigung zwischen Sinkern und Sinnsaten, und auch sein eigener Bund stand der Schicksalsgarde nicht ausgesprochen herzlich gegenüber. Naghûl und er selbst mochten also nicht ganz unvoreingenommen sein. Doch Vorsicht konnte in diesem Fall gewiss nicht schaden. Er nickte daher zu den Worten des Tieflings.
„Passt bloß auf, die könnten das ernst nehmen.“
Sgillin zuckte mit den Schultern. „Das wäre zumindest eine Möglichkeit, um an Eliath und die Medusa heranzukommen.“
„Eliath scheint zumindest begehrt zu sein“, meinte Lereia seufzend. „Außerdem wollte uns Toranna glauben machen, dass er tot ist.“
„Versucht herauszufinden, ob er sich überhaupt an all das erinnern kann“, schlug Ambar vor. „Vielleicht könnt Ihr ihn auch irgendwie abpassen, um allein mit ihm zu sprechen. Oder mit der Medusa. Meine Güte, ich hoffe, wir müssen nicht mit Pentar zusammenarbeiten.“
„Man bewahre uns davor“, bemerkte Naghûl sofort.
„Also, ich will ja nicht unken ...“ Sgillin wiegte den Kopf. „Aber ich schätze, wir werden irgendwann mit allen Bünden zusammenarbeiten müssen.“
„Das würde nicht funktionieren, Sgillin“, wandte der Tiefling sofort ein.
Ambar musste zugeben, dass Sgillins Bemerkung einen Punkt getroffen hatte, der ihm auch bereits durch den Kopf gegangen war. Nicht, dass es ein besonders angenehmer Gedanke war. Doch einer, dem sie sich vielleicht würden stellen müssen. Dennoch interessierte ihn, was Sgillin auf diesen Schluss gebracht hatte. „Wie kommt Ihr darauf?“ fragte er deshalb nach.
„So wie es aussieht, sind die Auserwählten über die Bünde verteilt“, erklärte der Waldläufer. „Wir haben einen vom Harmonium, eine von Eurem Bund, Meister Ambar, einen Sinnsaten, eine Athar und wie es aussieht eine von der Schicksalsgarde.“
„Und zu wem gehörst du?“ wollte Naghûl wissen.
Sgillin hob die Schultern. „Das werde ich wohl noch herausfinden, so wie bei Lereia.“
Es war nicht, was er sagte, sondern viel mehr die Art, wie er es tat. Irgendetwas schien in dieser Bemerkung mitzuschwingen. Es war schwer fassbar, doch Ambar spürte, wie es seine Wachsamkeit weckte. Forschend sah er Sgillin an.
„Was meint Ihr damit? Ist jemand auf Euch zugekommen?“
„Lereia gehörte, als sie ihre Fähigkeit entdeckte, auch noch zu keinem Bund“, erwiderte Sgillin. „Bis sie Euch traf, Bundmeister.“
„Das beantwortet meine Frage nicht wirklich“, erwiderte der Barde.
Sgillin schüttelte den Kopf. „Nein, bis jetzt noch nicht. Aber vielleicht passiert das noch.“
Irgendetwas war seltsam. Ambar spielte das Spiel des Kriegstanzes lang genug, um instinktiv zu spüren, dass gerade mehr im Spiel war als Sgillin offen zugab.
„Ich habe den Eindruck, dass Ihr uns etwas verschweigt“, bemerkte er daher direkt und ernster als es für ihn üblich war.
„Ich wüsste nicht, was“, erklärte Sgillin. „Mich hat bis jetzt noch kein anderer Bund angesprochen. Also, wie gesagt, das ist lediglich eine Vermutung.“
Ambar ließ seine grünen Augen nachdenklich auf Sgillin ruhen. Es machte nicht den Eindruck auf ihn, dass wirkliche Hintertriebenheit oder gar Falschheit im Spiel waren. Er hielt den Waldläufer nicht für gefährlich oder übelmeinend. Doch das Gefühl, dass er irgendetwas verschwieg, verfestigte sich. Naghûl hingegen klopfte seinem Freund auf die Schulter.
„Tritt den Sinnsaten bei“, meinte er leichthin. „Dann hat sich das Thema erledigt. Außerdem wäre es gar nicht schlecht, einen Bund im Rücken zu haben.“
„Also, wenn ich an Lereias Weg zu den Göttermenschen denke …“ Sgillin wiegte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass ich diese Entscheidung in der Hand habe.“
Ambar beschloss, es fürs erste dabei zu belassen. „Gut, wie Ihr meint“, sagte er ruhig. „Ich bitte Euch aber, niemals zu vergessen, dass Eure Sicherheit davon abhängt, wer von dieser Sache weiß – oder nicht weiß. Ebenso die Sicherheit Eurer Freunde und Eurer Gefährtin. Lasst Ihr Euch mit den falschen Personen ein, seid Ihr in Gefahr.“
Sgillin nickte ernst. „Das ist mir bewusst.“
Der Barde hoffte, dass es das wirklich war. Gewiss war Sgillin nicht erst vorgestern aus einem Portal gestolpert. Aber er war auf der anderen Seite auch noch nicht lange genug in Sigil, um sich aller Fallstricke und Konsequenzen dieser Stadt vollkommen bewusst zu sein, dessen war Ambar sicher. Doch für den Moment konnte er nur hoffen, dass Sgillin wusste, was er tat. Er erhob sich.
„Gut. Dann werde ich jetzt diese Dokumente kopieren. Lereia, Ihr könnt morgen eine Abschrift davon für Eure Ermittlungen in der Gießerei abholen.“
Lereia erhob sich schnell, als er aufstand. „Das werde ich“, versicherte sie. „Wenn wir etwas Brisantes erfahren, werden wir uns an einen der Bundmeister wenden. Ich hoffe, dass bald Licht in wenigstens eine der Angelegenheiten kommt.“
Ambar nickte. „Tut das. Und achtet auf Euch, Ihr bewegt Euch offenbar auf gefährlichem Grund. Ich wünsche viel Erfolg bei Euren weiteren Untersuchungen.“
„Ich hoffe, wir müssen das nicht herausfinden“, bemerkte Naghûl ernst. „Vielen Dank und möge Ihr Schatten Euch nie schneiden, Bundmeister.“
Lereia nickte zu diesen Worten und lächelte ihm zu, mit jener Mischung aus Zurückhaltung und Herzlichkeit, die er inzwischen von ihr kannte. „Danke, Bundmeister. Für alles.“
Er erwiderte das Lächeln freundlich, nickte zum Abschied in die Runde und verließ dann das Haus, um sich zurück in die Gießerei zu begeben.
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gespielt am 4. April 2012
Kiyoshi war bei dem Gespräch in Lereias Haus so still, weil sein Spieler an diesem Abend früher gehen musste.




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