„Sterben und sterben lassen.“
Bund-Philosophie der Staubmenschen
Erster Gildentag von Retributus, 126 HR
Sie hatten noch eine Weile in den Schwarzen Segeln gesessen, Karten gespielt und dabei Eliath im Auge behalten. Dann war Kiyoshi aus der Kaserne zurückgekehrt. Er hatte Anweisung, die Sache mit Toranna weiter zu verfolgen und erklärte, dass eine Nachricht mit der Bitte um Zusammenarbeit auf schnellstem Weg in die Leichenhalle geschickt worden war. Obgleich inzwischen der Abend anbrach, beschlossen sie ob der Dringlichkeit der Angelegenheit ihr Glück noch einmal bei den Staubmenschen zu versuchen. Da sie aber auch Eliath nicht aus den Augen lassen wollten, teilten sie sich auf: Naghûl und Jana blieben in den Schwarzen Segeln, während Kiyoshi, Lereia und Sgillin sich wieder auf den Weg in den Stock machten. Als sie die Taverne verließen, war das Letzte Licht bereits einer sich rasch vertiefenden Dämmerung gewichen. Der nahe Gießerei-Distrikt war auch zu dieser späteren Stunde noch immer belebt. Nach wie vor rauchten viele der Schornsteine und in der Dunkelheit wirkten die glühenden Aschenfunken, die den Schmieden entwichen, wie unzählige Glühwürmchen. Auf dem Neuen Markt, den sie danach passierten, hatten die meisten Stände nun geschlossen. Im Gegensatz zum Nachtmarkt wurden hier bei Dunkelheit keine Geschäfte mehr getätigt. Danach mussten sie durch den Zentralen Distrikt, der deutlich ruhiger wirkte als das Gebiet um die Gießerei herum. Und danach betraten sie wieder den Stock. Lereia seufzte innerlich. Sie hatte natürlich gewusst, dass sie hierher zurückkehren würden müssen, doch hatte sie gehofft, es würde erst am nächsten Morgen und bei Tageslicht geschehen. Sie blieben dicht zusammen, Kiyoshi und auch sie selber nach wie vor gekleidet in die dunklen, rauen Kutten, die sie von Jana und später Toozer bekommen hatten. Der Graue Distrikt, der die Leichenhalle umgab, war ruhiger als andere Ecken des Stocks, als würde das Hauptquartier der Staubmenschen seine merkwürdige Aura von Schwermut und Melancholie über die ganze Umgebung ergießen. Am Tor der Leichenhalle standen auch jetzt die Knochengolems, die Lereia einmal mehr ein leichtes Schaudern verursachten. Und als sie eintraten wieder dieser Geruch: der Weihrauch, die welken Blumen, die stark antiseptischen Balsamierungsmittel der Staubmenschen und darunter doch allgegenwärtig stets der Geruch der Untoten. Ihr Geruchssinn, auch in dieser Gestalt deutlich ausgeprägter als bei gewöhnlichen Menschen, konnte einfach nicht ignorieren, wie viele Skelette und Zombies hier unterwegs waren. Kiyoshi steuerte auf einen der Staubmenschen in der Eingangshalle zu und brachte sein Anliegen vor. Der Mann erklärte, hierfür keine Befugnisse zu haben, wollte aber jemanden holen, der sie besaß – eine gewisse Adlatin Zamakis. So standen sie bereits zum zweiten Mal an diesem Tag in der Leichenhalle und warteten. Dann näherte sich ihnen mit gemessenen Bewegungen eine Frau mit hochgestecktem schwarzem Haar, offenbar eine Elfe: spitzohrig, blass, sehr schön und eher zierlich gebaut. Sie war edel gekleidet, in einen Gehrock aus dunkelblauem Brokat.
Kiyoshi verneigte sich zur Begrüßung. „Die Kami zum Gruße. Ihr seid die ehrenwerte Adlatin Zamakis-bucho?“
Sie nickte, während sie die Gruppe ruhig, aber prüfend musterte. Ihre Augen hatten einen rötlichen Schimmer. „Asche zu Asche. Ja, die bin ich.“
Der Harmoniumsoldat kam direkt und ohne Umschweife zum Punkt. „Da Ihr sicherlich wisst, weshalb wir hier sind, ehrenwerte Adlatin Zamakis-bucho, würdet Ihr uns freundlicherweise zeigen, wo Toranna gearbeitet hat?“
Der Blick der Elfe wanderte noch kurz über Sgillin und Lereia, ehe er sich auf Kiyoshi fokussierte. „Ich gehe Recht in der Annahme, dass Ihr offiziell hergeschickt wurdet?“
Kiyoshi nickte. „Das entspricht der Wahrheit, ehrenwerte Adlatin Zamakis-bucho.“
Der winzigste Anflug eines Lächelns umspielte ihre Lippen, aber es erreichte ihre Augen nicht. „Ohne unhöflich sein zu wollen: Wäre es vermessen, nach Eurer Dienstmarke zu fragen?“
„Verzeiht meine Unwissenheit“, erwiderte Kiyoshi in seiner unvergleichlichen Art. „Aber mir ist nicht bekannt, ob es sich dabei um eine Vermessenheit handelt, ehrenwerte Adlatin Zamakis-bucho. Wollt Ihr sie denn sehen?“
Lereia konnte erkennen, wie Sgillin sich neben ihr die Schläfen rieb. Zamakis hob fast unmerklich eine ihrer perfekt geformten Brauen.
„Ja, ich bitte darum, werter Herr.“
Kiyoshi nickte, zog seine Dienstmarke hervor und zeigte sie der Adlatin. Sie warf einen Blick darauf, mehr als flüchtig, aber nicht lange genug, um offensichtliches Misstrauen zu zeigen.
„Danke sehr“, erwiderte sie dann. „Verzeiht bitte, es war nicht als Affront gemeint. Nur haben hier in letzter Zeit offenbar Personen Zugang gefunden, denen dies besser nicht gelungen wäre.“
Sgillin hob die Brauen. „Ach, tatsächlich?“
Die Elfe wandte ihm für eine Sekunde den Blick zu. „Tatsächlich.“
Ihr Verhalten wirkte insgesamt zu kühl, um freundlich zu erscheinen, aber dennoch zu höflich, um abweisend zu sein. Und jetzt, wo sie länger in ihrer Nähe stand, wurde Lereia auch klar, dass der Geruch nach Untod, den sie unter all dem Weihrauch und den antiseptischen Mitteln wahrnahm, nicht nur von den nahen Skeletten ausging, nein … auch von ihr. Nachdem sie Sgillin für einen Lidschlag ihre Aufmerksamkeit geschenkt hatte, wandte die Adlatin sich wieder Kiyoshi zu.
„Es hängt mit Eurem Fall zusammen. Aber bitte kommt, nicht hier.“
Sie wandte sich ab und führte die Gruppe zielstrebig tiefer in die Leichenhalle hinein ohne sich noch einmal umzusehen, wohl in der Annahme, dass sie ihr auf jeden Fall folgen würden. Sie kamen in den zentralen Saal, größer noch als der Eingangsbereich, erleuchtet von vier riesigen Feuerschalen. Auf dem Boden befand sich ein großes Mosaik, welches das Bundsymbol der Staubmenschen zeigte. Dann bog die Adlatin rechts ab, in einen weiteren großen Raum, in dem mehrere Steintische zum Aufbahren von Verstorbenen standen. Auf zweien davon lagen mit weißen Tüchern bedeckte Leichname, wie Lereia mit einem leichten Gefühl der Betroffenheit feststellte. Auch wenn der Tod nun einmal Teil des Lebens war, ihn so deutlich vor Augen zu haben, war kein sehr erhebendes Gefühl. Insofern wusste sie durchaus zu schätzen, dass es diesen Bund und somit Leute gab, die die zwar traurige, aber zweifelsfrei notwendige Aufgabe übernahmen, sich um die Verstorbenen zu kümmern. Sie hätte es allerdings noch wesentlich mehr geschätzt, würden sie nicht gekaufte Leichname in untote Arbeiter umwandeln. Sie beeilte sich, Zamakis zu folgen, die sie nun in ein Nebengebäude führte und dort einen langen Gang hinunter, von dem mehrere Türen abgingen. Vor einer davon blieb sie stehen.
„Dies ist Torannas Büro - gewesen, sollte ich anfügen. Ich habe die Anweisung, Euch Zutritt zu gewähren. Faktor Trevant und Legat Shar selbst haben sich dahingehend verständigt.“
Legat Shar war ein hochrangiges Mitglied des Harmoniums, erinnerte Lereia sich an das Gespräch im Schlummernden Lamm. Und Faktor Trevant war dann wohl einer der Obersten der Staubmenschen.
Sgillin blickte forschend zur Tür. „War vor uns schon jemand anderes da drin?“
„Ja, ich“, erwiderte die Adlatin sachlich. „Ich habe jedoch alles so belassen, wie es war und auch nichts entfernt.“
„Ist Euch etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“, erkundigte Kiyoshi sich.
„Etwas Ungewöhnliches? Durchaus. Ehe Ihr hineingeht, möchte ich Euch dazu etwas sagen.“
„Wir sind ganz Ohr“, stellte Sgillin fest.
„Toranna gehörte zu unserem Bund“, erklärte Zamakis. „Das stimmt. Was wir aber nicht wussten ist, dass sie verdeckt für jemand anderen arbeitete. Der Versuch, einen Faktotum in dessen eigenem Hauptquartier zu verhaften, war zwar nicht gerade statthaft.“ Sie blickte kurz zu Kiyoshi, zeigte aber keine Gefühlsregung. „Doch ist es in diesem Fall von Vorteil gewesen. Denn ansonsten hätten wir ihre Machenschaften vielleicht erst später bemerkt.“
Kiyoshi neigte leicht den Kopf. „Ich muss mich vielmals entschuldigen. Dies war mir unbekannt. Es wird sicher nicht wieder vorkommen.“
Zamakis nickte knapp. „Ich nehme Eure Entschuldigung an. Ich sehe auch, dass Ihr nur Eure Pflicht getan habt oder zu tun gewillt wart.“
„Für wen hat sie denn gearbeitet?“ schaltete Sgillin sich nun wieder ein.
„Da bin ich nicht sicher. Vielleicht könnt Ihr Euch einen Reim darauf machen. Wartet, ich lasse Euch hinein.“ Sie zog einen Schlüsselbund aus der Rocktasche und suchte den passenden Schlüssel. Dann öffnete sie die Tür, trat selber aber nicht ein, sondern deutete lediglich in den Raum. „Bitte sehr. Wenn Ihr nach der Untersuchung noch Fragen habt, ich warte im Refektorium.“
„Wo bitte?“ fragte Sgillin stirnrunzelnd.
Lereia schmunzelte. Aus ihrer Vergangenheit wusste sie, dass das Refektorium der Speisesaal eines Klosters war. Offenbar handelte es sich hier also um einen größeren Raum, in dem die Bundmitglieder sich zum Essen versammeln konnten. Wenngleich sie sehr hoffte, dass Zamakis dort nur warten, nicht etwas essen würde … Diese deutete auf Sgillins Frage hin nur den Gang vor sich hinunter und dann nach links.
„Danke sehr. Bis später“, verabschiedete Lereia sich von Zamakis und betrat dann hinter Kiyoshi und vor Sgillin Torannas Büro.
Es handelte sich um einen kleinen, schlicht, ja karg eingerichteten Raum: an der hinteren Wand ein hohes Regal mit vielen Büchern, neben der Tür eine Truhe mit einer Kerze darauf und in der Mitte des Zimmers ein einfacher Holztisch mit Stuhl. Auf dem Tisch lagen einige Bücher und Pergamente, daneben stand ein Tintenfass mit einer schwarzen Feder, vielleicht die eines Raben. Sgillin sah Zamakis noch kurz hinterher, ehe er die Tür schloss. „Bei allen Göttern … So ein unterkühlter Eiszapfen.“
Er schüttelte den Kopf, doch Lereia ging nicht näher auf seine Bemerkung ein. Es gab gerade Wichtigeres, daher winkte sie die beiden Männer rasch näher.
„Ich konnte an ihr keine seelische Signatur wahrnehmen“, erklärte sie mit gedämpfter Stimme. „So wie bei euch vieren. Und wie bei der Medusa, die bei Eliath war. Ihr Geruch war dafür jedoch umso eindeutiger ... Sie riecht nach Untod.“
Sgillin verzog das Gesicht. „Das heißt, sie könnte eine von den Auserwählten sein. Na toll … Eine, die uns alle in Stein verwandeln kann und jetzt noch ein Vampir.“
Kiyoshi dagegen zuckte mit den Schultern und besah sich die auf dem Tisch ausgebreiteten Gegenstände. Seine gleichmütige Reaktion verwirrte Lereia.
„Wie kann Euch das egal sein, Kiyoshi? Sie ist vielleicht eine von uns.“
„Verzeiht, ehrenwerte Lereia-san“, erwiderte der junge Mann. „Doch ich verstehe nichts von derlei übernatürlichen Dingen. Andererseits ... hat diese Fähigkeit schon einmal bei einem anderen Untoten funktioniert?“
Er hatte recht. Dafür, dass er angab, nichts davon zu verstehen, hatte er einen interessanten Punkt aufgedeckt. „Ein guter Einwand“, meinte Lereia. „Das werde ich später testen. Gut, dann sehen wir uns mal um, oder?“
Kiyoshi nickte und holte aus einem Fach unter dem Schreibtisch zwei Bücher hervor – dicke Wälzer über Begräbnisrituale, wie Lereia an den Titeln erkennen konnte. Sie selber trat an das Regal heran und besah es sich genau, ob irgendwelche Bücher hervorstanden oder weniger verstaubt sein mochten als der Rest. Es waren viele Werke über Einbalsamierung, Totengötter und Totenkulte, nichts wirkte jedoch besonders auffallend. Sgillin ging zu der Truhe neben der Tür, öffnete sie und wühlte ein wenig darin herum.
„Aha!“ rief er nach kurzer Zeit aus.
Kiyoshi sah auf. „Was habt Ihr gefunden, ehrenwerter Sgillin-san?“
„Einen Brief, eine Liste und einen Zettel.“ Sgillin nahm einige Papiere aus der Truhe und hielt sie hoch. „Was wollt ihr zuerst hören?“
Lereia drehte sich zu ihm um und hob die Schultern, um zu zeigen, dass es ihr egal war.
„In dieser Reihenfolge, ehrenwerter Sgillin-san“, schlug Kiyoshi vor.
„Gut.“ Sgillin setzte sich auf den Stuhl und öffnete den Brief, während Lereia ihr kleines Notizbuch hervorholte, um wichtige Informationen gleich aufzuschreiben.
Sie hatte sich dies zur Gewohnheit gemacht, seit all diese mysteriösen Ereignisse ins Rollen gekommen waren, und hatte es bisher nicht bereut. Sgillin entfaltete das Papier und las vor:
„Werte Toranna, ich gratuliere Euch zu Eurem gelungenen Beitritt zum Bund der Staubmenschen und Eurem zeitnahen Aufstieg zum Faktotum. Ihr habt sehr gute Fortschritte gemacht. Wie wir bereits besprochen haben, ist der Plan 'Ewige Grenze' nun im Gange. Sucht bei unbekannten und nicht identifizierten Leichnamen nach einer Markierung hinter dem rechten Ohr. Stellt sicher, dass sie zur Verbrennung auf die Feuerebene geschickt werden, und zwar durch das entsprechende Portal. Tragt Sorge, dass alles schnell geschieht, da die ausgewählten Personen nach etwa zehn Stunden wieder ...“ Sgillin stockte kurz. „ ... erwachen. Dies wäre ungünstig. Mit den besten Wünschen. Marvent“
Lereia spürte, wie ihr vor Schreck das Herz sank. Sie konnte kaum glauben, was sie soeben gehört hatte. Auch Sgillin war sein Entsetzen deutlich anzumerken, als er von dem Brief zu ihnen aufblickte.
„Diese Wahnsinnige hat Leute lebendig verbrannt!“
Lereia schüttelte leicht den Kopf, versuchte, die darin herum sausenden Gedanken zu beruhigen. Irgendetwas stimmte da nicht ...
„Aber wieso werden sie dann nicht gleich getötet?“ fragte sie. „Wozu jemanden scheintot machen, der ohnehin verbrannt wird?“
Sgillin nickte zustimmend. „Das hört sich nach irgendwelchem Magier- oder Beschwörungskram an. Da hängt garantiert unser schwarzhaariger Halbelf mit drin.“ Er nahm den nächsten Zettel und rief triumphierend: „Ha, tatsächlich! Hier steht's! Treffen mit dem Schattendieb in der Blutgrube. Vier Stunden vor Gegenzenit.“
„Ob mit Schattendieb der Halbelf gemeint ist?“ überlegte Lereia. „Wäre zumindest naheliegend. Was steht auf der Liste?“
Sgillin rollte das dritte Papier aus. „Namen … viele Namen. Unter anderem auch Eliaths Name.“ Er reichte Lereia die Liste hinüber. „Ich vermute, das ist die Aufzählung der Opfer.“
Sie nahm das Papier, hielt es so, dass auch Kiyoshi mit hineinsehen konnte, und studierte die darauf niedergeschriebenen Namen.
„Hm, Verden steht nicht darauf“, bemerkte sie. „Das war der Name des anderen Toten, den die Sammler gefunden hatten. Aber …“ Sie schluckte. „Von den Göttermenschen ist auch jemand dabei. Hier ... Zena. Wir haben sie getroffen, als wir dem Zebra folgten.“
Sgillin nickte. „Genau, die Waldläuferin.“ Er stand auf und sah nun auch noch einmal genauer auf die Namen. „Oh … Rianna. So heißt meine Informantin bezüglich der Morde. Ich hoffe nicht, dass sie es ist …“
Lereia nickte besorgt und deutete auf einen weiteren Namen, den sie kannte. „Da'nanin. Das ist doch Erins Gefährte, oder?“
Kiyoshi hingegen deutete auf einen anderen Namen. „Wip Wildfang. Ein Dekurio, dessen Namen ich in der Kaserne vernommen habe. Aber das sind alles Personen, die noch leben. Ich dachte, auf der Liste stehen Personen, die eingeäschert werden sollen.“
Ein weiterer Name sprang Lereia ins Auge. „Quake! Das ist doch die Frau von den Xaositekten. Naghûl meinte, ein hohes Tier bei ihnen. Ihre Signatur war frischer Flieder, ich erinnere mich.“
Sgillin nickte. „Ja, stimmt, genau ... die die Kaserne anmalen wollte. Hatte die nicht irgendeine Spelunke im Stock?“
Kiyoshi nickte bestätigend und Lereia ließ nun das Papier sinken.
„Diese Liste klingt nicht nach Verrückten ohne Namen. Für mich klingt das eher nach einflussreicheren Personen, zumindest zum Teil. Keine Bundmeister, aber in Beziehung zu diesen oder zu anderen wichtigen Leuten.“
„Wir müssen unbedingt Toranna finden“, meinte Sgillin und nahm die Liste, die sie ihm zurückgab, um sie gemeinsam mit den anderen beiden Zetteln in seiner Tasche zu verstauen.
Lereia nickte zustimmend. „Ja. Und diese Liste betreffend: Wir sollten es den Bundmeistern sagen, ehe wir auf eigene Faust die Leute aufsuchen. Wir wissen ja gar nicht, was wir ihnen sagen sollten oder dürften. Sie können entscheiden, ob sie die Leute warnen möchten. Und sie kennen sicher auch mehr von den aufgezählten Namen.“
„Die ehrwürdigen Bundmeister zu warnen, scheint ein weiser Entschluss, ehrenwerte Lereia-san“, pflichtete Kiyoshi ihr bei.
Sie warfen noch einen Blick auf Regal und Schreibtisch, aber außer vielen Büchern, einem Plan der Leichenhalle und Schreibutensilien war nichts Auffälliges zu entdecken.
„Gehen wir noch einmal zu unserer unterkühlten, eventuell auserwählten Untoten“, schlug Sgillin vor.
„Gut“, meinte Lereia. „Und auf dem Weg dorthin werde ich die Fähigkeit an anderen Untoten testen, falls uns welche begegnen. Vielleicht hat Kiyoshi recht und das Fehlen der Signatur hängt mit ihrem Zustand zusammen.“
Sie hatten Glück, denn auf dem Weg zum Refektorium passierten sie ein Skelett, das gerade eine versilberte Urne trug. Alle Knochen waren sehr sauber und blank poliert, auf dem Schädel war mit schwarzer Farbe die Nummer 23 aufgemalt. Lereia konnte nicht verhindern, dass sich ihr einmal mehr die Nackenhaare aufstellten. Inzwischen verstand sie Naghûls Abneigung gegen diesen Ort nur allzu gut. Sie hatte angenommen, bei der Leichenhalle würde es sich einfach um ein Gebäude handeln, in dem man Verstorbene aufbahrte, um sie dann zu bestatten. Traurig, gewiss, aber doch normaler Bestandteil des Lebens. Hier auf Skelette und Zombies, Knochengolems und Vampire zu treffen, hatte sie jedoch nicht erwartet. Und auch, wenn sie inzwischen wohl begriffen hatte, dass die Staubmenschen nicht an sich böse waren, weil in Sigil vieles ganz anders war als in ihrer Heimatwelt, so verursachten der Bund und dessen makaberes Hauptquartier ihr doch ein Schaudern. Sie würde gewiss eine ganze Weile in Sigil leben müssen, ehe sie sich an Derartiges gewöhnen konnte. Wenn überhaupt je … Doch sie nahm sich zusammen und konzentrierte sich im Vorbeigehen auf die Signatur des Skelett-Arbeiters. Nichts … Einige Schritte weiter blieb sie stehen.
„Bei dem Skelett konnte ich tatsächlich nichts wahrnehmen“, erklärte sie. „Der lebendige Staubmensch unten dagegen hatte eine Frucht als Signatur, die mir allerdings unbekannt ist.“
Sgillin nickte. „Dann ist Zamakis höchstwahrscheinlich keine Auserwählte, sondern einfach nur tot.“
Lereia verspürte eine gewisse Erleichterung. Auch wenn Zamakis sehr korrekt und höflich gewesen war, die Vorstellung, mit einem Vampir zusammen arbeiten zu müssen, hätte ihr ganz und gar nicht behagt. Sie setzten sich wieder in Bewegung, folgten der Richtung, die die Adlatin ihnen zuvor gewiesen hatte. Tatsächlich gelangten sie in einen Raum mit mehreren langen Tischen und vielen Stühlen, wahrscheinlich ein Speisesaal und somit das von Zamakis erwähnte Refektorium. Tatsächlich saß sie dort an einem der Tische und las in einem Buch. Als sie sich ihr näherten, klappte sie es zu und erhob sich.
„Ihr habt Eure Untersuchungen abgeschlossen?“
Kiyoshi nickte. „So ist es, ehrenwerte Adlatin Zamakis-bucho. Wir hätten aber noch ein paar Fragen an Euch, wenn Ihr so gut wäret und die Zeit finden würdet, diese zu beantworten. Vorausgesetzt, es bereitet Euch keine Umstände.“
„Fragt nur“, erwiderte sie. „Ich bin angewiesen, Eure Nachforschungen zu unterstützen.“
Ihre Art zu sprechen, ihr ganzes Verhalten war eine merkwürdige Mischung aus kühler Distanziertheit und edler Eleganz, verbunden mit jener merkwürdigen Anziehungs-kraft, die allen Vampiren eigen war.
„Wir sind Euch dafür überaus dankbar, ehrenwerte Adlatin Zamakis-bucho“, erklärte Kiyoshi, „Als erstes: Ihr erwähntet etwas von unbefugten Eindringlingen. Könntet Ihr das näher erläutern?“
Sie wölbte eine ihrer dunklen Brauen. „Nun, ich meinte damit zum einen, dass sich eine Frau Zutritt zu unserem Bund verschafft hat, die offenbar Verrat übte und für eine andere Organisation arbeitet. Zum anderen kann man nicht ausschließen, dass sie vielleicht den einen oder anderen Helfer unbemerkt eingeschleust hat.“
„Ich verstehe.“ Kiyoshi nickte. „Habt Ihr denn einen Verdacht?“
„Leider keinen konkreten. Vielleicht eine Wache oder ein Sammler. Aber wir werden Nachforschungen dahingehend anstellen, wie Faktor Trevant mir versicherte.“
„Gibt es jemanden, zu dem sie besonders Kontakt pflegte?“ erkundigte Lereia sich. „Auch außerhalb des Bundes?“
„Nein“, erwiderte die Adlatin. „Sie war eher zurückgezogen - selbst für eine der unseren.“
Die nächste Frage kam Sgillin in den Sinn. „Sagt Euch der Name Marvent etwas?“
„Ah, der Unterzeichner des Briefes. Nein, ich bedaure. Weder hier in Sigil noch auf den Ebenen, wo wir Einfluss haben, ist mir eine bekannte Person dieses Namens untergekommen.“
Sgillin runzelte nachdenklich die Stirn. „Und der Plan 'Ewige Grenze' sagt Euch wahrscheinlich auch nichts?“
„Nein. Wobei mit der Ewigen Grenze wahrscheinlich nicht der Wahre Tod gemeint ist.“
Bei dieser Bemerkung meinte Lereia eine Spur von Missbilligung in ihrer Stimme zu hören. Dieser Wahre Tod schien etwas zu sein, auf das sie Wert legte. Vielleicht ein Teil der Bundphilosophie. Sie war froh, dass Kiyoshis nächste Frage wieder von diesem Thema wegführte.
„Verzeiht, aber wie viele Portale zur Feuerebene habt Ihr?“, wollte der junge Soldat wissen.
„Mir ist nur eines bekannt“, erwiderte die Vampirin und deutete nach oben.
„Dann wird wohl dieses gemeint sein“, überlegte Lereia laut. „Sie hat ja auch hier gearbeitet und hatte Zugang dazu.“
Zamakis nickte. „Ja, den hatte sie.“
„Darf ich fragen“, knüpfte Kiyoshi an seine vorherige Frage an, „wer in der Feuerebene die zur Verbrennung bestimmten Körper entgegen nimmt?“
„Das Feuer?“ mutmaßte Lereia, und Sgillin neben ihr musste lachen.
Auf Zamakis Lippen erschien ein kurzes Lächeln, ein Schmunzeln fast. „Gut gesagt.“
Lereia entspannte sich tatsächlich ein wenig durch diesen winzigen Funken von Heiterkeit inmitten eines Meeres aus Schwermut, das diesen Ort überflutete. Sie hatte noch eine letzte Frage.
„Meint Ihr, die Personen waren wirklich tot oder sozusagen nur scheintot?“
Unschlüssig hob die Adlatin die Schultern. „Der Brief deutet an, dass sie in der Tat nicht wirklich tot waren. Ich frage mich aber, warum man diesen Aufwand betreiben sollte, um sie dann zu verbrennen. Was sollte dann dieser ominöse Plan? Nein, das muss mehr dahinter stecken.“
„Ja, das sagte ich auch“, stimmte Lereia zu. „Dann hätte man sie auch gleich wirklich töten können.“
„Untersuchen Eure Bundgenossen die Toten mittlerweile auf dieses Mal hin?“ erkundigte Sgillin sich.
„Inzwischen ja“, bestätigte Zamakis. „Aber seit Toranna entlarvt wurde, kamen keine Leichen mit diesem Zeichen bei uns an.“
Der Halbelf seufzte. „Wie dem auch sei, Toranna ist die Einzige, die uns diese Fragen beantworten kann. Wir müssen sie finden ... alles andere ist reine Spekulation.“
„Das würde auch meinem Bund entgegen kommen“, erklärte die Adlatin.
„Natürlich.“ Lereia nickte. „Vielen Dank für Eure Hilfe.“
„Nichts zu danken“, erwiderte Zamakis. „Es ist auch in unserem Interesse, dass diese Geschichte aufgeklärt wird und endet.“
„Wenn sich etwas Neues ergibt, hören wir vielleicht voneinander“, meinte Lereia freundlich.
Die Adlatin nickte. „Ich werde das Harmonium in Kenntnis setzen, wenn wir etwas erfahren.“
Somit verabschiedeten sie sich von Zamakis und schickten sich an, in die Schwarzen Segel zurückzukehren.
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gespielt am 29. März 2012
Dass gerade die drei Planlosen durch den Stock zurück in die
Leichenhalle gingen, während die zwei, die schon etwas länger bis sehr
lang in Sigil wohnten, in der Taverne blieben, war natürlich der
Tatsache geschuldet, dass die Spieler von Jana und Naghûl an diesem
Abend nicht dabei waren. Ingame gibt es dafür keine wirklich sinnvolle
Erklärung, weshalb das auch gar nicht versucht wurde.




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