Sigil trägt viele Namen: die Stadt der Türen, die Große Stadt, der Ring, das Zentrum des Multiversums, die Ewige Stadt ... Doch abseits all dieser eher poetischen Begriffe nennen die Bewohner selbst ihre Stadt meist einfach „den Käfig“. 

 


 

Vierter Dametag von Kapriziosus, 125 HR

Naghûl war doch ein wenig nervös, als er mit Sgillin zusammen die Stufen zum Privaten Sinnsorium hinaufstieg. Es war nicht das erste Gespräch mit seiner Bundmeisterin, das nicht. In der Festhalle, bei der einen oder anderen Ausstellung oder Theatervorführung hatten sie schon öfter ein paar Worte gewechselt. Dabei hatte er auch einmal einen kleineren Auftrag von Lady Erin bekommen. Er hatte ihn wohl zu ihrer Zufriedenheit erledigt, da einige Monate später ein weiterer gefolgt war, und dann noch einer. Doch eine persönliche Einladung in das Private Sinnsorium? Verbunden mit der Aufforderung, „nicht zu zögern, sich vertrauenswürdige Unterstützung mitzubringen“? Das war doch etwas anderes. Etwas, das geeignet war, selbst Naghûl in eine gewisse Aufregung zu versetzen. Was die vertrauenswürdige Unterstützung anging, so hatte er sich für Sgillin entschieden. Er hätte gewiss seine Frau Morânia bitten können, doch sie hatten sich darauf geeinigt, bundbezogene Aufträge von ihrer Ehe getrennt zu halten. Zwei Faktoti aus unterschiedlichen Bünden konnten sich sonst schnell verrennen. Der Halbelf war seiner Anfrage nachgekommen, unbekümmert wie zumeist. Naghûl hätte ihn darauf vorbereiten können, was ihn bei einem Treffen mit der Bundmeisterin der Sinnsaten erwartete. Doch er hatte entschieden, Sgillin diese Erfahrung zu gönnen ohne ihn im Vorfeld in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Vor der Tür zum Privaten Sinnsorium stand ein junger Aasimar Wache, doch als Naghûl seinen Namen nannte, wurden er und Sgillin sogleich eingelassen. In der geräumigen Vorhalle zu den privaten Sinnsteinen plätscherte ein Brunnen aus Corillianischem Marmor, umgeben von blühenden Honigpalmen. Auf einem der mit Seide gepolsterten Holzstühle saß die Bundmeisterin, und Naghûl konnte Sgillins Atem kurz stocken fühlen. Ja, Lady Erin schön zu nennen wäre einer schamlosen Untertreibung gleichgekommen. Das dichte, rotbraune Haar, dessen Kontrast zu ihrem hellen, perfekten Teint, die hohen, aber feinen Wangenknochen, die perfekt gewölbten Brauen waren bereits von vielen Poeten besungen worden. Dennoch waren es ihre grünen Augen, hell funkelnd und aufmerksam, die sie am faszinierendsten machten. Nichts schien ihnen zu entgehen. Die Bundmeisterin der Sinnsaten konnte nicht anders als hinreißend genannt werden, und obgleich Naghûl sie kannte, war er immer wieder bezaubert. Sgillin hingegen war auf den Anblick nicht vorbereitet gewesen ... Erin trug ein Kleid aus dunkelblauer Seide, das nur die linke Schulter bedeckte. An den kurzen Ärmel waren Dutzende von dünnen Nachtdrossel-Federn genäht, die lang und silbrig glänzend über ihren linken Oberarm fielen. Der dunkelblaue Stoff war so fein mit silbernen Fäden bestickt, dass er wie der Nachthimmel selbst wirkte. Nur ein Teil ihres rotbraunen Haares war hochgesteckt, der Rest wogte lang und wellig über ihren Rücken. Ein silbernes Diadem mit drei Sternen war für Sinnsaten-Verhältnisse fast schlicht, setzte aber einen genau passenden, einfachen, doch eleganten Akzent. Auf Erins Schoß saß Aurita, ihre geflügelte, weiße Katze, und schmiegte sich schnurrend an sie.

„Naghûl Ka'Tesh. Ich grüße Euch.“ Erins Lächeln ließ sogar in Sigil die Sonne aufgehen. „Schön, dass Ihr so schnell kommen konntet.“

Ihre Stimme war warm und hatte einen samtenen Beiklang, doch lag eine nicht zu überhörende Stärke darin. Dann fiel ihr Blick auf Sgillin und sie musterte ihn eine Weile. Sgillin war sprachlos gewesen, sobald er Erin erblickt hatte, das war Naghûl nicht entgangen. Konnte man es ihm verdenken?

„Ein Freund von Euch, Naghûl?“

Sgillin verbeugte sich stumm und Naghûl nickte. „In der Tat, das ist Sgillin. Ein Materier, aber er genießt mein vollstes Vertrauen.“

„Ich, äh ... grüße Euch, werte Bundmeisterin“, brachte der Halbelf stotternd heraus.

„Nun, wir wollen keine Vorurteile gegen Materier pflegen.“ Erin lächelte, doch ihre Stimme wurde dabei etwas lauter, was nicht ganz ins Gespräch zu passen schien - fast als habe dies jemand anderem gegolten. Dann sprach sie wieder leiser. „Setzt Euch doch.“

Naghûl bedeutete Sgillin, sich auf einen der Stühle zu setzen.

„Gern, äh ... vielen Dank.“ Der Halbelf konnte den Blick nicht von Lady Erin abwenden. Er blieb mit dem Fuß am Stuhl hängen und stolperte. Die Bundmeisterin schmunzelte und beobachtete ihn völlig offen.

Sgillin räusperte sich. „Verzeihung, ich ... ähm ja ...“

Er nahm endlich Platz und Erin lächelte erneut. „Ihr seid reizend“, bemerkte sie.

„Mir sind leider keine Worte bekannt,“ erwiderte Sgillin, „mit denen ich dieses Kompliment zurückgeben könnte.“

„Nicht nötig. Eure Blicke sagen alles.“ Die Bundmeisterin zwinkerte ihm zu. Als Sgillin errötete und den Blick senkte, wandte sie sich dem Tiefling zu. „Nun, Naghûl, wenn Ihr diesem Mann vertraut, umso besser. Vielleicht werdet Ihr Unterstützung benötigen.“

Die weiße Katze streckte sich genüsslich auf Erins Schoß und Naghûl nickte. „Ich vertraue ihm voll und ganz. Mehrmals lagen unsere Schicksale schon abwechselnd in unser beider Hände.“

„Sehr gut. Ganz wunderbar.“ Erin kraulte die Tressym, die zufrieden zu schnurren begann. „Es handelt sich um einen Auftrag, wie Ihr vermuten werdet. Aber nicht für die Sinnsaten.“

Überrascht weitete Naghûl die Augen. „Oh, das ist ungewöhnlich. Aber natürlich werde ich Eurem Wunsch entsprechen.“

„Ihr werdet noch überraschter sein, wenn ich Euch sage, dass Ihr für das Harmonium arbeiten sollt. - Indirekt, natürlich.“

Naghûl stockte kurz. „Durchaus.“

„Ich muss sicher nicht erwähnen, dass ich bei diesem Auftrag äußerste Diskretion erwarte.“ Die Bundmeisterin blickte zu Sgillin. „Das gilt natürlich auch für Euch.“ Ihre Stimme wurde plötzlich strenger, die Stimme einer Frau, die es gewohnt war, dass sie befahl und man ihr gehorchte.

„Selbstverständlich“, versicherte Naghûl, ein wenig blasser als er es ohnehin schon war.

Sgillin wirkte ungewöhnlich eingeschüchtert, als er erwiderte: „Äh, ja klar ... kein Thema. Ich werde selbstverständlich niemandem etwas sagen.“

Erin lächelte und ihre Stimme wurde wieder warm, ihre Augen strahlend. „Ihr müsst wissen, dass wir zum Harmonium in den letzten Monaten relativ gute Beziehungen unterhalten. Das hat verschiedene Gründe, die ich jetzt nicht alle ausbreiten will. Das bedeutet natürlich auch, dass wir ein wenig zusammenarbeiten, hier und da. Nicht so ganz offiziell, aber wenn, dann bisher immer effektiv.“

Naghûl war nun noch irritierter, nickte aber immer wieder. Sgillin fing sich offensichtlich langsam und betrachtete Erin nun genauer. Der Blick der Bundmeisterin ließ erkennen, dass sie es sehr wohl bemerkte.

„Euer ... Auftraggeber hat sich an mich gewandt, weil ihm sehr daran gelegen ist, dass die Sache innerhalb seines Bundes nicht groß bekannt wird.“ Sie setzte die Katze sanft auf den Boden und stand auf. „Aber das wird er Euch nun sicher selbst erklären.“

„Keine Angst,“ flüsterte Naghûl Sgillin zu, als Erin zur Tür in den Nebenraum ging, „Nicht nur du fühlst dich im Moment etwas verloren.“

„Verloren fühle ich mich nicht“, erwiderte Sgillin, nun wieder mit dem für ihn typischen Grinsen, „Ich bin absolut fasziniert.“

Der Tiefling wollte etwas erwidern, doch der Anblick ihres Auftraggebers, der nun den Raum betrat, ließ ihn aus seinem Stuhl hochschnellen.

„Ach du …“, entfuhr es ihm, gerade konnte er den Rest des Satzes noch unterdrücken. Irritiert sah Sgillin zu Naghûl, stand aber vorsichtshalber auch auf. Der Mann, der eintrat, verfügte über eine starke Ausstrahlung, für die er die rote Rüstung mit den scharfen Metallstacheln auf den Schulterplatten gewiss nicht gebraucht hätte. Sie schadete jedoch auch nicht dabei, ihn noch beeindruckender zu machen. Sein kurzes, schwarzes Haar wurde an den Schläfen ein wenig grau, seine dunklen Augen blickten scharf, aber nicht unfreundlich. Er mochte etwa Mitte vierzig sein und strahlte eine natürliche Autorität aus. Erin deutete einen Knicks an, als sie auf einen der Stühle wies.

„Bitte, nehmt Platz, Bundmeister Sarin.“

Naghûl bemerkte, dass er unbewusst irgendwie stramm stand. Erst auf Erins amüsierten Wink hin setzte er sich wieder, und Sgillin tat es ihm gleich.

„So.“ Auch Sarin hatte Platz genommen, lehnte sich zurück und musterte erst Naghûl und dann Sgillin eingehend. Letztlich beschloss er, sich an Naghûl zu wenden. „Ihr seid also der Mann, den Bundmeisterin Erin mir so freundlich empfohlen hat?“ Seine Stimme war tief, aber ruhig. Wer länger in Sigil lebte, wusste, dass sie mühelos die Straßen des Käfigs erfüllen konnte, auch wenn viel Betrieb herrschte.

Naghûl nickte, noch immer überrascht über diese plötzliche Wendung. „Ich hin stets bestrebt, meinem Bund zu dienen und die Wünsche der Bundmeisterin vollstens zu erfüllen. Wenn sie mich Euch empfohlen hat, dann wird sie gewiss ihre besten Gründe dafür haben.“ Er nickte Erin zu, die das Gespräch still lächelnd verfolgte.

„Gut“, erwiderte Sarin. „Ich komme am besten gleich zur Sache.“ Er rieb sich seufzend die Schläfen und wirkte dabei etwas erschöpft. „Es geht um dieses unselige Konzert, das vor kurzem im Stock stattfand.“

Sgillin hustete kurz und Naghûl warf ihm einen mahnenden Seitenblick zu, ehe er antwortete: „Ihr meint Rock im Ring.“

„Richtig.“ Der Bundmeister wirkte wenig begeistert. „Ich weiß nicht, ob Ihr dort wart. Die jungen Leute sind ja ganz verrückt nach einigen dieser ... doch eher zweifelhaften Gruppen. Meine Tochter …“ Er seufzte erneut. „Nun ja, sie war auch dort. Also, ich weiß schon, wie das wirkt.“ Er hob abwehrend die Hände. „Ja ja, der Bundmeister des Harmoniums lässt seine Erstgeborene auf dieses Konzert. Aber Kinder können sehr ...“ Er unterbrach sich, vielleicht weil ihm klar wurde, dass er im Begriff war, sich vor zwei einfachen Bürgern zu rechtfertigen. „Egal. Sie war eben dort. Sie sollte nach Nektar und Ambrosia nach Hause kommen. Tat sie aber nicht.“

„Danach spielten die Staublungen“, bemerkte Naghûl so sachlich es ihm möglich war und Sgillin zog pfeifend Luft ein. „Oh oh.“

„Sie hat sich wohl bei dem ersten Konzert etwas in einen der Sänger ... verschaut“, fuhr Sarin fort. „Ich weiß es von den Kindermädchen meiner jüngeren Kinder, die ein Gespräch zwischen ihr und einer ihrer Schwestern gehört hatten. So weit, so gut, aber Marinda ist erst siebzehn und somit sollte es bei dieser Schwärmerei bleiben.“ Das Thema war ihm sichtlich unangenehm. „Der Kerl nennt sich ... wie war das gleich? Ähm, der Specht?“

„Der Eichelhäher“, warf Lady Erin ein.

„Genau, das war es!“ Sarin nickte bekräftigend und schüttelte gleich darauf missbilligend den Kopf, ob wegen des Namens oder des Sängers an sich, war nicht ganz klar.

Naghûl schloss kurz die Augen. Das konnte doch einfach nicht wahr sein. „Ja“, erwiderte er langsam, „Der Name ist mir beiläufig bekannt.“

Sgillin hingegen riss die Augen auf, konnte aber glücklicherweise so schnell schalten, dass er Naghûl nicht ansah. Der Bundmeister des Harmoniums führte unterdessen seine Ausführung fort.

„Sehr schön. Also, wenn es nur das wäre, aber offenbar strebt sie an, diesen Mann zu treffen. Keine Ahnung, wie sie das machen will. Aber mir wird sie es gewiss nicht erzählen. Sie ist erst siebzehn Jahre alt, aber bereits Mitglied des Harmoniums und mein Kind. Ihr versteht, dass sie als Tochter des Bundmeisters des Harmoniums eine Angriffsfläche bietet. Die ich mir weder leisten kann noch will.“

„N... nachvollziehbar“, erwiderte Sgillin, offenbar noch immer im Stillen schockiert.

„Ja, sehr ungünstig“, pflichtete Naghûl bei, „Um es dezent auszudrücken.“

Er biss sich auf die Lippen bei diesem Nachsatz, doch Sarin schien keinen Anstoß daran zu nehmen. Er lehnte sich zurück und musterte den Tiefling und den Halbelfen eingehend. „Ich muss gewiss nicht erwähnen, dass diese Sache mir unangenehm ist. Mir ist vor allem wichtig, dass innerhalb meines Bundes nicht gleich jeder davon weiß. Ich vertraue der Diskretion meiner Leute und ihrer Loyalität. Aber im Umgang mit derartigen Personen und Situationen haben die Sinnsaten zugegeben mehr Erfahrung. Eure charmante Bundmeisterin war so freundlich mir entgegen zu kommen. Was ich konkret von Euch will ist, dass ihr meine Tochter ein wenig im Auge behaltet und prüft, ob sie diesen Mann trifft. Ich will ihm nichts unterstellen, aber das ist kein Umgang. Das könnte ja sonst wer sein. Wenn einer dauernd eine Maske trägt, hat er gewiss etwas zu verbergen.“

„Ähm ja, offensichtlich“, antwortete Naghûl mit einem Räuspern.

Sgillin nickte bestätigend. „Ja, das ist in der Tat verdächtig.“

Seine Antwort klang dem Tiefling doch etwas zu engagiert und er warf ihm einen kurzen Seitenblick zu.

„Und wenn Ihr ihn erwischt“, fuhr Sarin fort, „führt Ihr ihn bei mir vor. Ich will ihn nicht gleich verhaften, aber ich will sein Gesicht sehen. Und meine Tochter soll von all dem nichts merken. Meine anderen acht Kinder auch nicht, und ebenso wenig die Amme, die Kindermädchen, die Hauslehrer, mein Stellvertreter Tonat Shar oder sonst jemand vom Harmonium. Meine Frau weiß natürlich Bescheid.“

Des Bundmeisters energischer Ton und die letzte Anweisung ließen Naghûl schlucken „Ihn ... Euch vorführen? Was gedenkt Ihr dann genau zu tun, wenn Ihr mir diese Frage erlaubt?“

„Ich will sein Gesicht sehen, weil ich ihn höchst verdächtig finde.“ Sarins dunkle Augen funkelten. „Und prüfen, ob er sich irgendetwas hat zuschulden kommen lassen.“

Naghûl spürte, wie seine Handflächen feucht wurden, wagte aber dennoch einen Einwurf. „Ich möchte nicht irgendeine Partei ergreifen, aber auf mich wirkt er eher wie ein ... verwöhnter Künstler aus den oberen Bezirken. Ein kleiner Rebell.“

„Einer, der unschuldigen jungen Mädchen den Kopf verdreht“, erwiderte Sgillin und konnte sich dabei kaum das Grinsen verbeißen. Naghûl rang innerlich um Beherrschung.

Sarin war während des Gesprächs ein wenig in Fahrt gekommen, seine Verärgerung war ihm durchaus anzumerken. „Ein Rebell?“, rief er, nun hitziger als zuvor, „Wundervoll! Rebellen bringen uns den ganzen Käfig durcheinander. Und wir, das Harmonium, sollen dann den Dreck wegräumen!“ Zwischen seinen Brauen bildete sich eine Falte. „So will es die Dame, und ich nehme sehr ernst, was Sie will.“

Naghûl, der spürte, wie ihm auch das letzte bisschen Kontrolle entglitt, hob beschwichtigend die Hände. „Nein, nein, ich meinte damit nicht, dass er gleich wie ein Anarchist mit Brandsätzen um sich wirft. Ich meine eher so ein kleiner selbsternannter Moralapostel.“

„Als ob das Harmonium einen Moralapostel bräuchte! Gerade wir!“ Sarins Stimme war deutlich lauter geworden, und er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wir wissen, was richtig und falsch ist. Was denkt Ihr, warum wir uns so sehr bemühen, das jedem nahezubringen? Nur in gemeinsamer Harmonie ...“ Er unterbrach sich und sah zu Erin. „Verzeihung. Das steht mir in Eurem Bundhauptquartier nicht zu. Hier gilt Eure Philosophie.“

Die Bundmeisterin der Sinnsaten lächelt begütigend. „Schon gut. Ich verstehe Eure Aufregung.“

„Aufregung?“ Sarin setzte schon wieder an, begnügte sich dann jedoch mit einem entschuldigenden Blick gen Erin. „Nun ja, so kann man es nennen, denke ich.“

Naghûl beschloss, sich noch einmal um Schadensbegrenzung zu bemühen. „Verzeiht“, sagte er, „Ich wollte Euch nicht aufbringen und habe seine Einstellung nicht allein gegen Euch bezogen. Ich denke eher, er ist ein kleiner Maulheld, der hier und da einen frechen Spruch auf den Lippen hat. Mehr nicht. Eher harmlos und sobald es eng wird, wird er gewiss kuschen. Solche Leute kennt man doch. Lediglich wollte ich Euch damit beruhigen, dass es sich sicherlich nicht um einen Schwerkriminellen handelt.“

Sein Charisma und seine silberne Zunge schienen den Tiefling nicht völlig verlassen zu haben, wie er erleichtert feststellte. Sarin lächelte tatsächlich zum ersten Mal seit Betreten des Raumes. „Da habt Ihr Recht. Nein, das befürchte ich auch nicht. Dennoch will ich nicht, dass meine Tochter in diese Kreise gerät. Sie ist sich nicht bewusst, dass sie als mein Kind eine Zielscheibe sein kann.“

Sgillin nickte ernst. „Wer will seine Tochter auch in den Kreisen solch windiger Typen sehen?“

„Ich bin froh, dass wir einander verstehen.“ Der Bundmeister erhob sich, während Lady Erin zu Naghûl blickte.

„Ich lege die Angelegenheit vertrauensvoll in Eure Hände“, erklärte sie dem Tiefling.

Sarin nickte Naghûl und Sgillin zu. „Ich danke Euch." Dann wandte er sich an Erin und verneigte sich. „Bundmeisterin, Ihr habt meinen Dank. Ich stehe in Eurer Schuld.“

Erin erhob sich ebenfalls und lächelte, noch bezaubernder als bei Naghûls und Sgillins Eintreten. „Aber Sarin. Ein Mann mit Euren Verdiensten um unsere schöne Stadt steht doch in niemandes Schuld. Wenn Ihr allerdings darauf besteht ...“

Sarin erwiderte das Lächeln, jedoch nicht ohne eine hochgezogene Augenbraue. „Ihr seid eine gefährliche Frau, Erin, auch wenn manche das nicht erkennen. Schön, dass Ihr es unter so viel Charme versteckt.“ Er nahm die Hand, die sie ihm hinhielt und küsste sie kurz.

„Richtet Eurer bezaubernden Gattin und Euren wundervollen Kindern meine Grüße aus“, bat Erin.

Sarin lächelte erneut, wenn auch etwas schmerzlich. „Wundervoll sind sie alle. Wenn auch nicht immer ganz so diszipliniert wie gewollt.“ Er nickte Naghûl und Sgillin noch einmal zu und verließ dann den Raum.

Naghûl nickte ebenso und schluckte. Erst als Sarins Schritte auf den Steinstufen der Treppe draußen verklungen waren, atmete er wieder tief durch und ließ sich in seinen Stuhl fallen. „Verzeiht, Bundmeisterin …“

Auch Erin nahm wieder Platz. „Was soll ich verzeihen? Ihr habt Euch doch gut verkauft.“

Naghûl vergrub sein Gesicht in den Händen, während Sgillin das Grinsen nicht länger verbergen konnte.

Erin hob die Brauen. „Jetzt bin ich aber gespannt.“

„Es gibt da noch ein paar wichtige Dinge, die Ihr wissen solltet“, erklärte Naghûl seufzend.

„Ich stimme Euch zu, dass ich wichtige Dinge immer wissen sollte.“ Die Bundmeisterin nahm Aurita wieder auf den Schoß und musterte den Tiefling aufmerksam.

Sgillin schwieg nur und grinste.

„Freddy und ein paar Organisatoren wollen eine Bühne in Sigil errichten - voraussichtlich bund-unabhängig“, erklärte Naghûl.

Falls Erin über den plötzlichen Themenwechsel überrascht war, so ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. „Wieso das? Die Zusammenarbeit mit uns für Rock im Ring verlief doch gut.“

„Ja, aber im Stock. Sie wollen nicht im Stock bleiben, vor allem Nektar und Ambrosia nicht. Ebenso 5 im Sinn.“ Naghûl zögerte. „Unter anderem ist auch dieser Eichelhäher darin verwickelt.“

„So so.“ Die Bundmeisterin musterte ihn aufmerksam. „Das klingt ja interessant.“

„Na ja, geplant ist, dass die Bühne bei der Triona-Statue errichtet werden soll. Und das weiß ich alles ...“ Naghûl schloss kurz die Augen. „ … weil ich der Eichelhäher bin.“ Das war es. Nun war es heraus. Naghûl vergrub abermals das Gesicht in den Händen.

Seine Bundmeisterin sah ihn mit geweiteten Augen an, ihr Blick wechselte von ungläubig zu fassungslos. „Ihr seid der Eichelhäher?“

„Ja.“ Der Tiefling schüttelte mit einem erneuten Seufzen den Kopf. „Ich fand, es wäre eine tolle Erfahrung, ein Doppelleben zu beginnen. Das eine auf der Materiellen und in der Festhalle, das andere als Eichelhäher, ein kleiner rebellischer Musiker. Das alles mit nur wenigen Eingeweihten. Die da wären Sgillin, Raralia, die Schwester meiner Gemahlin, und … nun Ihr.“

Sgillin lachte leise. „Ich bin schockiert“, witzelte er, „Unschuldigen Mädchen den Kopf verdrehen ...“

Erin sah Naghûl noch eine Weile wortlos an, dann aber lachte sie plötzlich, so dass Aurita empört von ihrem Schoß sprang. Sie erhob sich und ging zu Naghûl hinüber.

Der Tiefling blickte auf.„Und ich schwöre, ich habe das Mädchen nicht angerührt.“

Erin stellte sich hinter ihn und legt ihm beide Hände auf die Schultern. „Oh, Naghûl. Ihr seid ein Schelm. Ein richtiger Schelm. Ich glaube Euch, dass Ihr sie nicht angerührt habt.“ Sie beugte sich vor, bis ihr Mund neben seinem Ohr war. „Und nun sollt Ihr Euch selber beschatten und beim Harmonium vorführen. Das wird eine ganz wundervolle, wundervolle Erfahrung werden! Fast beneide ich Euch darum.“

Sgillin hatte nicht aufgehört zu grinsen, seit Sarin die Tür hinter sich geschlossen hatte „Ich werde auch nicht ruhen, bis ich diesen schlimmen, schlimmen Eichelhäher gefunden habe.“

„Es würde an sich kein großer Schaden entstehen, wenn die wahre Identität des Eichelhähers bekannt wird“, meinte Naghûl, „Außer einer grandiosen Erfahrung. Ich werde mir etwas einfallen lassen, wie ich meinen Kopf aus Sarins Händen winden kann.“ Er schmunzelte. „Langsam finde ich den Gedanken auch gar nicht so schlecht.“

Erin ließ seine Schultern los und kehrte zu ihrem Stuhl zurück. Sie wirkte nun eine Spur ernster. „Aber eines ist ein Problem. Es wäre noch wundervoller, wenn es sich bei dem Mädchen nicht gerade um Marinda handeln würde. Unserer Philosophie entspricht diese Geschichte. Aber Sarin würde sie sicher weniger lustig finden, wenn er es herausfindet. Und da unsere Beziehungen zum Harmonium politisch sehr wichtig sind, muss ich auch daran denken. Passt sehr gut auf, dass Ihr nicht auffliegt. Die Sache ist durchaus brenzlig. Für mich wie auch Euch. Ihr habt Sarin gerade erlebt - wahrscheinlich zum ersten Mal persönlich. Sein Auftreten und sein Charakter mögen Euch klargemacht haben, warum er seinen Posten bekleidet - und dies sehr erfolgreich. Er hat nicht gedroht ... Das hat er auch gar nicht nötig.“

Die Eindringlichkeit, mit der Erin sprach, ließ nun auch Naghûl wieder ernster werden. Sie hatte natürlich Recht. Diese Geschichte konnte, wenn sie aufflog, ziemliche Verwicklungen nach sich ziehen. Erin hatte Naghûl in der Sache für Sarin ausgewählt ohne zu wissen, dass er der Eichelhäher war. Aber ob Sarin dies glauben – oder es ihn interessieren – würde, wenn er die Wahrheit herausfand, war fraglich. Durchaus möglich, dass der Paladin sich in diesem Falle nicht nur von Naghûl, sondern von den Sinnsaten ganz allgemein verraten fühlte. Dies konnte nicht nur eine wertvolle bundpolitische Allianz zerstören, sondern gar zu einer Feindschaft führen. Und man hatte weder das Harmonium an sich noch Sarin persönlich gerne zum Feind.

„Hm.“ Naghûl nickte nachdenklich. Am besten wäre es wohl, wenn das Mädchen das Interesse an dem blauen Vogel verlieren würde. Vielleicht würde sich dann alles von ganz alleine regeln.“

„Ja, vielleicht“, stimmte Erin zu. „Ich überlasse Euch, wie Ihr das regelt. Die Sache mit der unabhängigen Bühne werde ich in die Hände von Da'nanin und Annali legen. Aber über die Sache mit Sarin erstattet Ihr ausschließlich mir Bericht.“

„Selbstverständlich, Bundmeisterin.“

„Oder Ihr bezahlt einen Schauspieler, den wir Sarin als Eichelhäher vorstellen“, schlug Sgillin vor. „Was soll er denn mit ihm machen? Er kann ihn ja schlecht dafür bestrafen, dass sich seine Tochter in ihn verknallt hat.“

„Bedenkt, dass Sarin ein mächtiger Paladin ist“, erwiderte Erin warnend, „Es kann durchaus sein, dass er gewisse Lügen durchschaut.“

Naghûl wiegte den Kopf. „Aber wenn er dann im Nachhinein erfährt, wer der Eichelhäher wirklich ist? Dann brennt doppelt die Luft.“

Erin nickte zu Naghûls Worten. „Ihr möchtet nicht verantwortlich sein, dass Eure Bundmeisterin am Ende verhaftet wird, hm? Wenn die Sache zu weit ginge, hätte Sarin die Autorität. Das Harmonium wird nicht ohne Grund gefürchtet.“

„Niemals“, versicherte der Tiefling, „Ich werde die Angelegenheit regeln und in jedem Falle so, dass Ihr geschützt seid. Der letzte Ausweg wäre, dass ich mich stelle ... Das hört sich an, als hätte ich etwas verbrochen.“ Er schüttelte kaum merklich den Kopf.

„Ich bin sicher, Ihr werdet eine kompetente, wasserdichte Lösung finden“, stellte Erin aufmunternd fest.

Sgillin wippte derweil nachdenklich mit dem Fuß. „Ob ihm allerdings eine verknallte Tochter oder eine Tochter mit gebrochenem Herzen lieber ist, das ist die Frage. Wir wissen ja, wie Mädchen dieses Alters sind.“

„Dann stell ich ihr einen aus 5 im Sinn vor, und dann darf er den durch die Mangel nehmen“, konterte Naghûl.

Erin lachte herzlich, während sie sich erhob. „Ich wusste, Ihr würdet kreativ sein, Naghûl. Dann entlasse ich Euch hiermit. Danke für Eure Hilfe in dieser Sache und für eine wirklich schockierende wie auch erfrischende Überraschung. Eine gute Erfahrung!“

Sgillin verneigte sich vor der schönen Bundmeisterin. „Und ich danke Euch für die außergewöhnliche Erfahrung, Euch kennengelernt haben zu dürfen. Ich hätte niemals erwartet, dass mir so etwas zuteil wird.“

„Er ist übrigens mein Gitarrist“, warf Naghûl ein und genoss Sgillins erst erschrockenen, dann verärgerten Blick.

„Danke …“, knurrte der Halbelf leise.

„Tatsächlich?“ Lady Erin schien begeistert. „Nun, ich werde mir Euren Namen merken, Sgillin. Und das ist keine Drohung.“

Naghûl grinste und verneigte sich ebenso zum Abschied. „Ich danke für Euer Vertrauen, Bundmeisterin Erin. Der Segen der Dame.“

Als die Tür zum Privaten Sinnsorium hinter ihnen ins Schloss gefallen war und sie sich weit genug von dem Wächter entfernt hatten, blieben die beiden stehen. Sie sahen einander an, offenbar unschlüssig, ob sie breit grinsen oder verzweifelt das Gesicht in den Händen vergraben sollten. Auf jeden Fall, da war Naghûl sich sicher, sollten sie etwas trinken. Am besten in der Gehenna-Lounge, denn dort gab es die stärksten Tropfen.

 

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gespielt am 12. November 2011

 



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