„Nur die geistig Gesunden können sich auf ihren Wahnsinn vorbereiten.“
Bundmeister Lhar, in Vorbereitung auf den Düsteren Rückzug
Erster Kuratorentag von Retributus, 126 HR
Als sie am nächsten Morgen erwachten, fühlte Naghûl sich relativ gut ausgeschlafen und entspannt. Sie hatten die Nacht in Lereias neuem Haus verbracht und sich dort auch waschen und frühstücken können. In der Küche hatten sich bereits Bytopianisches Hirtenbrot, Honig und Hartkäse befunden, ebenso wie Kaffee und verschiedene Teesorten. So waren sie noch im Aufenthaltsraum auf den Kissen um den niedrigen Tisch herum gesessen, hatten sich gestärkt und besprochen, wie sie weiter vorgehen wollten. Mit Jana hatten sie abgemacht, dass sie Eliath bis zu dessen Wohnung oder Quartier folgen würde, wenn er die Schwarzen Segel verließ. Sie überlegten daher, zum Haus der Hexenmeisterin zu gehen und sie nach dem neusten Stand zu fragen. Da auf dem Weg dorthin das Torhaus lag, wollten sie aber auch den Trostlosen noch einen Besuch abstatten. Immerhin hatten sie mit dem Minotauren Schwarzhuf abgemacht, ihn über Neuigkeiten bezüglich der Morde zu informieren, wofür im Gegenzug eine gewisse Derioch ihnen Informationen über Eliath geben sollte. Ehe sie aufbrachen, ging Lereia noch in die Gießerei zu dem alten Nadilim, der eine Art Verwalter und Concierge des Bundes war. Sie holte sich bei ihm die Abschriften, die Ambar noch des Nachts von Torannas Dokumenten angefertigt hatte. Dabei lag auch eine kurze Notiz des Bundmeisters:
„Werte Lereia,
wie bei unserem Treffen gestern besprochen, habe ich wegen des uns unbekannten Zeichens auf einem von Torannas Dokumenten in der Halle der Informationen anfragen lassen. Da ich die Sache als offiziell dringlich angegeben hatte, wurde mir die Information tatsächlich schon heute in aller Frühe zugänglich gemacht. Bei der roten Sonne handelt es sich um ein Siegel, das in Sigil in Verwendung ist. Es gehört einer Frau namens Derioch Ysarl. Sie ist Faktotum bei den Trostlosen. Ich hoffe, diese Auskunft hilft Euch irgendwie weiter. Ich setze mich mit Euch in Verbindung, sollte ich weitere Informationen bezüglich Eurer derzeitigen Mission erhalten. Achtet auf Euch und Eure Gefährten und geht keine unnötigen Risiken ein.
Möge der Schatten der Dame nie auf Euch fallen.
Ambar Vergrove“
Diese überraschende Information bestärkte die Gruppe natürlich erst recht darin, sich zum Torhaus zu begeben und nach Derioch zu fragen. Kiyoshi ließ es sich jedoch nicht nehmen, seinen täglichen Statusbericht in der Kaserne zu machen und wollte sich mit den anderen bei Janas Haus wieder treffen. Als Naghûl, Lereia und Sgillin das Hauptquartier der Trostlosen erreicht hatten, herrschte dort ein reger Betrieb, da gerade die Mittagssuppe an Arme und Waisen ausgeteilt wurde. Sie traten an einen der langen Holztische, die vor dem Torhaus aufgebaut waren und sich unter der Last der vielen Blechschüsseln und der großen, dampfenden Eisentöpfe bogen. Ein älterer Hobgoblin, den sie nach Derioch fragten, deutete wortlos zum Ende des übernächsten Tisches, wies auf eine menschliche Frau mit kinnlangem schwarzem Haar, die in ein einfaches braunes Leinengewand gekleidet war. Sie gingen hinüber.
„Der Segen der Dame“, grüßte Naghûl sie höflich. „Wir kommen, weil Schwarzhuf uns mitteilte, dass Ihr uns möglicherweise etwas über Eliaths Verbleib sagen könntet.“
Die Frau ließ die Suppenkelle sinken, mit der sie ein eintopfartiges Gericht in die Blechschüsseln verteilt hatte. Zumindest schien sie nicht überrascht von der Anfrage und wusste somit wohl, worum es ging. „Über seinen Verbleib?“ Sie hob die Schultern. „Nein, nicht wirklich. Ist eine gute Weile her, dass ich ihn zuletzt gesehen habe.“ Sie wirkte nicht direkt unfreundlich, aber doch eher reserviert.
„Aber er war öfter hier?“ hakte Naghûl nach.
Nun legte Derioch die Kelle zur Seite und sah ihn durchdringend an. „Er war hier“, erwiderte sie knapp.
„Würdet Ihr uns vielleicht auch sagen, warum er hier war?“
„Na ja.“ Sie tippte sich gegen die Stirn und hob die Schultern. „Ein Verrückter halt.“
„Wie wirkte sich das aus?“ bohrte der Tiefling weiter.
Seine Fragerei trug offensichtlich nicht zur Laune der Trostlosen bei, denn sie verschränkte nun mit einem Seufzen die Arme.
„Ich glaube, er war Magier oder eine Art Gelehrter. Irgendwas hatte er mit Formeln … hat die Wände seiner Zellen damit vollgekritzelt. Warum interessiert Euch das?“
Naghûl beschloss, dass es an der Zeit war, sich den einen oder anderen kleinen Bluff aus dem Ärmel zu ziehen. „Wir suchen ihn und befürchten, dass er in Gefahr sein könnte, wegen der Morde im Stock. Er und ich arbeiteten manchmal gemeinsam an Kryptographien, versteht Ihr?“
„So?“ erwiderte Derioch misstrauisch. „Wann? Als Ihr ihn im Torhaus besucht habt?“
„Eben nicht“, entgegnete der Tiefling sofort. „Sonst würde ich ja nicht nach seinem Aufenthalt hier fragen. Wäre es möglich, dass wir uns sein Gekrakel mal ansehen?“
Derioch griff wieder nach der Schöpfkelle und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, aber der Bereich, in dem er sich aufhielt, ist für Nicht-Bundmitglieder unzugänglich.“
Es war klar, dass sie nicht weiter über das Thema reden wollte. Ob das jedoch etwas mit den Morden zu tun oder andere Gründe hatte, konnte Naghûl noch nicht ganz einordnen. Er ließ daher nicht locker.
„Oh, das ist schade“, meinte er. „Könnt Ihr mir sagen, ob er goblinisch verwendet hat?“
„Keine Ahnung.“ Die Trostlose hob die Schultern. „Ich kannte die meisten Zeichen, die er da hin gekritzelt hat, gar nicht. Bezweifle aber, dass Goblins sie verwenden.“
„Hm.“ Naghûl nickte nachdenklich. „Könnten wir jemanden bitten, dass man mir seine Ergüsse abschreibt oder abmalt?“
„Wenn Ihr jemanden findet, der sich das antun will“, erwiderte Derioch sarkastisch.
Natürlich, was war in Sigil schon umsonst? Das konnte Naghûl sogar verstehen.
„Ich würde natürlich auch eine Gegenleistung dafür erbringen“, bot er daher an.
Derioch griff nach einer Schüssel, um diese mit Eintopf zu befüllen. „Mich persönlich interessiert das Ganze nicht besonders“, erklärte sie.
„Verstehe schon“, meinte der Tiefling seufzend. „Wie lange war er denn im Torhaus?“
„Hm, ne Weile.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Paar Jahre, glaub ich.“
Nun trat Lereia an Naghûls Seite, während Sgillin sich weiterhin im Hintergrund hielt.
„Hat Eliath von anderen Personen gesprochen?“ fragte sie. „Oder war er paranoid? Wir wollen nur ausschließen, dass er zu den Mordopfern zählen könnte und verfolgt wurde oder wird.“
Nun stellte Derioch energisch die befüllte Schüssel ab und legte die Kelle wieder hin „Also, für meinen Geschmack habt ihr inzwischen viel gefragt und wenig selber gesagt. War nicht die Abmachung, dass ihr im Gegenzug etwas über die Morde herausfindet und an uns weitergebt?“
Naghûl nickte. Da hatte sie recht, und er wollte sie nicht noch mehr verstimmen, um ihnen diese Tür nicht zu verschließen. „Ja natürlich, das stimmt“ räumte er daher ein. „Wie die Leute umkamen, wisst Ihr?“
„Man sagt, sie seien erwürgt worden. Stimmt das?“
„Ja“, bestätigte der Tiefling. „Die Male sind eindeutig. Zudem ist davon auszugehen, dass es sich um einen großen Täter handelt. Wir glauben, dass sie einhändig erwürgt wurden.“
Er hatte beschlossen, dass er Derioch zwar nicht vertreiben wollte, ihr aber auch nicht genug traute, um einfach alle Informationen, die sie besaßen, mit ihr zu teilen. Sie ein wenig auf eine falsche Fährte zu locken, mochte daher nicht schaden.
Sie musterte ihn skeptisch. „Einhändig? Klingt reichlich unpraktisch, aber bitte ... Und wer könnte es sein? Habt ihr einen Verdacht?“
„Wir versuchen, die Oger der Schlägerbanden abzuklappern“, erklärte Naghûl. „Das sind unsere ersten Verdächtigen. Kennt Ihr vielleicht einen Olgrimm?“
Er wählte einfach den ersten Ogernamen, der ihm in den Sinn kam, und die Trostlose schüttelte den Kopf.
„Nie gehört.“
„Oder vielleicht Unkharr?“
„Nein, auch nicht“, erwiderte sie stoisch.
„Elsnoop?“
Verärgert stemmte Derioch die Hände in die Seiten. „Jetzt stellt ja schon wieder ihr die Fragen.“
„Es betrifft unsere Ermittlungen“, erklärte Naghûl.
„Sagt mir einfach, was ihr bisher wisst“, entgegnete die Trostlose genervt. „Oder wisst ihr gar nichts?“
„Ich könnte Euch mehr sagen, wenn ich Eliaths Zeichen entschlüsseln dürfte“, meinte der Tiefling prompt. „Das spielt alles zusammen.“
Derioch verengte die Augen. „Wieso spielt das zusammen?“
„Weil ich mir sicher bin, dass Olgrimm nur eine Verschlüsselung ist“, hangelte der Sinnsat sich an seiner Geschichte weiter. „Die wiederum auf etwas anderes hinweist. Wieso wollt Ihr uns nicht helfen?“
Sie rümpfte die Nase. „Ihr wollt mir weismachen, dass die Kritzeleien, die Eliath vor Jahren an die Wände seiner Zelle geschmiert hat, etwas mit der aktuellen Mordserie zu tun haben? Soll es darauf hinauslaufen?“
„Vielleicht“, behauptete Naghûl. „Kann ich aber nur genau sagen, wenn ich es ansehe.“
Allmählich schien ihr die Sache zu dumm zu werden, denn sie funkelte ihn gereizt an „Was seid ihr eigentlich für welche, hm? Für wen arbeitet ihr?“
Der Sinnsat hob vielsagend die Brauen. „Wollen wir diese Art der Fragen nun wirklich stellen?“
„Ja, wollen wir“, erwiderte Derioch trocken.
Naghûl verschränkte die Arme und beschloss, sich noch einen Schritt weiter vorzuwagen. „Vielleicht für Toranna?“
Er fasste die Trostlose scharf ins Auge, konnte jedoch keinerlei Reaktion auf den Namen hin erkennen. Falls sie etwas verbarg, war sie sehr gut darin.
„Toranna? Sollte ich den Namen kennen?“
„Zumindest hat sie Notiz von Euch genommen“, erwiderte Naghûl. „Und sie steht mit den Morden in Verbindung. Keine Angst, wir arbeiten nicht für sie. Aber eventuell seid Ihr in Gefahr.“
Nun bemerkte er das erste Mal seit Beginn des Gesprächs eine gewisse Verunsicherung in Deriochs Miene. Doch es war nicht die Nervosität jener, die etwas verbergen, sondern eher ein Anflug von Sorge. „Warum das?“ fragte die Trostlose vorsichtig. „Ich dachte, es trifft nur Fusler und Irre. Oder stimmt das so gar nicht?“
Naghûl wiegte den Kopf. „Ich möchte mich nicht darauf verlassen. Und ich möchte auch nicht behaupten, dass Eliath wirklich verrückt war. Wir müssen wirklich seine Zeichnungen sehen. Im Moment kann ich nur vermuten.“
In diesem Moment vernahmen sie das laute Getrappel von Hufen, und der Tiefling ahnte, wer sich da näherte. In der Tat erschien kurze Zeit später ein ihnen bekannter Minotaurus bei der Suppenausgabe. Sie nickten ihm grüßend zu, und er schnaubte laut, was möglicherweise auch eine Art Gruß darstellen sollte.
„Ah, Schwarzhuf.“ Derioch winkte ihn sogleich näher heran. „Du hast doch diese Schleifer da angeschleppt, oder?“
„Hab ich nicht“, brummte der Minotaurus. „Die sind von alleine gekommen.“
Die Trostlose strich die Schürze ihres braunen Leinenkleides glatt. „Wie auch immer. Das ist jetzt dein Bier. Ihr habt mir genug Zeit gestohlen. Kümmer du dich um deine Freunde.“
„Freunde?“ Schwarzhuf schnaubte erneut, protestierend, wie es Naghûl scheinen mochte. „Aber ...“
„Einen Moment noch“, hielt der Tiefling Derioch auf, die sich bereits zum Gehen gewandt hatte, dann sah er zu Lereia. „Kannst du mir mal die Notiz mit der roten Sonne geben?“ Dabei behielt er die Trostlose im Auge und sah, wie sie bei diese Worten aufhorchte.
Lereia nahm den kleinen Zettel aus der Tasche und reichte ihn Naghûl. Dankend nickte er ihr zu und hielt ihn dann Derioch hin. „Eine rote Sonne kommt Euch bekannt vor?“
Erstaunt hob sie die Brauen. „Das ist mein Siegel. Ich nutze eines für Angelegenheiten des Bundes, so wie nahezu jeder Faktotum.“
„Dies fanden wir bei einer Verdächtigen“, erklärte Naghûl mit einem kurzen Nicken zu dem Zettel in seiner Hand.
Nun sah sie das Papier genauer an und weitete dann die Augen. „Das ist mein Siegel ...“ Sie nickte. „Aber ich habe das nicht geschrieben.“
Schwarzhuf trat näher heran und glotzte Derioch über die Schulter. Sie warf ihm einen tadelnden Blick zu, sagte aber sonst nichts.
„Stammt Euer Siegel von einem Stempel oder kann man das nachzeichnen?“, erkundigte Lereia sich.
„Es ist ein Stempel“, antwortete Derioch. „Ich habe es als Petschaft zum Prägen in Wachs und als Stempel für Tinte.“
„Ist es eine individuelle Anfertigung für Euch gewesen?“ fragte Lereia weiter. „Ich nehme an, es befindet sich noch in Eurem Besitz?“
„Sicher, ich habe es erst vorhin verwendet. Ich habe es machen lassen, als ich Faktotum wurde.“ Sie wirkte nun verärgert, und es kam Naghûl nicht gespielt vor. „Was geht da vor? Wer, bei der Dame, fälscht mein Siegel? Und wer soll dieser Schattendieb sein?“
„Das'n Helf“, erwiderte Schwarzhuf prompt.
Irritiert blickte Derioch zu dem Minotaurus. „Was?“
Sgillin, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte, trat nun ebenfalls etwas vor „Woher wisst Ihr das?“ fragte er.
„Ein Halbelf“, erklärte Schwarzhuf. „Is manchmal in der Blutgrube. Mein Bruder Bluthorn kämpft da. Er hat mir erzählt, das wär'n Knochenbrecher, der sich da neuerdings rumtreibt.“
Nun war es an Sgillin, irritiert dreinzuschauen. „Knochenbrecher?“
„Ein gefährlicher Kerl“, erklärte Naghûl den Sigiler Slang. „Einer, der Einfluss hat oder eine Schlägergruppe anführt.“
„Wisst Ihr, wie er aussieht?“ erkundigte Lereia sich.
Der Minotaurus hob die mächtigen Schultern. „Schwarze Haare, glaub ich. Aber Humanoide sehen sich immer alle so ähnlich, schwer zu sagen.“ Er schnaubte ein wenig, ehe er stolz hinzufügte: „Großer Kämpfer!“
„Der Halbelf?“ meinte Sgillin. „Wisst Ihr, wie er heißt?“
„Schattendieb?“ vermutete Lereia.
„MEIN BRUDER!“ grollte Schwarzhuf empört.
„Ich meinte Schattendieb als Name des Halbelfs“, erwiderte Lereia und hob begütigend die Hände. „Dass Euer Bruder ein großer Kämpfer ist, würde ich nie anzweifeln!“
„Ich ... auch nicht ...“ murmelte Sgillin, der etwas zurück gewichen war bei dem Ausbruch des Minotauren.
Schwarzhuf kratzte sich zwischen den Hörnern. „Der Halbelf, ach so. Na, Schattendieb heißt er.“
Derioch seufzte vernehmlich und machte einmal mehr Anstalten, die Szene zu verlassen.
„Bitte“, hielt Lereia sie ruhig und eindringlich zurück. „Wenn Ihr noch irgendetwas über Eliath wisst, sagt es uns. Wir wollen nur helfen.“
„Und ich muss wirklich die Aufzeichnungen sehen“, versuchte Naghûl es noch einmal.
„Ich kann das nicht allein entscheiden“, erwiderte Derioch und zögerte kurz. „Ich bin nur Faktotum. Die Zelle ... Seine Zelle war im Flügel für Kriminelle und Unheilbare Geisteskranke. Das muss zumindest ein Faktor entscheiden, am besten Sruce selber.“
Lereia hob die Brauen. „Er war kriminell?“
„Das habe ich nicht gesagt“, erwiderte die Trostlose ernst.
Fast schuldbewusst nickte die junge Frau. „Ihr habt Recht, verzeiht.“
„Mir würden auch Abzeichnungen reichen“, mischte sich Naghûl wieder ein. „Könntet Ihr die anfertigen?“
„Auch da muss ich erst nachfragen“, erklärte Derioch angestrengt.
Schwarzhuf stellte die Ohren auf. „Aber, wenn das in Verbindung mit ...“ Dann unterbrach er sich abrupt, hielt sich die Hand vor die Schnauze und täuschte ein Husten vor. „Uhahahahach.“
Einmal mehr runzelte Derioch verwundert die Stirn. „Was?“
„Nix, nix ...“ erwiderte der Minotaurus schnell.
„Mit Olgrimm?“ wandte sich Naghûl an ihn, eigentlich nur in der Absicht, Derioch zu verunsichern.
„Olgrimm? Hä?“ Der Minotaurus schnaubte, dann brummte er. „Ja, genau! Oder ... nö, doch nicht. Ach, keine Ahnung, unwichtig ...“
Sein Verhalten wirkte mehr als seltsam und Sgillin zog skeptisch die Brauen zusammen.
„Ist irgendwas?“
„Alles bestens!“ schnaubte Schwarzhuf energisch.
Derioch stemmte nun beide Hände in die Seiten und musterte ihn verärgert. „Was stimmt bei dir eigentlich in letzter Zeit nicht?“
„Stimmt doch alles!“ entgegnete der Minotaurus empört.
Dieses plötzliche merkwürdige und leicht nervöse Verhalten verwunderte Naghûl. Was war auf einmal los? Der Tiefling maß sein beeindruckendes Gegenüber mit forschendem Blick.
„Ihr seid bestimmt ein wahrhaftiger Kämpfer und ein hervorragendes Mitglied Eures Bundes“, erklärte er. „Aber Vortäuschung und Vertuschung steht Eurem Volke nicht.“
Lereia nickte zustimmend zu seinen Worten. „Wieso seid Ihr so nervös?“ wollte sie wissen.
„Ich vertusch nichts!“ erwiderte Schwarzhuf laut. „Und ich bin nicht nervös!“
„Aber Ihr wirkt beunruhigt“, wandte Lereia ein. „Nicht unbedingt, dass Ihr etwas vertuscht, aber vielleicht macht Euch etwas Angst.“
Naghûl hielt den Atem an. Das war bestimmt eine ungünstige Wortwahl gewesen … Und in der Tat ließ Schwarzhuf nun ein noch deutlich lauteres Schnauben hören, man konnte es eher ein tiefes Grollen nennen.
„Ich bin ein Minotaurus!“ rief er empört. „Ich hab keine Angst!“
Seine Ohren begannen vor Erregung zu beben und Lereia wich instinktiv einen Schritt zurück.
„Verzeiht mir, das war ungeschickt ausgedrückt.“
Schwarzhuf scharrte mit dem Huf und wühlte dabei den staubigen Boden auf. Seine Nüstern zitterten leicht. Für Naghûl war dies das Zeichen, das Gespräch zu beenden. Einem verärgerten Minotaurus ging man besser aus dem Weg. So trat er rasch neben Lereia und zog sie am Ärmel mit sich.
„Ärgert Euch nicht“, meinte er entschuldigend gen Schwarzhuf. „Sie ist nur ein dummes junges Kalb.“ Dann wandte er sich noch einmal an Derioch. „Vielleicht könnt Ihr es ermöglichen. Wir werden uns in den nächsten Tagen wieder melden.“
Lereia hatte ihm bei dem Wort Kalb einen vielsagenden Blick zugeworfen, aber nichts erwidert. Immerhin schien der Minotaurus sich etwas zu beruhigen. Als Naghûl sich schon zum Gehen wenden wollte, fiel sein Blick auf eine kleine, grünhäutige Gestalt, die hinter der Ecke des Torhauses stand. Es handelte sich um eine dünne Goblinfrau mit knallpinkem Haar. Auch Schwarzhuf hatte sie offenbar gesehen, beziehungsweise machte es auf Naghûl den Eindruck, dass er sie schon länger erblickt gehabt hatte. Nun winkte er energisch in ihre Richtung ab. Die Goblinfrau trug eine Schweißerbrille und einige Werkzeuge baumelten an ihrem Gürtel. Sie sah kurz zur Gruppe, zögerte einen Moment und machte dann "Pssst, pssst" gen Schwarzhuf. Dabei winkte sie ihm hektisch zu.
„Boah ...“ brummte der Minotaurus genervt.
Er versuchte eindeutig, sie zu ignorieren, doch sie ließ nicht locker, machte immer wieder „Pssst, pssst“ und winkte ihn dabei zu sich. Der gewollt unauffällige und ungewollt auffällige Auftritt entlockte Naghûl ein Schmunzeln.
Schwarzhuf verdrehte die Augen. „Muss mal weg ...“ murmelte er und ging dann zu der Goblinfrau hinüber. Derioch sah ihm kopfschüttelnd nach.
„Wer ist das?“ erkundigte Lereia sich.
Die Trostlose hob die Schultern. „Ich glaub, sie ist eine Chaotin. Keine Ahnung, die hängt in den letzten Tagen öfter hier rum und will irgendwas von Schwarzhuf.“
Die Goblinfrau redete derweil energisch und hektisch auf den Minotaurus ein, der offensichtlich genervt zuhörte. Dann packt sie ihn am Fell seines Beines, offenbar wollte sie, dass er mitkam. Mit einem angestrengte Schnauben folgte er ihr, und sie verschwanden hinter der Ecke des Torhauses.
Derioch seufzte nur. „Also, wenn das alles war ...“
Lereia nickte. „Wir bleiben in Kontakt. Passt auf Euch auf.“
„Ihr auch“, erwiderte die Trostlose, ihre mit Abstand freundlichsten Worte seit Beginn des Gesprächs, aber sie schien es ernst zu meinen.
„Ja“, versicherte Naghûl. „Wir melden uns wieder und werden auch dem gefälschten Siegel nachgehen. Erzählt am besten erst einmal niemanden davon, außer vielleicht Sruce oder so.“
„Ich rede mit Sruce wegen der Kritzeleien“, erklärte Derioch, nickte zum Abschied und ging dann ins Torhaus.
Als sie außer Hörweite war, winkte Lereia Sgillin und Naghûl näher zu sich.
„Es gibt da etwas“, erklärte sie leise. „Sowohl die Goblinfrau als auch Schwarzhuf haben keine seelische Signatur.“
Naghûl runzelte die Stirn. „Wir sollten mal eine Signaturenlosen-Zählung machen. Scheinen viele zu werden.“
Lereia deutete nach links, die Straße hinunter. „Der Monodron und der Klingenteufel da haben eine. Ich kann noch kein Muster erkennen. Aber ich halte euch auf dem Laufenden, wenn es etwas Besonderes gibt.“ Dann hielt sie plötzlich inne und schloss kurz die Augen. „Heu … das Heu!“ Sie wirkte aufgeregt. „Der Verrückte!“
Sie sah sich um und Sgillin musterte sie irritiert.
„Was?“
„Der, der die Namen rief“, erklärte Lereia mit gedämpfter Stimme. „Wir haben ihn leblos gefunden!“
Naghûl rieb sich den Nacken. Der Tote aus der Gasse? Meinte seine junge Freundin tatsächlich, dass er noch am Leben war? Sie sah sich um, versuchte offenbar ihn zu entdecken. Dann blieb ihr Blick bei einem vorbeigehenden menschlichen Mann hängen. Er schritt langsam an ihnen vorbei, wirkte gelöst und geradezu fröhlich ... und als Naghûl ihn sah, da war er völlig sicher, dieses rotbraune Haar und das markante Gesicht mit der langen Narbe über der rechten Wange zu kennen ... es war der Verrückte, den sie tot gefunden hatten.
„Na, mich laust der Cornugon“, rief der Tiefling.
Auch Sgillin machte große Augen. „Das gibt's doch nicht!“
Der Mann trug eine leichte Plattenrüstung und pfiff leise vor sich hin. Er hatte sie schon fast passiert, als Naghûl ihn mit einem lauten Ruf aufhielt. „He!“
Er sah sich um, und nun bemerkte der Tiefling, dass auf seiner Rüstung das Symbol des Harmoniums zu sehen war.
„Der Segen der Dame, werter Herr“, grüßte Sgillin ihn.
„Der Segen der Dame“, erwiderte der Angesprochene den Gruß freundlich.
Lereia musterte die Rüstung. „Zum Gruße, der Herr. Gibt es einen besonderen Grund, dass das Harmonium hier patrouilliert?“
„Oh.“ Er lachte. „Ich bin nicht wirklich im Dienst. Also, ich bin ja noch ein Rekrut. Man sagte mir, wir patrouillieren nicht im Stock. Aber wegen dieser Morde dachte ich, umsehen kann man sich ja mal.“
„Und habt Ihr etwas entdeckt?“ wollte Sgillin wissen. „Die Morde machen hier alle sehr nervös.“
„Nein, bisher nichts. Na ja, ich werde dann auch wieder zurückgehen.“ Der Mann sah sich um. „Hab schon bemerkt, dass man mich hier nicht gerne sieht. Will ja keinen Ärger.“
„Ich finde es angenehm, das Harmonium hier zu sehen“, erwiderte Lereia lächelnd. „Ihr seid noch nicht so lange Rekrut?“
„Nein, erst seit kurzem“, bestätigte der Mann ihre Vermutung. „Es war ... eine Erleuchtung. Eine zweite Chance.“
„Das klingt ja spannend“, meinte Lereia sofort, um ihn zu ermutigen, mehr zu erzählen.
Er nickte. „Ja, ich … ich lebte im Stock. Also, nicht immer. Ich kam vor zehn Jahren von Oerth nach Sigil, lebte dann fünf Jahre im Marktbezirk. Aber eines Tages stolperte ich durch ein falsches Portal ... in die Abyss. Wie durch ein Wunder schaffte ich es zurück, aber ...“ Er wurde etwas leiser. „Ich war körperlich und vor allem geistig gezeichnet.“
„Die Abyss ...“ Naghûl nickte ernst. „Das ist schlimm. Ich kann es mir ansatzweise vorstellen. Mein aufrichtiges Mitgefühl.“
„Ich war dem Wahnsinn anheim gefallen“, antwortete der Mann seufzend. „Ich erinnere mich nicht an viel aus diesen Jahren. Dann starb ich, vor ein paar Tagen. Ein dunkler Engel stand über mir und legte mir die Hand auf die Augen. Aber als ich wieder erwachte, da befand ich mich an einem strahlenden Ort voller Licht! Eine glanzvolle Gestalt erschien vor mir.“ Nun wirkte er freudig aufgeregt. „Es war Cuthbert. Er selbst. Er, den ich in meinem Wahnsinn vergessen hatte!“
Lereia runzelte die Stirn. „Verzeiht meine Unwissenheit. Cuthbert?“
„Na, der Gott!“ rief der Rekrut aus, offenbar ein wenig entsetzt über ihr Unwissen. „Der Gott der Gerechtigkeit und Tapferkeit, der sein Reich auf Arcadia hat!“
„Ein Gott erschien Euch?“ meinte Lereia staunend. „Wart Ihr ein Anhänger Cuthberts?“
„Ja!“ Der Mann nickte eifrig. „Ich verehrte ihn damals auf Oerth. Nie werde ich seine Worte vergessen. Er sagte zu mir: Mein Sohn, du bist vom Weg abgekommen und ich kann dich so nicht in mein Reich aufnehmen. Aber ich gebe dir eine zweite Chance. Ich schicke dich zurück, auf dass du dem Harmonium beitrittst. Er sagte: Diene dem Harmonium und du dienst mir!“
„Wird Cuthbert denn im Harmonium besonders verehrt?“ fragte Sgillin.
„Ja, sicher“, antwortete der Mann mit unverminderter Begeisterung. „Sehr viele im Harmonium sind Anhänger von Cuthbert. Ja, ich sage Euch, er erschien mir! Ich war jenseits der Ewigen Grenze! Und ich kehrte zurück.“
Bei dieser Formulierung hob Naghûl die Brauen und tauschte einen vielsagenden Blick mit Lereia aus. Das waren doch genau die Worte, die in dem Brief an Toranna gestanden hatten.
„Ewige Grenze?“ hakte Sgillin nach.
Der Mann nickte ernst. „Die wir alle einst überschreiten.“
„Darf man fragen, wie Ihr gestorben seid?“ erkundigte Sgillin sich nun vorsichtig.
Der neue Harmoniumsrekrut überlegte kurz, schien aber keinen Anstoß an der Frage zu nehmen. „Ich weiß nicht mehr genau ... Ich glaube, ich würde erwürgt. Aber ich bin nicht sicher.“
„Das ist schrecklich“, meinte Lereia mitfühlend. „Habt Ihr nach dem Mörder gesucht?“
„Oh ja, aber ohne Erfolg.“ Dann griff er sich an die Stirn, als habe er etwas vergessen. „Ach verzeiht, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Tylaric Sturmschwinge.“
Sgillin verschluckte sich und musste husten. Auch Naghûl weitete die Augen, als er sich des Namens erinnerte. Tylaric aber schien ihre Reaktionen gar nicht groß zu bemerken.
„Ihr müsst mich nun bitte entschuldigen“, sagte er stattdessen. „Mein Dienst beginnt bald und ich muss weiter.“
Lereia hatte sich einigermaßen von ihrer Überraschung erholt und nickte. „Oh, natürlich! Habt vielen Dank für diese unglaubliche Geschichte, Ihr seid wahrhaft gesegnet.“
Tylaric nickte strahlend, verneigte sich leicht und ging dann wieder seiner Wege. Lereia sah Naghûl und Sgillin mit großen Augen an.
„Ich glaub's ja nicht“, murmelte der Halbelf kopfschüttelnd.
„Er steht auf der Liste!“ flüsterte Lereia aufgeregt. „Und wie hieß es im Brief? Mission Ewige Grenze?“
„Verdammt!“ entfuhr es Naghûl. „Wir müssen versuchen, alle auf der Liste irgendwie zu erreichen – vor allem die, die es wert sind.“ Er räusperte sich etwas auf Lereias tadelnden Blick hin.
„Gehen wir erst einmal die anderen treffen und erzählen ihnen davon“, schlug Sgillin vor.
Der Tiefling nickte, und so machten sie sich eilig auf den Weg zu Janas Haus, wo sie hofften, die Hexenmeisterin und auch Kiyoshi zu treffen.
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gespielt am 12. April 2012




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