Neugier ist der Höllenkatze Tod – aber nicht der des Sinnsaten.

Zumindest nicht aller Sinnsaten.“

Baatorianisches Sprichwort

 


 

Erster Kuratorentag von Retributus, 126 HR

Erin Montgomery saß in der Bibliothek des zentralen Flügels, auf dem Schoß einen Stapel Zeitungen, und ließ ihre Gedanken schweifen. Sie hatte um das Letzte Licht herum mit Lady Faith einen Spaziergang durch den Garten der Festhalle gemacht. Mit Sarins Gemahlin hatte sie sich seit jeher gut verstanden. Obgleich die Philosophien ihrer Bünde sehr unterschiedlich waren, hatten sie stets viele Gesprächsthemen, unter anderem, da sie beide Priesterinnen wie auch beide sehr interessiert an Kunst und Kultur waren. Trotz des Nieselregens war der große Garten so einladend gewesen wie stets: trocken, von angenehmer Temperatur und erfüllt von blühenden Pflanzen und zwitschernden Vögeln. Eine unsichtbare, magische Kuppel über der schönen Parkanlage sowie die Bemühungen zahlreicher Gärtner, Botaniker, Zoologen und Druiden sorgten dafür. Erin hatte Faith natürlich zur Uraufführung der neuen Oper von Galados eingeladen. Ihre Freundin hatte ihr Kommen begeistert zugesichert – und zugleich bereits im Vorfeld bedauernd mitgeteilt, dass Sarin an jenem Abend leider würde arbeiten müssen. Erin hatte ihn scherzhaft einen Spitzbuben genannt, der seine Frau für sich schwindeln ließ, weil er selber es nicht durfte. Woraufhin Faith herzlich gelacht und erklärt hatte, dass ihr Mann mit der modernen gnomischen Oper einfach nicht so viel anfangen konnte. Die Bundmeisterin der Sinnsaten hatte Faith beauftragt, ihrem Ehemann ihren Tadel für sein Nicht-Erscheinen zu überbringen und war dann kurz ins Nachdenken gekommen. Trieb sie es mit Sarin zu weit? Es war nur ein amüsantes Spiel für sie – das sie jedoch zugegebenerweise seit der Vertiefung ihrer bundpolitischen Beziehungen im Rahmen der neuen Allianz intensiviert hatte. Doch sie wollte ihn definitiv nur necken und keinesfalls ärgern – was natürlich auch auf seine Ehefrau zutraf. Wenngleich sie diese Art Spiel durchaus schon für derartige Zwecke eingesetzt hatte und dies sicher auch in Zukunft noch oft tun würde – bei Sarin und Faith war es nicht ihre Absicht. Und sie war klug genug, die Dicke des Eises zu prüfen, bevor sie sich darauf begab. Doch Faith hatte nur gelacht und ihr versichert, ihr Mann hielte das schon aus. Oder brauche es sogar, da gerade Bundmeister oft in der Gefahr waren, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Dem konnte Erin nur zustimmen. Sie leitete den Bund der Sinnsaten nun seit gut drei Jahren, und die Machtfülle, die das Amt mit sich brachte, konnte geradezu schwindelerregend sein. Dadurch, dass Sigil war, was es war, beherrschte sie nicht nur Teile einer Stadt, sondern Teile des Tores zum Multiversum – und somit Teile des Multiversums selbst. Und dazu zählte nicht nur der immense Einfluss auf Arborea und in den Sylvania umgebenden Teilen der Außenländer. Nein, überall in den Ebenen waren die Bünde aktiv. Selbst als Faktorin hatte sie nur eine vage Ahnung gehabt, was das Amt der Bundmeisterin bedeuten mochte. Doch es war eben nicht nur einfach ein Rausch von Einfluss und Macht, sondern auch eine große Verantwortung. Eine Verantwortung, die sie an manchen Tagen noch immer erschreckte. Ein einziger Fehltritt in jenem so passend als Kriegstanz bezeichneten Ränkespiel der Bünde konnte katastrophale Auswirkungen haben. Dass sie auch von vielen äußerst erfahrenen Teilnehmern als Meisterin dieses Tanzes bezeichnet wurde, schmeichelte ihr manchmal durchaus, das konnte sie nicht leugnen. Noch konnte sie sich von dem Stolz freimachen, zu wissen, dass es zutraf. Ein untrügliches Gespür für politische Situationen und Strömungen, für das soziale Klima des Käfigs, für Intrigen, Gelegenheiten und Gefahren hatte sie in dieses Amt geführt. Zusammen mit einer treffsicheren Menschenkenntnis und einem sehr zuverlässigen Instinkt, wann sie verraten werden würde oder wann sie bedenkenlos vertrauen konnte. Sie war keine große Kriegerin, keine beeindruckende Magierin und anders als Faith auch keine besonders mächtige Priesterin. Und doch war der inoffizielle Titel „zweitmächtigste Frau Sigils“ unumstritten der ihre. Sie hatte mit ihren zweiunddreißig Jahren schon sehr vieles erlebt – auch vieles, an das sie weniger gern zurück dachte – und was die kommenden Jahre oder Jahrzehnte bringen mochten, konnte sie nur erahnen. Doch sie machte sich darüber nicht allzu viele Gedanken, denn wie viele Sinnsaten lebte sie gerne im Augenblick – umso mehr, weil sie ihres Amtes wegen oft wenigstens in die mittelfristige Zukunft schauen musste. In diesem Moment ihres Lebens war sie an diesem Ort und in dieser Position. Sie genoss es und sie liebte es. Alles andere war nicht wichtig, erst recht nicht ihre Vergangenheit. So zumindest hoffte sie ... Ihre Gedanken schweiften zurück zu dem Gespräch, zu jenem Moment als ihr Faktotum Naghûl Ka'Tesh zu ihnen gestoßen war. Sie hatte ihn auf Faiths Bemerkung hin scherzend damit beauftragt, sie wieder auf den Boden zu holen, falls sie einst zu sehr abheben würde. Der Tiefling hatte geschmunzelt und zugegeben, noch nicht genau zu wissen, wie er das anstellen sollte. Aber dass er sich etwas würde einfallen lassen. Dann hatte Faith sich verabschiedet und Erin hatte mit Naghûl an einem in einer ruhigen Ecke des Gartens platzierten Brunnen Platz genommen. Ihr Faktotum hatte ihr von den Ermittlungen im Stock berichtet, über jene Dinge, die sie noch nicht von Terrance und Ambar erfahren hatte: über das Gespräch mit Derioch Ysarl und Schwarzhuf von den Trostlosen, über die wundersame Wiederauferstehung von Tylaric Sturmschwinge und über die Begegnung mit Eliath in den Schwarzen Segeln. Sehr genau hatte er von Sgillins Körpertausch erzählt, von dem Zeichen hinter Eliaths Ohr und von der daraus abgeleiteten Befürchtung, jemand könne eine Art Schläfer in die Bünde einzuschleusen versuchen. In Zusammenhang mit Torannas Liste, deren Kopie sie von Ambar erhalten hatte, war dies ein durchaus beunruhigender Gedanke. Dass auf dieser Liste einige sehr hochrangige Bundmitglieder standen, darunter auch ihr eigener Stellvertreter und Gefährte Da'nanin, machte sie natürlich nachdenklich. Entweder sprach diese Liste von Anmaßung und Größenwahn, wenn die Verfasser davon ausgingen, Zugriff auf derartig prominente und mächtige Personen bekommen zu können. Oder die Gruppe, die hinter all dem steckte, hatte einige gewaltige Asse im Ärmel. Eindeutig hätte Erin in diesem Fall Anmaßung und Größenwahn bevorzugt. Zumindest konnte sie mit Sicherheit sagen, dass Da'nanin das besagte Zeichen nicht hinter dem Ohr trug – noch an irgendeiner anderen Stelle seines Körpers. Möglicherweise hatten also nur jene dieses Mal, die bereits „wiederauferstanden“ waren. Bei all diesen bedenklichen Informationen hatte Naghûl aber zumindest auch eine erheiternde Geschichte mitgebracht, ganz wie es sich für einen guten Faktotum der Sinnsaten gehörte. Er hatte ihr erzählt, dass aufgrund von Janas Vision im Schlummernden Lamm Sgillin nun Legat Killeen Caine als Verdächtigen für die Stockwürgermorde ins Auge gefasst hatte. Bei der Vorstellung, wie die Gruppe Sarin diese Vermutung mitteilte, hatte sie herzlichst lachen müssen und Naghûl hatte ihr versprochen, sie würde sich die Szene in seinem Sinnstein ansehen dürfen, sollte es dazu kommen. Tatsächlich war Killeen nicht der ganz typische Legat des Harmoniums. Er war sehr leutselig und sehr interessiert an Frauen – auf die charmante Art allerdings. Dennoch, der Gedanke, ihn mit den Morden im Stock in Verbindung zu bringen, war einer der Höhepunkte des Tages gewesen. Der Legat von Arcadia allerdings war nicht der Grund, warum sie nun mit einem Stapel Zeitungen auf dem Schoß in der Bibliothek saß. Nein, Janas Vision über den Bundmeister des Harmoniums war es. Da sie fest davon ausging, dass diese Visionen etwas mit der Göttermaschine und der Ring-Prophezeiung zu tun hatten, musste offenbar ein Zusammenhang zwischen diesen Dingen und Sarins Vergangenheit bestehen – wobei Sarins Vergangenheit und die des Harmoniums hier eins sein mochten. So hatte sie sich in die Bibliothek begeben, um eine kleine Reise in die jüngste Geschichte Sigils zu unternehmen. Laut Jana war Sarin in ihrer Vision etwa zehn Jahre jünger gewesen, also hatte sie sich vom Archivar Montague alle Ausgaben von SIGIS und dem Tempus Sigilianus aus den Jahren 115 bis 117 HR bringen lassen. Im Grunde hatte sie gar keine Zeit für diesen Stapel an Papier – doch da es um die Deus Machina gehen mochte, wollte sie ungern Außenstehende in die Nachforschungen involvieren. Da'nanin würde also wohl in den sauren Apfel beißen müssen, ihr bei dieser Geschichte zu helfen. Doch sie hatte beschlossen, ihn noch bis zum nächsten Morgen damit zu verschonen. Also begann sie ihre Reise in die Vergangenheit Sigils erst einmal allein, genauer gesagt, in die Vergangenheit des Harmoniums. Terrance hatte seine Befürchtungen bezüglich Lord Valiant bereits mitgeteilt, und so machte sie sich daran, die Zeitungen nach allem zu durchforsten, was in jener Zeit über das Harmonium und die damaligen Spannungen im Bund geschrieben worden war. Eine ganze Menge, wie sich herausstellte … Da sie selbst damals noch nicht in Sigil gewesen war und die Geschichte nur im Groben kannte, waren das durchaus interessante Informationen. Bei der Dame, die Verhältnisse im Harmonium waren jener Tage alles andere als harmonisch gewesen …

 

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basierend auf dem Rollenspiel mit Naghûls Spieler vom 22. April 2012

 

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