Mehrere Harmoniums-Patrouillen sind in Alarmbereitschaft, nachdem sich Hunderte von Xaositekten vor der Großen Gießerei versammeln. Keldor, Faktor der Göttermenschen, bestätigte, dass die Gläubigen der Quelle eine hohe, aber nicht mitzuteilende Summe von den Xaositekten für ein „spezielles Projekt“ erhalten hätten. Bis jetzt war die Versammlung friedlich, doch das Harmonium bleibt in Bereitschaft, um auf jeden möglichen Ärger reagieren zu können. „Das Problem bei den Chaoten ist, dass man nie weiß, was man von ihnen zu erwarten hat“, erklärte Patrouillen-Leiter Nallart.

Man nimmt an, dass das Projekt Teil der Überraschung! werden soll, die allerdings erst in fast einem Jahr, am Bundmeistertag von Kapriziosus stattfindet. Wie immer aber bleibt die genaue Natur der Überraschung! ein gut gehütetes Geheimnis. Im letzten Jahr hatten Xaositekten-Magier die Kaserne mit einer Illusion versehen, die den Eindruck erweckte, das Hauptquartier des Harmoniums würde aus der Chaosmaterie des Limbus bestehen. Bundmeister Sarin konnte nicht darüber lachen.“

Meldung in SIGIS

 


Vierter Dametag von Regula, 126 HR

Als Amariel vor Sarins Büro stand, trommelte der Regen bereits energisch mit nassen Fingern gegen die Fensterscheiben der Kaserne. Es war bereits drei Stunden vor Gegenzenit, klebrige Finsternis ergoss sich über die Stadt der Türen und die Halbelfe fragte sich, warum ihr Bundmeister sie zu so später Stunde noch sprechen wollte. Als sie anklopfte, antwortete Sarins tiefe, volle Stimme ihr fast unmittelbar, erteilte ihr die Erlaubnis, einzutreten. Sie öffnete die schwere Tür aus arcadischer Rotbuche, zog sie nach dem Eintreten sofort möglichst leise wieder ins Schloss und verneigte sich tief, ehe sie Haltung annahm. Ihr Bundmeister saß hinter seinem großen Schreibtisch, auf dem sich Briefe, diverse Pergamentseiten mit Notizen, Listen und ein Stadtplan von Sigil stapelten. Für einen Mann mit seinem Ordnungssinn war der Schreibtisch bemerkenswert chaotisch, doch die Dekuria nahm an, dass er einfach keine Zeit hatte, ihn aufzuräumen. Als sie eintrat, sah er sie direkt an und nickte ihr freundlich zu. Ihr Herz schlug schnell, wie immer in seiner Gegenwart. Sie hoffte bei der Dame, dass ihr das nicht anzumerken war, spannte sich deutlich an und presste die Lippen leicht gegeneinander. Es sprach für Sarins Menschenkenntnis, dass er es sofort bemerkte.

"Rühren, Dekuria. Bitte tretet näher." Er winkte sie mit der rechten Hand heran. "Nehmt Platz."

Sie bemerkte, dass tatsächlich ein Stuhl vor seinem Schreibtisch stand, was nicht die Regel war. Normalerweise hatte man vor dem Bundmeister zu stehen. Dieses kleine Detail trug nur zu ihrer bereits vorhandenen Aufregung bei. Sie nickte unsicher und nahm Platz, wobei ihre Anspannung jedoch nicht wich. Man wurde nicht alle Tage in das Büro des Bundmeisters gerufen, erst recht nicht um diese Zeit. Sarin musterte sie für einige Sekunden und obgleich sein Blick freundlich war, erschien es Amariel wie eine Ewigkeit. Ihr Herz schlug noch heftiger, als sie seinen Blick erwiderte und ihn dabei ihrerseits beobachtete. Sie hatte das Alter von Menschen immer schwer schätzen können, doch sie wusste, er musste etwa Mitte vierzig sein. Der gebräunte Teint, die dunklen Augen und das schwarze Haar waren ein Zeichen seiner Herkunft aus einer der warmen, südlichen Regionen von Ortho. Er trug keine Rüstung mehr, sondern ein weißes Hemd mit weiten Ärmeln und darüber eine dunkelrote Weste, bestickt mit Ornamenten, die Amariel an sich fremd waren, die sie aber öfter an seiner Kleidung sah. Sicher hatten auch sie einen Bezug zu seiner alten, materiellen Heimat, ebenso wie die beiden Krummsäbel, die nun in Griff-Reichweite auf der linken Tischseite lagen. Er sah gut aus, diesen Gedanken hatte sie schon bei der ersten Begegnung mit ihm sofort gehabt. Auf so eine markante, sehr menschlich-männliche Weise, ganz anders als die Schönheit der Elfen, aber unübersehbar attraktiv. Ihr Herz schlug noch ein paar Takte schneller und rasch senkte sie den Blick. Ihr Wangen fühlten sich heiß an, war sie etwa rot geworden?

„Dekuria“, begann Sarin nach diesen wenigen Sekunden, die ihr unendlich lang vorkamen, „Sicher fragt Ihr Euch, warum ich Euch zu dieser Stunde noch habe rufen lassen.“

Draußen nahm der Regen zu, trommelte heftiger gegen die Scheiben und ganz von ferne war das leise Grollen eines Donners zu hören. Amariel hob den Blick wieder und sah ihren Bundmeister an. Sie wusste genau, dass Sarin sich daran störte, wenn man ihm nicht in die Augen schaute.

„Ja, Bundmeister“, antwortete sie, „Dieser Gedanke ist mir durchaus gekommen. Nicht ... nicht, dass es mich stören würde, Herr! Ich bin sehr gerne gekommen!“

Sarin lächelte und sie biss sich erneut auf die Lippen. Sehr gerne gekommen? Wie das klang. Was für eine völlig ungeschickte Formulierung ... Er ließ ihr jedoch keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. „Das freut mich, Dekuria. Und ich will auch gar nicht lange herumreden, sondern gleich auf den Punkt kommen.“

Ja, das war seine Spezialität. Sarin kam meistens sehr schnell auf den Punkt. Ohne viele verschnörkelte Worte oder umständliche diplomatische Winkelzüge. Man erzählte sich, dass er die anderen Bundmeister durch diese Art oft überrumpelte. Amariel nickte und blickte ihn fest an.

„Dekuria“, fuhr Sarin fort, „Ich weiß, ihr stammt von Arcadia und wart bis vor kurzem in Melodia stationiert. Und niemand weiß besser als ich, der Käfig ist wahrlich keine der Oberen Ebenen. Würdet Ihr dennoch in Betracht ziehen, für längere Zeit hier in Sigil zu bleiben?“

Wo Ihr doch hier seid? Für immer! Amariel atmete tief durch und drückte ihre aufmüpfigen Gedanken nieder. Sie musste sich kurz räuspern, ehe sie antwortete. „Ja, Bundmeister. Ich könnte mir das durchaus vorstellen.“

Er nickte und lehnte sich dabei etwas zurück. „Und wäre es für Euch in Ordnung, wenn ich Euch öfter zu Zeiten wie dieser herbestellen würde? Oder außerhalb Eures Dienstplanes?“

Nun wusste sie doch nicht mehr, was sie erwidern sollte und starrte ihn mit erstaunt geweiteten Augen an. Noch heftiger als zuvor trommelte der Regen gegen das Fenster, ein zweiter, lauterer Donner grollte. Als Sarin ihre Verwirrung bemerkte, richtete er sich wieder in seinem Stuhl auf.

„Verzeihung, Dekuria, das war etwas ... unglücklich formuliert.“ Sein Lächeln trieb eine weitere Hitzewelle durch ihren Körper. „Die Sache ist die: Nachdem Präfekt Vandarias in seinen wohl verdienten Ruhestand gegangen ist, benötige ich eine neue Adjutantin. Ich hatte an Euch gedacht.“

Ihm konnte unmöglich bewusst sein, wie sehr er mit diesem so einfach formulierten Satz ihre Welt auf den Kopf stellte. Sie, Amariel, Adjutantin des Bundmeisters? Das bedeutete eine immens große Verantwortung ... und ständig in seiner Nähe zu sein. Ob er ahnte ...? Nein, er konnte es nicht vermuten, sonst hätte er sie niemals für das Amt in Betracht gezogen. Ihre Gedanken waren wie wilde, ungezügelte Pferde und rissen ihren hilflosen Verstand unerbittlich mit sich fort. Er durfte, bei der Dame, niemals auch nur den geringsten Verdacht hegen. Es war nur eine harmlose Schwärmerei, nur das, nicht mehr.

„Dekuria?“ Sarins tiefe Stimme riss sie aus dem Strudel ihrer Gedanken.

„Verzeihung, Bundmeister“, stotterte sie. „Das kommt sehr unerwartet. Ich ... es wäre mir die größte denkbare Ehre, wenn ... wenn Ihr mich tatsächlich für fähig haltet ...“

„Wenn es anders wäre, hätte ich Euch nicht gefragt“, erwiderte Sarin ernst.

„Natürlich nicht, Herr.“ Amariel schloss kurz die Augen und atmete einmal tief durch, um sich zu sammeln. „Bundmeister, ich danke Euch. Ich würde dieses Amt mit der allergrößten Freude antreten und Euch all mein Wissen und meine Fähigkeiten zur Verfügung stellen, um die Aufgabe stets zu Eurer vollsten Zufriedenheit zu erfüllen!“

„Dessen bin ich sicher.“

Er lächelte wieder und ihr wurde bewusst, dass er jetzt, wo er alleine mit ihr sprach, sehr viel lockerer erschien als sonst, in Gegenwart anderer Soldaten oder Offiziere. Die militärische Strenge, die er ansonsten besaß, war einem wärmeren, offeneren Wesenszug gewichen. Sie begann zu begreifen, was Killeen damals gemeint hatte. Sarin wird sich nie zu nah an die Truppen begeben, sich nie zu eng auf sie einlassen. Das kann und darf er nicht, er ist ein militärischer Anführer. Aber solltest du einmal das Glück haben, mit ihm alleine zu sein – und gesetzt, er mag dich – wirst du den Ritter erleben, nicht den General. Es war eine andere Geschichte, dass sich Killeen – obgleich selber Legat – durchaus sehr nah an die Truppen begab. Doch er war so anders als der Bundmeister, dass sie ihm keine Fragen dazu gestellt hatte. Sarin hatte sich erhoben und war ans Fester getreten. Draußen tobte inzwischen ein heftiges Gewitter, der Donner rumpelte laut und nah, Blitze flackerten auf, helle Schrammen im nächtlichen Himmel. Auch Amariel stand auf und trat, ein wenig zögerlich, neben ihren Bundmeister. Obwohl sie selbst nicht gerade klein war, überragte er sie leicht um einen Kopf und auch unter Hemd und Weste zeichneten sich deutlich seine breiten Schultern ab. Sie wünschte, es wäre ihr weniger deutlich aufgefallen und blickte schnell aus dem Fenster. Sarin öffnete es, stützte sich mit beiden Ellbogen auf dem Sims ab und blickte in die Nacht.

„Ihre Erhabenheit scheint schlechte Laune zu haben“, stellte er fest, während ein kühler, aber überraschend erfrischender Windstoß ins Zimmer fuhr.

Amariel nickte. „Ja, Bundmeister, es sieht ganz so aus.“

Er unterhielt sich noch eine Weile mit ihr, über die aktuelle Tagespolitik Sigils, über die neuen Rekruten, die sie derzeit ausbildete, sogar kurz über seine Kinder. Niemals hatte er so privat und auch so entspannt mit ihr gesprochen. Und ganz allmählich beruhigte sich ihr rasendes Herz, sie wurde gelöster, lockerer. Zurück blieb eine frische, aber angenehme Aufregung über ihre neue Aufgabe und die süße Freude des Augenblicks. Ja, ihr Bundmeister hatte sich nur eine neue Adjutantin gesucht. Aber die Welt einer jungen Dekuria hatte er endgültig und äußerst gründlich auf den Kopf gestellt.

 

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Der Auftrag der Xaositekten an die Göttermenschen hat seinen Hintergrund, wie das Fest zum Neuen Zyklus, in der ersten Ausgabe der von Fans erstellten Sigil-Zeitung SIGIS aus dem Jahr 1997.

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