Letztlich gehört jeder zu den Staubmenschen. Nur weiß es noch nicht jeder.“

Bundmeister Skall

 


 

Erster Gildentag von Retributus, 126 HR

Janas Wohnung war klein, aber für Stockverhältnisse recht wohnlich und angenehm. Sie besaß einen Erker, der an klaren Tagen sogar einigermaßen viel Licht hineinließ, da die Hexenmeisterin im sechsten Stock unter dem Dach und somit etwas über den meisten umliegenden Gebäuden wohnte. In diesen Erker hatte Jana ihren Schreibtisch gebaut. Der Boden aus Holzdielen war in recht gutem Zustand, es gab sogar ein paar alte Teppiche und einen Badezuber in einer der Ecken. Auf einer offenen Feuerstelle links neben der Eingangstür erwärmte ihre Gastgeberin einen Eintopf aus Rüben und Hydraknollen, während sie ihre nassen Umhänge zum Trocknen aufhängten und sich allmählich wieder aufwärmten. Jana fütterte ein paar streunende Katzen, und sie sprachen beim Essen über die Ereignisse des hinter ihnen liegenden Tages. Doch sie waren alle müde und erschöpft, so dass sie sich bald zur Ruhe legten. Es gab ein Stockbett, dessen obere Etage Jana Lereia anbot, zudem hatte sie noch eine aufklappbare Pritsche herumstehen. Sgillin und Kiyoshi überließen diese Naghûl und breiteten sich zum Schlafen ein paar Decken auf dem Boden aus. Als sie sich für ein paar Stunden wohlverdienten Schlafs niederlegten, war es bereits fast drei Stunden nach Gegenzenit.

Sie erwachten erst eine Weile nach dem Ersten Licht. Da draußen ein trüber Tag war, hatte der Morgen nicht allzu viel Helligkeit in die kleine Wohnung geschickt, die sie hätte wach kitzeln können. Jana verteilte einen Laib von schon recht hartem Bot und ein paar Äpfel zum Frühstück und brühte etwas Tee und Kaffee auf. Während er das heiße, schwarze Getränk durch seine Kehle rinnen ließ, lehnte Naghûl sich auf dem einfachen Holzstuhl zurück, auf dem er saß. Ja, es war eine gute Entscheidung gewesen, eine Pause zu machen und die Nacht hier bei Jana zu verbringen. Ihre Kleidung war getrocknet, sie hatten gegessen und ein paar Stunden dringend nötigen Schlaf gefunden. Nun war er in besserer Verfassung, einen Ort wie die Leichenhalle aufzusuchen. Sie packten ihre Sachen zusammen, nahmen ihre Mäntel und verließen Janas Wohnung, um den Staubmenschen einen Besuch abzustatten. Es war kühl, der Himmel grau und fahl, so als ob jemand mit einem schmutzigen Lappen darüber gewischt hätte. Einige wenige Wolken trieb der Wind auseinander wie zerfetzte Gespenster. Man spürte, dass es bald regnen würde, wenn nicht am selben Tag, dann am nächsten. Sie machten sich auf den Weg zur Leichenhalle, doch schon nach kurzer Zeit kam ein schmutziger Straßenjunge von etwa zehn Jahren auf die Gruppe zu. Er zog an Sgillins Mantel und flüsterte ihm etwas zu. Der Halbelf entschuldigte sich daraufhin bei der Gruppe, er müsse leider kurz weg, habe etwas Dringendes zu erledigen. Lereia runzelte die Stirn, sagte aber nichts weiter, und auch Naghûl nickte nur leicht. Sgillin hielt sich nun schon seit ein paar Monaten in Sigil auf und hatte offenbar das eine oder andere Geschäft in der Stadt getätigt. Er hatte nie genauer erwähnt, worum es dabei ging, und Naghûl hatte es stets dabei belassen. Jeder hatte seine eigenen Angelegenheiten, der Tiefling respektierte das. So machten sie sich zu viert auf den Weg ins Bund-Hauptquartier der Staubmenschen. Da es im Stock keine Fahrdienste gab und man die meisten Wege zu Fuß zurücklegen musste, dauerte es immerhin über eine Stunde, bis sie ihr Ziel etwa zwei Stunden vor Zenit erreichten. Da sie aber nicht über ein Gebiet wie den Nachtmarkt gehen mussten, gab es keine derart brenzligen Situationen mit Kiyoshi wie am Abend zuvor. Lediglich die allgemeine Armut und Misere des Stocks umgab sie allgegenwärtig, rief alte Erinnerungen in Naghûl hervor und schlug Lereia offenbar aufs Gemüt. Dann erhob sich vor ihnen das große, kuppelförmige Gebäude, das den ganzen Grauen Distrikt dominierte, bekrönt von zwölf riesigen, metallenen Schwingen und flankiert von massiven, klingenbekränzten Türmen. Reliefs von Knochen, Skeletten und Schädeln schmückten die Außenmauern, und vor dem Tor standen zwei große Knochengolems, vollkommen unbeweglich, doch jederzeit bereit, die Halle, die Bundmitglieder und die Trauergäste zu schützen. Nicht weit vom Eingang entfernt stand ein Karren, auf dem offenbar mehrere Leichen lagen – man konnte einige Füße, zwei Hufe und einen schlaff herabhängenden Arm unter der dreckigen Plane hervorschauen sehen, mit der die Ladung abgedeckt war. Ein mageres, schwarzes Pferd war angespannt, und auf dem Bock saß ein Sammler, der wohl gerade mit einem der Staubmenschen über den Preis für die „Lieferung“ diskutierte. Lereia sah bedrückt hinüber und schüttelte sich, als sie die Knochengolems am Eingang passierten. Naghûl nickte bei sich. Ja genau, und aus diesem Grund kam er nicht gerne hierher. Als sie eintraten, erstreckte sich vor ihnen ein weitläufiger Saal aus grauem Stein, getragen von mächtigen Pfeilern und Säulen, überdacht von einem hohen Gewölbe. In der Mitte stand eine Statue in dunkler Robe, die ein symbolisches Abbild des Todes darstellen sollte. Ansonsten war der große Eingangssaal fast leer – bis auf ein paar der untoten Arbeiter, Skelette und Zombies, die hier herum schlurften. Denn die Staubmenschen wandelten Personen, die ihnen ihre Körper verkauften, nach deren Ableben in Untote um und verwendeten sie als Arbeitskräfte für einfache Tätigkeiten in der Leichenhalle. Wer einen solchen Todesvertrag schloss, bekam eine für Stock-Verhältnisse ansehnliche Menge Klimper. Die Schlucker, die das taten, machten es für gewöhnlich, um ihre Familien zu ernähren und es war ihnen egal, was nach ihrem harten und oft zu kurzen Leben mit ihren Körpern geschah. Wenn die sterblichen Überreste nicht in einem Säurebad skelettiert wurden, so balsamierten die Staubmenschen sie sorgfältig ein, da sie ihre Zombies in einem recht guten Zustand konservieren und nicht verfallen lassen wollten. Daher rührte auch der typische Geruch der Leichenhalle. Man hätte meinen können, dass es wegen der Untoten, vor allem der Zombies, hier grauenhaft nach Tod und Verwesung stank, doch dem war nicht so. Es roch zwar etwas muffig und staubig, aber vor allem auch stark antiseptisch, ausgehend von den Untoten, die die Staubmenschen sorgfältig instand hielten. Zusätzlich schwebte über allem der Geruch von Weihrauch, Balsamierungsöl und welkenden Blumen. Naghûl wollte sich schon an einen der untoten Arbeiter wenden, rief sich dann aber sogleich in Erinnerung, dass dies sinnlos war. Alle Zombies hatten zugenähte Münder, denn die Staubmenschen bevorzugten schweigende Arbeitskräfte. Als Lereia die mit grobem Faden zusammen gehefteten Lippen des nahen Arbeiters sah, wurde sie blass.

„Am besten fragen wir ganz direkt, ob sie Eliath noch hier haben“, schlug Jana vor. „Ich glaube, die führen eine Art Buch.“

„Ich … kann das hier nicht“, flüsterte Lereia, blieb hinter Naghûl und starrte zu Boden.

Der Tiefling seufzte. So viel zu dem angemessenen Rahmen, in dem man Leichen aufbahren konnte. Er würde dann wohl mit den Staubmenschen reden müssen. So suchte er den ersten, der noch am Leben war – zumindest physisch. Emotional war Naghûl sich bei den Mitgliedern dieses Bundes da nicht so sicher. Doch er schob diese Gedanken beiseite, als er auf den Mann in der einfachen, grauen Robe zutrat.

„Asche zu Asche“, grüßte der Staubmensch, als er sich ihm näherte.

„Staub zu Staub“, erwiderte Naghûl den Gruß, so wie es üblich war.

Der Staubmensch nickte, fast zufrieden wirkend.

„Darf ich Euch eine Frage stellen?“ kam der Sinnsat direkt zur Sache.

„Fragt“, antwortete der Mann ruhig.

„Habt Ihr einen Toten namens Eliath hier?“ wollte der Tiefling wissen.

Lereia krallte die Finger in ihre Robe, er konnte es aus den Augenwinkeln erkennen. Jana versuchte, ihr beruhigend die Hand auf den Unterarm zu legen.

„Versuch, dich etwas zu entspannen“, hörte er sie Lereia zuflüstern. „Ich weiß, wie schlimm es anfangs ist, aus eigener Erfahrung.“

Lereia nickte leicht, ergriff Janas Hand und hielt sie fest, atmete dann etwas ruhiger. Naghûl zwang sich, sich nicht durch das leise Gespräch der beiden ablenken zu lassen, sondern wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Staubmenschen zu.

„Ich weiß nicht“, gab dieser zur Auskunft. „Ich bin diesen Monat nicht mit Bestattungsangelegenheiten befasst. Wann soll er abgeliefert worden sein?“

„Vorgestern.“

„Aus welchem Bezirk?“

„Gefunden wurde er im Marmordistrikt“, erklärte der Tiefling.

„Stock also.“ Der Mann nickte bedächtig - er wirkte sehr ruhig, geradezu leidenschaftslos, allerdings nicht direkt unfreundlich. „Toranna ist dafür zuständig.“

„Wo kann ich sie denn finden?“ fragte Naghûl weiter.

Der Staubmensch wiegte den Kopf. „Sie bereitet gerade eine Begräbniszeremonie vor. Aber wenn noch keine Trauergäste da sind, hat sie vielleicht kurz Zeit. Soll ich fragen?“

„Das wäre sehr freundlich“, erwiderte Naghûl.

Der Mann nickte und wies dann zu einer Nische nahe des Eingangs. „Bitte folgt mir.“ Er blieb jedoch sogleich wieder stehen und sah zu Jana, Lereia und Kiyoshi. „Gehören sie zu Euch?“

„Ja“, bestätigte Naghûl. „Dürfen sie sich anschließen?“

Der Staubmensch nickte erneut und führte sie dann zu der Nische, über der ein kleines, vergittertes Fenster ein wenig trübes Licht in die Halle fallen ließ. Mehrere Steinbänke standen hier an der Wand.

„Bitte nehmt Platz.“ Er wies auf die Bänke. „Es dauert vielleicht einen Moment.“

„Vielen Dank.“

Sie nahmen auf den harten Bänken Platz und warteten. Die Atmosphäre der Leichenhalle war schon alleine ihres Zweckes wegen bedrückend, und die vielen Untoten machten die Sache nicht besser. So starrten alle schweigend vor sich hin, während sie warteten, wobei Naghûl seinen Blick durch die Halle schweifen ließ. Er dachte daran, was er am Torhaus entdeckt hatte und spähte, suchte … Und tatsächlich ...

„1-1-1, zwischen den Torbögen dort!“ Er deutete auf die Stelle, wo er nun wiederum jene geheimnisvollen, leicht leuchtenden Zahlen erblickte, die nur er sehen konnte.

Jana hob den Kopf. „Ein neues Zeichen? Ich verliere den Überblick.“

„Verlieren?“ Naghûl lachte auf. „Ha! Ich hab noch nichtmal einen gefunden!“

Doch ehe sie sich weitere Gedanken darüber machen konnten, kam nun eine dunkelhaarige Frau in einer grauen Robe zu ihnen. Es war jedoch nicht die gewöhnliche, raue Kutte, die viele einfache Bundmitglieder während ihrer Arbeit in der Leichenhalle trugen. Ihre Robe war aus gutem Stoff, an den Säumen mit schwarzen Borten benäht und an den Ärmeln mit kleinen Totenschädeln bestickt. Sie musste eine Adlatin sein, ein Faktotum der Staubmenschen.

„Asche zu Asche“, grüßte sie die Gruppe höflich.

„Staub zu Staub“, erwiderte Naghûl den Gruß der Toten abermals und erhob sich dabei.

Die Frau warf einen kurzen Blick zu den anderen, wandte sich dann aber wieder an den Tiefling. „Ich bin Toranna. Ihr seid wegen eines Verstorbenen hier?“

„Ja, so ist es. Es geht um Eliath.“

Sie hob eine Braue. „Eliath, ich verstehe. Scheint ein gefragter Mann gewesen zu sein.“

Naghûl verschränkte die Arme und schob die Hände in die Ärmel. „Wirklich? Es haben schon mehr nach ihm gefragt?“

„Ja, gestern Abend erst“, bestätigte Toranna. „Da waren auch zwei, die sich nach ihm erkundigt hatten. Ein seltsames Paar.“

„Wieso seltsam?“, wollte Lereia wissen, und Toranna hob die Schultern.

„Irgendwie passten sie nicht zusammen. Aber das ist hier im Käfig ja auch nicht ungewöhnlich. Sie war eine Halborkin in roter Rüstung und mit einem zweiköpfigen Köter. Er ein gut gekleideter Luftgenasi mit einem Monodron im Schlepptau. Ich glaube, er war so ein Kami-Abkömmling oder wie man sie nennt.“

Ein kurzer Seitenblick zu Kiyoshi verriet Naghûl, dass der junge Mann bei der Erwähnung eines Kami interessiert die Brauen hochzog.

„Waren sie Angehörige von Eliath?“, erkundigte Lereia sich.

„Ich glaube nicht“, erwiderte die Adlatin. „Sie sagten aber nichts dazu.“

„Haben sie sonst etwas wichtiges gesagt? Wie sie heißen oder wo man sie vielleicht antreffen kann?“

„Sie nannte sich Garush“, gab Toranna Auskunft. „Der Name des Mannes fiel nicht. Aber sie sah mir verdammt nach Rotem Tod aus.“

Fragend sah Lereia zu Naghûl, und ihm wurde klar, dass sie vermutlich nicht wusste, was sie mit dem Begriff „Roter Tod“ anfangen sollte. Dass dies eine Bezeichnung für die Gnadentöter war. Nun schaltete sich Jana in das Gespräch ein.

„Haben sie die Besitztümer von Eliath mitgenommen? Es muss da einen Brief gegeben haben. Ist er noch hier?“

Toranna schüttelte den Kopf. „Ich bedaure Euch mitteilen zu müssen, dass Eliath seine letzte Ruhe im Krematorium oben fand. Wie alle, die keine Zeremonie bekommen und von denen wir nicht wissen, auf welche Ebene sie sollen, schickten wir ihn durch das Portal ins Feuer. Mit all seinen Besitztümern.“

„Wisst Ihr zufällig sonst noch etwas über ihn?“ erkundigte Lereia sich. „War irgendetwas seltsam?“

Die Adlatin überlegte kurz, dann fiel ihr etwas ein. „Er war wohl eines dieser Mordopfer der letzten Tage.“

Lereia nickte. „Ja, davon haben wir gehört. Wir wollen der Sache nachgehen. Gibt es noch weitere Mordopfer, die noch nicht verbrannt wurden?“

„Es gab mehrere“, erwiderte Toranna. „Aber alle wurden bereits verbrannt.“

„Wisst Ihr noch, wie viele es waren?“

„Ich glaube, sechs oder sieben.“ Die Adlatin blieb ruhig und unberührt hinsichtlich der Tatsache, dass in den letzten Tagen mehrere Mordopfer bei ihr abgeliefert worden waren. Andererseits war gewaltsamer Tod im Stock nichts Ungewöhnliches und die Staubmenschen auch nicht gerade für ihr Gefühlsbetontheit bekannt.

Lereia sah zu den anderen. „Habt ihr noch Fragen?“

Tatsächlich trat nun Kiyoshi einen Schritt vor. „Habt Ihr uns alles gesagt, was Ihr zu Eliath wisst?“ fragte er mit steinerner Miene.

„Ja, das ist alles“, antwortete Toranna.

Der junge Soldat blickte sie sehr ernst an. „Ihr lügt“, sagte er dann knapp.

Erstaunt drehte Naghûl den Kopf zu seinem Begleiter. Ob Kiyoshi einen wirklichen Verdacht hegte oder die Adlatin nur aus der Reserve locken wollte, war ihm nicht ganz klar. Doch es war ein interessanter Ansatzpunkt.

„Was?“ erwiderte diese verdutzt. „Nein. Nein, ich lüge nicht. Warum sollte ich lügen?“

„Das weiß ich nicht“, entgegnete Kiyoshi. „Aber ich hoffe, Ihr seid Euch bewusst, dass Ihr in große Schwierigkeiten geraten könnt, wenn Ihr damit nicht aufhört.“

Nun bildete sich eine Falte zwischen Torannas Brauen. „Was soll das? Ich mache nur meine Arbeit hier. Ich habe keine Zeit für so etwas.“

„Und ich mache die meine.“ Der junge Mann holte die Dienstmarke des Harmoniums hervor und zeigte sie ihr.

Nun schien die Adlatin ein wenig nervös zu werden, was Naghûl überraschte. Zum einen, weil Faktoti der Staubmenschen in der Regel nicht so schnell Gefühlsregungen zeigten, zum anderen, weil die Dienstmarke Kiyoshi sicher als einfachen Soldaten auswies. Der im Grunde im Hauptquartier eines anderen Bundes keine wirklichen Befugnisse hatte.

„Was ... was soll das?“, fragte Toranna. „Wollt Ihr mich verhaften, weil dieser Eliath tot ist? Das ist doch nicht meine Schuld.“

„Ich will Euch nicht wegen des Todes von Eliath verhaften“, erklärte der junge Soldat nüchtern. „Sondern wegen Widerstandes gegen das Harmonium. Dem Harmonium Informationen vorzuenthalten, ist ein schweres Vergehen.“

Wäre es im Vorfeld abgesprochen worden, hätte Naghûl Kiyoshis Vorgehen als viel zu offensiv abgewunken. Hätte darauf verwiesen, dass kein Adlat in der Leichenhalle sich auf diese Weise würde ins Bockshorn jagen lassen. Dass alle Faktoti Sigils wussten, dass ein einfacher Soldat ihnen in ihrem eigenen Hauptquartier nichts konnte. Und doch, hier standen sie und Toranna wurde nun sichtlich nervös. Was auch immer der Grund sein mochte, Naghûl beschloss, Kiyoshis Spiel zu unterstützen – in dem Bewusstsein, dass es für den Soldaten wohl gar kein Spiel war.

„Dieser Herr ist gnadenlos“, stellte er daher mit Seitenblick auf seinen Begleiter fest und nickte ernst.

„Ihr solltet auch an Euch selbst denken, Staubmensch“, machte nun auch Jana mit.

„Was?“ Die Adlatin wich etwas zurück. „Ihr habt sie wohl nicht alle. Ihr ... seid ja irre.“

„Letzte Chance“, erwiderte Kiyoshi knapp.

„Also, das … Hallo? Was sollte ich denn vorenthalten?“

Der Soldat nickte, fast zufrieden wollte es Naghûl erscheinen. „Ich verhafte Euch hiermit wegen Widerstandes gegen das Harmonium in mindestens drei Fällen. Ihr kommt mit in die Kaserne.“

Abwehrend hob Toranna die Hände. „He, langsam! Ähm, ich bin Faktotum der Staubmenschen, das geht doch so nicht.“

Das fiel ihr ziemlich spät ein, dachte Naghûl bei sich.

„Vier Fälle“, erklärte Kiyoshi hingegen.

„Ich ... das wird ein Nachspiel haben!“, stieß sie hervor. „Unser Bundmeister wird sich das nicht bieten lassen.“

„Fünf Fälle. Weitere Anklagepunkte werden Euch durch die Bruderschaft der Ordnung mitgeteilt werden.“

Nun schaltete sich Jana wieder ein, beschloss offenbar, die Rolle des guten Offiziers zu übernehmen, wie man beim Harmonium so schön sagte.

„Moment, darf ich vielleicht ...“ Ihr Tonfall klang begütigend. „Kiyoshi, bist du bereit, mir noch eine Chance zur Vermittlung zu geben? Angenommen, sie würde jetzt reden, bräuchten wir sie doch nicht mitzunehmen?“

Kiyoshi blickte die Quasi-Verhaftete mit ernstem, mitleidlosem Blick an. „Tut das. Letzte Chance.“

Jana sah zu Toranna. „Denkt an Euch selber. Überlegt nur, wie emotional Euch dieses Lügen werden lässt. Ihr entfernt Euch mit jeder Lüge weiter vom Wahren Tod.“

Naghûl nickte leicht. Kein schlechter Ansatz, zu versuchen, sie bei ihrer Bundphilosophie zu packen. Toranna starrte Jana kurz an, ihr Ausdruck war nicht wirklich zu deuten, dann nickte sie langsam.

„Möglicherweise habt Ihr Recht. Kann ich eine Vertretung holen, um mich bei meinen Pflichten zu vertreten? Auf mich würde eine Trauergesellschaft warten.“

„Schickt einen der Arbeiter“, wies Kiyoshi ihre Bitte ab. „Ihr seid nicht mehr abkömmlich.“

Nun verfinsterte sich Torannas Blick wieder. „Ihr habt kein Recht, das zu tun!“

„Das Harmonium durchaus“ korrigierte Naghûl.

Jana lächelte schmal und Toranna verschränkte ärgerlich die Arme.

„Also bitte ... Aber Ihr werdet mir nichts nachweisen können.“

„Ihr seid verhaftet“, beharrte Kiyoshi. „Das bedeutet so viel wie, Ihr geht nirgendwo hin mit Ausnahme der Kaserne, des Gerichtshofes und wenn Ihr etwas Pech habt, in die Hände der Gnadentöter. Ich habe hier drei Zeugen für den sechsten Widerstand gegen das Harmonium. Es läppert sich.“

Lereia schien nicht wirklich glücklich mit der ganzen Situation und wandte sich nun auch an Toranna.

„Redet doch bitte mit uns. Vielleicht lässt er Euch dann hier.“

„Und was soll ich sagen?“ entgegnete die Adlatin angespannt. „Ich meine, Eliath ist tot. Er kam hierher und wurde verbrannt. Das war's.“

„Nichts über seine Besitztümer?“ hakte Lereia nach. „Seine Herkunft? Was mit ihm los war? Irgendwas?“

„Ich weiß nicht, wer er war. Und nicht, wen er kannte. Er hatte auch nichts bei sich, außer diesem Brief und einer Zunderbüchse. Er war ein Verrückter, wie so viele im Stock.“

„Habt Ihr den Brief gelesen?“ erkundigte sich nun Naghûl.

Die Adlatin hob die Schultern. „Ja, ich habe ihn gelesen. Es war von einer Frau namens Derioch. Sie schrieb, Eliath solle wieder ins Torhaus kommen, es ginge ihm nicht gut.“

Kiyoshi setzte nun eine noch strengere Miene auf. „Was war so besonders an Eliath, dass Ihr es riskiert, das Innere des Gefängnisses zu sehen?“

„Nichts“, schnaubte Toranna, unterbrach sich dann aber. „Also, ich meine, wer weiß ... Immerhin haben diese anderen beiden ihn auch gesucht. Keine Ahnung, warum.“

„Was habt Ihr zu ihnen gesagt?“ wollte Naghûl wissen.

„Dasselbe wie Euch gerade. Ich meine, die Horkin hat sich auch so aufgeführt wie er.“ Toranna deutete auf Kiyoshi. „Sie haben ähnliche Fragen wie Ihr gestellt.“

„Tja, wir haben immerhin Retributus“, bemerkte der Tiefling. „Haben sie einen Grund für ihre Fragen genannt?“

„Nein“, erwiderte die Adlatin säuerlich. „Die Frau schien nicht gewohnt, Gründe zu nennen. Der Mann war höflicher, aber sie ließ ihn nicht viel reden.“

„Wundert mich nun nicht“, entgegnete Naghûl trocken.

Wenn die Frau wirklich von den Gnadentötern gewesen war, deckte sich dieses Verhalten so ziemlich mit seiner Vorstellung. Nicht, dass Kiyoshi gerade ein anderes Bild vermittelte, doch diente es im Moment einem Zweck.

„Wisst Ihr sonst noch irgendetwas?“ fragte Lereia weiter. „Über die Morde? Oder die anderen Opfer?“

„Die Morde? Nein, keine Ahnung. Ich weiß da nichts.“

Toranna wurde immer defensiver, ob das aber einen konkreten Grund hatte oder lediglich daran lag, wie sie sie in die Enge trieben, da war Naghûl nicht ganz sicher.

Doch auch Lereia schien Zweifel zu haben. „Ich werde das Gefühl nicht los, dass Ihr doch etwas mehr wisst“, stellte sie fest.

Kiyoshi schüttelte nun entschlossen den Kopf. „Es reicht. Ihr kommt mit. Jetzt.“

„Bitte“, erwiderte Toranna, nun eher wütend als nervös. „Das wird auch nichts ändern.“

„Sie verbirgt immer noch etwas“, befand der Soldat. „Wir gehen in die Kaserne, holen einen Verhörspezialisten und vielleicht den Bundmeister. Dann wird sie schon reden.“

Misstrauisch horchte Jana auf. „Einen Verhörspezialisten?“

„Was ist das?“ wollte Lereia wissen.

„Ich glaube, weniger religiöse Gemeinschaften sprechen auch von Folterknechten“, erklärte die Hexenmeisterin mit Blick auf Toranna.

„Folter?“ Erschrocken sah Lereia zu Naghûl. „Ich möchte nicht, dass diese Frau gefoltert wird!“

Er musterte sie aus dem Augenwinkel und erkannte, dass der Schreck in ihrem Gesicht echt schien. Möglicherweise war ihr tatsächlich nicht klar, dass es sich um einen Bluff handelte. Man konnte dem Harmonium sicher manches nachsagen, doch illegale Folter war seit Lady Julianas und Sarins Bundmeisterschaft gewiss keine Option. Andererseits war Lereia neu und unerfahren in Sigil und konnte derartige Situationen daher natürlich noch nicht sicher einordnen. Besänftigend legte der Tiefling ihr daher seine Hand auf den Arm und nickte ihr beruhigend zu. Sie schien zu verstehen, denn sie entspannte sich und erwiderte das Nicken unauffällig. Jana hingegen hatte schon von selbst begriffen und stieg nun wieder mit ein.

„Ihr macht einen Fehler“, erklärte sie der Adlatin und deutete zu Kiyoshi. „Ich kenne ihn. Er wird nicht ruhen, bis Ihr ihn überzeugt habt.“

„Dann wird er wohl nicht ruhen“, entgegnete Toranna gereizt. Die Drohung mit der Folter hatte sie weniger eingeschüchtert als erhofft. „Ich sage nichts mehr ohne einen Anwalt.“

„Wir werden sehen“, entgegnete der Soldat knapp und deutete zum Ausgang der Leichenhalle. „Weiter.“

Jana sah zu Kiyoshi, zuckte mit den Schultern und fiel etwas zurück, bis sie neben Lereia und Naghûl stand. „Sollten wir nicht ins Torhaus gehen, um möglicherweise dieses Pärchen noch zu erwischen?“

Da hatte sie einen Punkt, und Naghûl rief zu Kiyoshi nach vorne.

„Der Herr vom Harmonium.“

„Ja?“ Der junge Mann warf ihm nur einen sehr kurzen Blick zu, ehe er wieder seine Gefangene fixierte, die langsam vor ihm her Richtung Ausgang lief.

„Ich habe die Befürchtung, dass sie uns nur aufhalten will“, meinte Naghûl mit einem Nicken zu der Adlatin.

„Ich werde sie draußen einem Kameraden überantworten, sobald wir auf eine Harmoniumspatrouille stoßen“, erklärte Kiyoshi und wandte sich dann an Toranna. „Natürlich bekommt Euer Vorgesetzter einen ausführlichen Bericht, weshalb Ihr Eurer Aufgabe ferngeblieben seid, ohne für Ersatz zu sorgen. Kommt nun also.“

Die Adlatin schüttelte nur den Kopf und ging weiter, wirkte dabei durchaus angespannt. Naghûl wunderte sich immer mehr. Er hatte Kiyoshis Gebaren für einen guten Einschüchterungsversuch gehalten, jedoch nicht damit gerechnet, dass Toranna wirklich mitkommen würde. Ein Faktotum, der sich im eigenen Bund-Hauptquartier von einem einfachen Soldaten abführen ließ? Da stimmte doch etwas nicht … In diese Überlegungen versunken folgte er Kiyoshi und seiner Gefangenen hinaus. Draußen fragte der Soldat Jana nach dem kürzesten Weg aus dem Stock, und die Hexenmeisterin wies auf eine schmale Gasse gleich neben der Leichenhalle. Eigentlich hatten sie vor der Halle auf Sgillin warten wollen, doch nun schien es in der Tat vorrangig, erst einmal die verdächtige Adlatin der Staubmenschen in die Kaserne zu bringen. Der Tiefling zuckte zusammen, als links von ihm etwas knarzte ... laut und seltsam, als ob sich Metall bewegte. Er blickte auf, in der Erwartung, vielleicht einen schlecht geölten Modron vorbeikommen zu sehen. Doch die verlassene Gasse war im Moment vollkommen leer. Als das Geräusch erneut ertönte, wurde ihm klar, dass es von weiter oben kam. Der Tiefling sah hoch, und auch Lereia hob den Blick, versuchte offenbar, die Herkunft des Geräuschs genauer auszumachen. Dann deutete sie auf eine der Haustüren, und tatsächlich, das Knarzen wiederholte sich genau aus dieser Richtung. Naghûl legte den Kopf schief und näherte sich dem Eingang. Über dem Türstock befand sich als Verzierung eine metallene Fratze, wie man sie in Sigil häufig fand. Nicht das Antlitz der Dame, sondern ein monströses, scheusalhaftes Gesicht aus Messing. Doch dann erstarrte der Tiefling. Die Fratze oben im Türbogen bewegte ihre Augen ... dann den Mund ... Er verzog sich zu einem Grinsen.

„Ist das normal hier?“, fragte Lereia verunsichert, während Kiyoshi völlig gelassen blieb.

„Ah, ein Kami“, stellte er fest, als ob das ganz normal wäre.

Möglicherweise war es das ja in seiner Welt, dachte Naghûl bei sich. Er hatte schon so manche Geschichten über Geisterwesen in Reichen gehört, die Kiyoshis materieller Heimat ähnlich zu sein schienen. Doch hier in Sigil, so verrückt die Stadt auch oft war, erwachten diese Verzierungen für gewöhnlich nicht zum Leben.

Gleichermaßen verwirrt zeigte sich auch Toranna. „Kami ... was? Nein, das ist nicht normal!“

Die Fratze rollte nun mit den Augen und schien sich in der Gasse umzusehen, dann blieb ihr Blick an Kiyoshi hängen. Dieser sah interessiert zu dem metallenen Gesicht hoch. Dann bewegte sich der Mund der Fratze, öffnete sich ... und das Gesicht sprach, mit knarzender, uralt klingender Stimme und in einer Sprache, die Naghûl unbekannt war, die ihm nicht einmal ansatzweise vertraut vorkam. Jana ging fasziniert näher, die Fratze fest im Blick, während Kiyoshi aufmerksam lauschte. Und dann kamen tatsächlich ähnliche Worte auch über seine Lippen. Es schien, als ob er antwortete. Naghûl hielt den Atem an. Sprach der junge Mann da gerade die geheimnisvolle Alte Sprache? Die Augen der Fratze glühten kurz auf, dann redete sie weiter.

„Sagt bloß, die unterhalten sich?“ fragte Naghûl und sah von Kiyoshi zu der Fratze und wieder zurück.

„Sieht so aus“, erwiderte Lereia leise.

Kiyoshi blickte aufmerksam zu der Metallfratze, und aus seiner Kehle drangen seltsame, uralt klingende Laute. Dann redete die Fratze wieder und erneut glühten die Augen des Gesichtes auf. Ihr Tonfall klang nun irgendwie salbungsvoller. Lereia knetete ihre Finger, während sie die Szene beobachtete und Naghûl wagte kaum zu atmen. Kiyoshi schien etwas zu antworten, dann sprach die Fratze wieder. Einige letzte, geheimnisvolle Worte, ehe sie erstarrte und wieder so leblos erschien wie zuvor.

„Das war sehr interessant“, erklärte Kiyoshi sachlich, so als hätten sie nur nach dem Weg gefragt.

Naghûl schüttelte den Kopf über so viel Nüchternheit im Angesicht so spannender Ereignisse. „Das war ja der Wahnsinn!“ rief er aus. „Du musst uns gleich alles berichten!“

Jana nickte, wenngleich offenbar etwas weniger begeistert als Naghûl. Der Tiefling konnte kaum abwarten, was Kiyoshi zu berichten hatte, doch er wusste, neben der Staubmenschen-Adlatin war es ein eher ungeeignetes Gesprächsthema. Er sah zu Toranna … und stockte. Sie war fort. Verdammt! Der Vorfall mit der Metallfratze hatte sie zu sehr abgelenkt, und die Frau hatte ihre Chance genutzt. Doch er spürte noch ein arkanes Nachflimmern in der Luft. Sie hatte wohl einen Unsichtbarkeitszauber gewirkt. Sofort murmelte er eine magische Beschwörung, um Verborgenes erkennen zu können, und tatsächlich … ein ganzes Stück weiter sah er sie nun die Gasse entlang rennen.

„Da!“ Er deutete in die Richtung und folgte ihr eilig.

Die anderen taten es ihm gleich, und so hetzten sie die schmale Gasse entlang. Sie mündete in eine deutlich breitere Straße. Nein … keine Straße. Ein Ufer – oder was man hier in Sigil als solches bezeichnen mochte. Sie standen am Graben, jenem knapp zwanzig Meter breiten Fluss, der den Stock vom Unteren Bezirk trennte. Meist führte er so viel Schmutz, Müll und Unrat mit sich, dass der Gestank bis in die nahen Gassen drang. Alle paar Monate öffnete sich allerdings an seinem Ursprung ein Portal zum himmlischen Fluss Oceanus, der den Graben dann mit Tausenden Gallonen heiligen Wassers flutete. Dann war diese Gegend des Stocks plötzlich sauber, wohlriechend und ein beliebtes Ausflugsziel für die Einwohner Sigils. Viele Bewohner gingen im sauberen Wasser schwimmen und Eltern ließen ihre Kinder planschen. Scheusale und Untote hielten sich fern, um keinen Schaden von dem heiligen Wasser zu nehmen, fahrende Händler bauten ihre Stände am Ufer auf und ein himmlisches Glitzern lag in der Luft. Natürlich, all dies hielt nur wenige Wochen an, ehe die Wirkung des Weihwassers verflog, die Stockbewohner wieder ihren Müll in den Fluss warfen und der Graben so schmutzig und übelriechend war wie zuvor. Naghûl hatte sich oft gefragt, was ohne die regelmäßige Reinigung durch den Oceanus geschehen würde. Wahrscheinlich öffnete die Dame wohlweislich immer wieder das Tor, damit der Graben nicht zur Quelle von Seuchen, mutierten Monstern oder Schlimmerem wurde. An diesem Tag war die letzte Öffnung jedoch Monate her, und ein muffiger Geruch hing schwer über der gesamten Gegend. Zu allem Überfluss war Toranna, die einen guten Vorsprung gehabt hatte, nirgends zu sehen.

„Wo ist sie?“ murmelte Jana.

Lereia blieb stehen und schnupperte. Natürlich, die scharfen Sinne der Tigerin besaß sie auch in unverwandelter Form. Nicht ganz so ausgeprägt wie in ihrer Tiergestalt, doch um Längen besser als alle anderen in der Gruppe. Der üble Geruch des Grabens schien das Wittern allerdings zu erschweren, denn sie brauchte eine Weile. Dann aber deutete sie spitzewärts.

„Sie lief da entlang.“

Eilig spurtete sie los, die anderen dicht auf ihren Fersen. Sie passierten eine Gruppe schmutziger Straßenkinder, die mit einem toten Vogel spielten und näherten sich dabei dem Ufer. Dort lag ein kaputter Kahn im Schlamm, mit dem Bug nach oben. Weiter ging es, vorbei an einem Flecken besonders dicht wuchernder Klingenrebe, doch dann blieb Lereia stehen.

„Mist. Sie muss hier im Wasser weitergegangen sein. Ich habe die Witterung verloren.“

Sie hielten inne und sahen sich um, ob sie vielleicht doch noch einen Hinweis entdecken konnten – oder jemanden, den man nach der Flüchtenden hätte fragen können. Stattdessen drang von hinter ihnen ein verängstigter Schrei an ihre Ohren. Sie fuhren herum. Nicht weit entfernt, am Eingang zu einer anderen Gasse, standen mehrere bewaffnete Gestalten. Sie hatten eine ältere Frau umringt, die die Robe der Sammler trug und ängstlich vor ihnen zurückzuweichen versuchte. Doch sie stand mit dem Rücken zu einem der Häuser. Einer der Schläger zog gerade eine lange Klinge.

„He!“ rief Naghûl laut hinüber.

Sofort ruckten die Köpfe der Gestalten zu ihnen herum. Der Sinnsat stutzte kurz, denn drei davon waren ihm nicht unbekannt. Es handelte sich um den dunkelhaarigen Halbelfen und die zwei Tieflinge, die ihm und Lereia schon in der Blutgrube verdächtig erschienen waren. Zudem standen ein Gnoll und eine menschliche Frau bei ihnen. Fünf, dachte Naghûl bei sich. Sie waren zu viert, und der Haufen dort vorne wahrscheinlich überwiegend einfache Stockschläger. Er malte sich gute Chancen aus und näherte sich der Gruppe daher rasch.

„Stopp!“ rief die Menschenfrau warnend, und der männliche Tiefling hob die Klinge in Richtung der alten Sammlerin.

„Nicht weiter oder sie stirbt!“ drohte er.

Naghûl hob die Hände und spreizte die Finger für einen Zauber. „Weg von der Alten oder ich brate euch!“

Er sah kurz zu den anderen und bemerkte, dass Lereias blaue Augen sich türkis verfärbt hatten und ihre Pupillen katzenhaft schlitzförmig wurden. Auch Jana hob die Hände für einen Zauber, und Kiyoshi trat entschlossen einen Schritt vor.

„Im Namen des Harmoniums!“ rief er. „Auf die Seite oder es wird Euch die ganze Härte des Gesetzes treffen.“

„Das Harmonium?“ Die Tieflingsfrau spuckte aus und lachte höhnisch.

Nun erst drehte sich der dunkelhaarige Halbelf zu ihnen um, während die alte Frau weiter zurück wich und sich angstvoll an die Hauswand drückte.

„Weg mit euch“, knurrte der Halbelf. „Das geht euch nichts an!“

„Wenn Ihr der Frau etwas antun wollt, geht uns das sehr wohl etwas an!“ rief Lereia ihm zu.

Der Halbelf nickte den anderen zu, die sich daraufhin von der Sammlerin entfernten und der Gruppe näherten. Kiyoshi ging ohne zu zögern weiter nach vorne, bis er in vorderster Reihe stand.

„Im Namen des Harmoniums!“ wiederholte er. „Tretet zurück oder spürt die Macht des Gesetzes. Das hier geht uns sehr wohl etwas an.“

Er strich über ein Amulett an seinem Hals, und Naghûl spürte, wie es arkane Energie freisetzte, wahrscheinlich ein Stärkungszauber. Dann stürmten die beiden Tieflinge, der Gnoll und die Menschenfrau auf sie zu, und Naghûl entließ die magische Kraft, die bereits zwischen seinen Fingerspitzen gezuckt hatte. Mehrere leuchtende Geschosse rasten auf die Schläger zu und trafen den Gnoll, der schmerzerfüllt aufjaulte. Jana tat ein selbiges, nur dass ihr Ziel die Menschenfrau war. Kiyoshi stürzte nach vorn und stellte sich im Nahkampf dem Tiefling, der hart und entschlossen auf ihn eindrang. Während er einen zweiten Zauber heraufbeschwor, vernahm Naghûl hinter sich ein Geräusch, wie das Zerreißen von Stoff und das Knacken von Knochen. Dann ein Fauchen. Lereia … Sie musste sich verwandelt haben. Und tatsächlich sprang kurz darauf ein großer, weißer Tiger an ihm vorbei und stürzte sich auf die Tieflingsfrau. Die alte Sammlerin nutzte ihre Chance und flüchtete in eine der Gassen, doch wo war der Halbelf? Naghûl suchte mit den Augen die Häuserreihe nahe des Grabens ab und entdeckte ihn gerade noch, wie er in einer der anderen Straßen verschwand. Der Mistkerl hatte sich aus dem Staub gemacht. Doch immerhin hatte die alte Frau in eine andere Gasse fliehen können, somit hoffte Naghûl, dass sie sicher war. So entließ er einen weiteren Hagel magischer Geschosse aus seinen Fingerspitzen, was ein weiteres Aufjaulen des Gnolls zur Folge hatte. Noch ehe er ihn erreichte, sackte er auf dem Boden zusammen – ob bewusstlos oder tot, konnte der Sinnsat nicht sagen. Die Menschenfrau ging unter einem Zauber von Jana zu Boden, fast im selben Moment, in dem Kiyoshi den Tiefling niederstreckte – und dieser hauchte dabei unzweifelhaft sein Leben aus. Lereia hatte die Tieflingsfrau niedergeworfen und mit einem kraftvollen Prankenhieb betäubt, ihr aber nicht die Kehle heraus gerissen. Als der Kampf vorüber war, sah Naghûl sich sogleich nach den anderen um und stellte erleichtert fest, dass alle wohlauf waren. Lediglich Kiyoshi hatte einen Schnitt am Oberschenkel davongetragen. Doch die Wunde schien nicht allzu tief und Jana reichte ihm bereits einen Heiltrank. Der Sinnsat setzte schon an, etwas zu sagen, wurde jedoch von einem Geräusch unterbrochen. Ein Klatschen, das von einer der Hausecken her kam. Dort lehnte ein junger Mann mit heller Haut und blondem Haar, gekleidet in einen schönen dunkelroten Frack und gute Stiefel, zu edel als dass er aus dem Stock hätte stammen können. Doch seine Haut hatte einen alabasternen Schimmer und das Haar glänzte golden. Er musste ein Aasimar sein.

„Sehr gut gemacht!“ rief er herüber, während er noch ein paarmal applaudierte. „Ich bin beeindruckt.“

„Askorion“, murmelte Jana. Dann straffte sie sich und ging auf ihn zu. „Was tust du hier?“

Als klar war, dass Jana ihn kannte, entspannte Naghûl sich und trat neben seine Begleiterin. Der mit Askorion Angesprochene stieß sich von der Hauswand ab und kam etwas näher.

„Ein ganz schönes Aufsehen, das du hier machst“, stellte er mit einem Lächeln gen Jana fest.

„Entschuldige“, seufzte sie. „Ich glaube, das hier ist irgendwie ausgeufert. Was führt dich her?“

Als er nun noch näher kam, erkannte Naghûl, dass er zwei verschieden farbige Augen hatte: eines strahlend golden, eines leuchtend türkis, beide mit geschlitzten Pupillen wie bei einer Katze. Auch die Bewegungen des Mannes waren elegant und katzenhaft grazil.

„Ich habe dich gesucht“, gab er Jana zur Antwort. „Bundmeister Terrance möchte dich sprechen. Na ja, eher euch alle, nehme ich an.“

Er sah in die Runde, und Jana trat nervös von einem Fuß auf den anderen. „Jetzt sofort?“

Askorion nickte. „Ja, er sagte, es sei dringend.“

Lereia, die bislang ruhig zugehört hatte, fuhr nun mit einer Pranke über ihre Robe, die aufgrund ihrer plötzlichen Verwandlung zerfetzt am Boden lag. Sie fauchte leise. Fasziniert blickte Askorion zu der Tigerin.

„Es stimmt also.“

„Was stimmt?“ fragte Jana verwirrt.

„Dass sie eine Wertigerin ist. Eine weiße. Das ist sehr selten.“ Der Aasimar lächelte. „Wie edel, beeindruckend. Ambar war voller Begeisterung.“

Trotz seiner warmen Worte ließ Lereia den Kopf hängen. „Ich habe nun aber nichts mehr anzuziehen“, stellte sie fest. Glücklicherweise war sie auch in ihrer Tiergestalt der Handelssprache mächtig.

„Ich finde, du bist recht gut gekleidet“, tröstete Naghûl sie. „Bleib doch so.“

„Bei den Athar?“ meinte Lereia verunsichert. „Ich weiß nicht … Bin ich nicht etwas auffällig?“

Askorion lachte. „Wir haben nur etwas gegen Götter, nicht gegen Tiger.“ Er sah zu Kiyoshi, um sich zu versichern, dass der Heiltrank gewirkt hatte und der junge Soldat wieder weitgehend auf den Beinen war. Da dem so zu sein schien, nickte er. „Dann bringe ich euch mal zum Treffpunkt.“

„Treffpunkt?“ Jana horchte auf. „Wir gehen also nicht zum Tempel?“

Askorion schüttelte den Kopf. „Ihr solltet Euch nicht allzu oft in einer Gruppe in die jeweiligen Bundhauptquartiere begeben … Noch nicht zumindest.“

Er wollte sich schon zum Gehen anschicken, als sie ein Rufen hinter sich hörten …

Sgillin.

 

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gespielt am 8. März 2012

An diesem Abend war Sgillin's Spieler nicht da, daher musste der Halbelf unverhofft zu einem geheimen Treffen. Erst viel später, im Elysium, sollten die anderen erfahren, mit wem er sich getroffen hatte.

 

 

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