Gesalzene Fledermaus mit Koboldspfeffer, dazu Käfigbier; ein Schälchen frittierte Rattenschwänze für nur 3 Grüne Aufpreis.“

Speisekarte des Schlummernden Lamms

 


 

Erster Gildentag von Retributus, 126 HR

Als Terrance das Schlummernde Lamm erreichte, war es kurz nach Zenit und der Himmel fahlgrau und verhangen, wie so oft in Sigil. Er trug den langen, dunklen Mantel und den schwarzen, breitkrempigen Hut, wie immer, wenn er inkognito im Stock unterwegs war. Keiner der Vorbeigehenden erkannte ihn, und er genoss trotz der unerfreulichen Umgebung die Freiheiten, die dies mit sich brachte. Als Bundmeister Sigils war er so gut wie immer ein Fokus für das öffentliche Interesse, für Intrigen und Machtspiele inner- wie außerhalb des Bundes, für Anliegen wie auch Angriffe – meist zum Glück nur verbal – und für ehrlich gemeinte ebenso wie geheuchelte Ehrenbezeugungen. Sich als ganz gewöhnlicher Mann durch die Straßen bewegen zu können, an dem niemand Interesse hatte und von dem niemand etwas wollte, war ein kleiner persönlicher Luxus, den gerade diese am wenigsten luxuriöse Ecke Sigils ihm erlaubte. Meist kam er her, um sich um Kranke und Verletzte zu kümmern, folgend dem einen Prinzip seiner einstigen Göttin, dem er sich nach wie vor zutiefst verpflichtet fühlte: der Heilkunst. Doch ab und an hatte es auch andere Gründe, traf er sich mit Informanten des Bundes, die im Zerschmetterten Tempel lieber nicht gesehen werden sollten. So auch heute, wenngleich in diesem Fall er selber der Informant war. Er hatte wichtige Neuigkeiten für die Erwählten, die sich gerade auf der Suche nach Eliath im Stock befanden, und hoffte, dass Askorion sie rechtzeitig für das von ihm angestrebte Treffen hatte auftreiben können. Im Grunde hegte er daran jedoch keine Zweifel. Sein junger Sekretär war ein Meister darin, sich schnell und unauffällig an alle möglichen Orte begeben zu können. Zudem besaß er die wertvolle Fähigkeit, durch jemand anderes Augen zu blicken: durch die einer kleinen grauen Katze, deren Augen den seinen genau glichen: eines golden und eines türkis. Dies war eine eher ungewöhnliche Aasimar-Gabe – wie er selber sagte, ein Geschenk der Katzenherrin an einen ihrer Abkömmlinge in dritter Generation. Dies hatte den Effekt, dass viele Personen den Eindruck gewannen, Askorion könne sich an mehreren Orten gleichzeitig aufhalten – ein Talent, das jeder Bundmeister zu schätzen wissen würde. Die Taverne Zum Schlummernden Lamm befand sich in einem nur zweistöckigen, mit Schiefer gedeckten Steinhaus, das für Stock-Verhältnisse in recht gutem Zustand war. Er nutzte sie regelmäßig für seine Treffen im Stock, die Wirtin kannte ihn daher und wusste auch, wer er war. Als er eintrat, konnte er sie jedoch nicht hinter dem Tresen erblicken, sie war also wahrscheinlich hinten in der Küche. So ging er in den Gastraum, wo er auch tatsächlich Askorion und die Erwählten erblickte – wenngleich nicht ganz in der Gestalt oder Verfassung, wie er es erwartet oder erhofft hatte. Während Sgillin überwiegend denselben Anblick bot wie bei dem Treffen im Berronar's, erkannte er den Tiefling nur an dem roten Haar und den Hörnern wieder, da er statt seiner edlen Kleidung von vor wenigen Tagen nun eine raue, dunkelgraue Kutte trug. Was für verdeckte Ermittlungen im Stock sicher sinnvoll, jedoch für einen Sinnsaten ein eher ungewöhnlicher Anblick war. Noch ungewöhnlicher aber war der große, weiße Tiger, der neben den beiden Männern stand. Terrance stutzte kurz, erinnerte sich dann aber an Ambars begeisterte Erzählungen darüber, dass Lereia eine Wertigerin war. Es musste sich also um die junge Frau in verwandelter Form handeln. Neben ihr stand Sarins neuer Rekrut Kiyoshi, ebenfalls in einer dunklen Robe. Doch wo war Jana? Er musste seinen Blick ein zweites Mal durch den Raum schweifen lassen, ehe er sie entdeckte: Sie lag ausgestreckt auf einer der Holzbänke, blass, scheinbar schlafend … oder bewusstlos? Nun, das war ja ein interessanter Einstieg in das Treffen mit den Erwählten der neuen, kleinen Allianz, die das Schicksal ihm mit einer gehörigen Portion Ironie aufgedrückt hatte. Er trat nun ganz in den Raum und nahm dabei seinen Hut ab, damit die Anwesenden ihn besser erkennen konnten. Naghûl und Sgillin grüßten ihn höflich und verbeugten sich, und die weiße Tigerin neigte den Kopf in seine Richtung. Während er zurückgrüßte und gerade noch interessiert die verwandelte Lereia musterte, warf Kiyoshi sich vor ihm auf die Knie und berührte mit der Stirn den Boden. Terrance erinnerte sich natürlich sofort an die nämliche Szene, die ihn und Erin im Berronar's so amüsiert hatte. Aber weshalb bedachte der junge Soldat auch ihn mit diesem in Sigil unüblichen Gruß? Terrance seufzte innerlich. Er tat das doch wohl nicht am Ende bei allen Bundmeistern? Askorions Blick verriet Verwirrung, während Sgillin und Naghûl weniger erstaunt und leicht erheitert wirkten. Lereias Gefühle ließen sich in ihrer verwandelten Form schlecht deuten.

„Denkt Euch nichts, werter Bundmeister“, sagte der Halbelf mit einem Grinsen.

Terrance hob leicht die Brauen ob der Tatsache, dass sein Bundmeister-Kollege dem jungen Soldaten dieses Verhalten offenbar noch nicht ausgetrieben hatte.

„Ich bin es, Kiyoshi“, erklärte er freundlich. „Terrance - nicht Sarin. Was tut Ihr da also?“

Kiyoshi blickte nicht auf, als er antwortete. „Ich lasse Euch die nötige Ehrerbietung zukommen, ehrwürdiger Bundmeister Terrance-heika, Daimyo der Athar.“

Ah ja, genau wie befürchtet. Er ordnete offenbar alle Bundmeister als Fürsten ein und hielt eine entsprechende Begrüßung für angebracht. Der Hohepriester seufzte leise.

„Ich glaube nicht, dass das nötig ist“, erklärte er Kiyoshi geduldig. „Steht bitte auf.“

„Wie Ihr befehlt, ehrwürdiger Bundmeister Terrance-heika.“ Der junge Mann erhob sich, behielt aber den Blick zu Boden gesenkt.

Kopfschüttelnd fuhr Terrance sich durch das ergraute Haar. „Daimyo der Athar … mhm.“ Sein Blick wanderte noch einmal zu der weißen Tigerin und nun trat Naghûl einen Schritt vor.

„Das ist Lereia“, erklärte er. „Sie musste sich verwandeln und hat nun keine Kleidung mehr. Daher hielten wir es für besser, dass sie so bleibt.“

Eine war bewusstlos, eine hatte keine Kleidung mehr … Nun, das versprach ein interessanter Bericht zu werden. Freundlich nickte Terrance Lereia zu.

„Ja, ich dachte es mir schon. Ambar hat mir davon erzählt. Sehr beeindruckend, wirklich.“

„Danke, Bundmeister.“ Sie neigte leicht den Kopf, dann konnte Terrance sich endlich seiner hauptsächlichen Sorge seit seinem Eintreten widmen.

Er trat zu der auf der Bank liegenden Jana. „Was ist mit ihr?“

„Sie hatte wohl eine erneute Vision“, erklärte Lereia. „Und dieses Mal anscheinend etwas heftiger.“

„Könnt Ihr sie aufwecken, Bundmeister?“, fragte Askorion besorgt.

Terrance beugte sich zu Jana und legte ihr die Hand auf die Stirn, schloss dabei die Augen, um sich auf ihren Atem konzentrieren zu können. Langsam, aber gleichmäßig und ruhig, ebenso wie ihr Puls, den er daraufhin prüfte.

„Hm ...“ Er öffnete die Augen wieder und sah zu Askorion. „Ich bin nicht sicher, ob es ihr mehr nützen oder schaden würde, wenn ich sie wecke.“

„Aber es geht ihr doch gut?“, wollte der Aasimar wissen.

„Ich würde sagen, ja.“ Terrance nickte. „Sie muss sich an diese Gabe wohl erst noch gewöhnen.“ Er überprüfte, ob sie sicher auf der Bank lag, drehte sie dabei behutsam auf die Seite und trat dann zurück. „Lassen wir ihr ein wenig Zeit.“

Er wollte gerade Platz nehmen, als er Schritte hinter sich hörte. Toozer, die Tieflings-Wirtin des Schlummernden Lammes, war aus der Küche zurück gekommen und hatte hinter ihm die Gaststube betreten. Terrance dreht sich zu ihr um, um sie zu begrüßen, und obgleich sie ihn kannte, trat sie fast schüchtern näher. Sie knickste so tief, dass man es eher einen Kniefall nennen mochte, und ehe Terrance sie daran hindern konnte, nahm sie seine Hand und küsste sie. „Bundmeister, es ist eine große Ehre!“

Er seufzte. Vielleicht eine kleine Retourkutsche dafür, dass er sich gerade eben noch innerlich über Sarin und seinen neuen Rekruten amüsiert hatte. Ihre Begrüßung, wenngleich nicht ungewohnt, war ihm mehr als unangenehm, und er konnte die neugierigen Blicke vor allem von Sgillin und Lereia geradezu spüren.

Sanft zog er seine Hand zurück. „Bitte nicht. Das ist doch ...“

Toozer erhob sich und strich die Falten ihres Rockes glatt. „Ihr seid ein Bundmeister und ein Hohepriester, Herr!“

„Ja.“ Terrance befürchtete, dass sein Lächeln trotz besserer Bemühung ein wenig gequält wirkte. „Aber ich bin nicht einer von diesen Hohepriestern, das wisst Ihr doch. Nicht mehr.“

„Ein Hohepriester ist ein Hohepriester!“ entgegnete die Tieflingsfrau beharrlich. „Ihr habt große Macht. Und Ihr habt meine Enkelin geheilt! Ohne etwas dafür zu verlangen.“ Sie lächelte warm. „Wir wissen hier nur zu gut, wer Ihr seid und was Euch zusteht.“

Terrance seufzte. Er wusste aus Erfahrung, dass es eigentlich sinnlos war, mit der ihm sehr ergebenen, aber auch starrköpfigen Wirtin zu diskutieren. Daher nickte er nur begütigend. „Bringt uns doch einfach etwas zu Trinken, das genügt mir schon.“

Sie nickte und begab sich hinter den Tresen, wo sie begann, einige Krüge auf ein Tablett zu stellen. Terrance hingegen nahm nun endlich Platz und winkte den Erwählten, sich zu ihm an den Tisch zu setzen. Lereia saß aufrecht zwischen Sgillin und Naghûl, wobei der Kopf der Tigerin die der beiden Männer nun ein wenig überragte.

„Ich entschuldige mich für diese Auftritte“, bemerkte Terrance mit einem Blick in die Runde. „Ich nutze das Lamm ab und an für Treffen wie dieses hier. Sie ist eine gute Frau ... Aber ich scheine diese Patriarchensache aus meiner Vergangenheit einfach nicht loszuwerden.“

Askorion lächelte wissend. „Das sage ich Euch doch immer, Bundmeister. Ihr solltet es vielleicht auch nicht mehr versuchen.“

„Was denn für eine Patriarchensache?“ fragte Sgillin neugierig.

Ah ja, Materier, recht neu in Sigil, rief Terrance sich in Erinnerung. Erfrischend fast, dass sie so wenig über ihn wussten.

„Ehe ich meinen Glauben ... ablegte“, erklärte er, „und zu den Athar kam, war ich Hohepriester der Mishakal und Patriarch eines ihrer Tempel im Elysium. Hohepriestern gegenüber sind Umgangsformen üblich, die ...“ Er winkte ab. „Na, das habt Ihr ja eben gesehen. Und eigentlich möchte ich das nicht mehr, aber ...“

Er hob die Schultern und Sgillin lächelte spitzbübisch. „Ach, was man hat, hat man. Und ist ja nicht gerade das Schlechteste.“

Askorion grinste. „Genau.“

Der Bundmeister runzelte die Stirn. Sein Sekretär wusste nur zu gut, dass er diese Sache nicht lustig fand und sie ihm nicht angenehm war. Sein tadelnder Blick bedurfte daher keiner weiteren Erklärung, und der junge Aasimar räusperte sich schuldbewusst.

„Ich werde nur selten von Damen derartig begrüßt“, setzte hingegen der Halbelf, offenbar arglos, nach.

Dies entlockte Terrance nun doch ein amüsiertes Schmunzeln. „Tja, so etwas muss man sich hart erarbeiten.“

„Genau“, meinte Sgillin. „Und dann sollte man es genießen.“

Auf diese Bemerkung hin musste Askorion lachen. „Das zu genießen liegt nicht in unseres Bundmeisters Natur. Ich sage ihm immer, es ist einfach eine hohe Respektsbezeugung.“

„Die mich einfach zu sehr an meine Vergangenheit erinnert, Askorion“, bemerkte Terrance tadelnd. „Das hatten wir doch schon.“

Mit einem abwehrenden Lächeln hob der Aasimar die Hände. „Ich bin schon still.“

„Danke.“ Der Bundmeister bedachte ihn mit einem abschließenden, strengen Blick, setzte dann aber ein Schmunzeln nach, um Askorion zu beruhigen, dass er nicht wirklich verstimmt war. Er sah kurz zu Jana, doch sie lang nach wie vor still auf der Bank. Da ihr Atem gleichmäßig ging und ihre Augen unter den Lidern nicht zuckten, beschloss er, ihr noch etwas Zeit zum Ausruhen zu geben. Dann blickte er wieder in die Runde. „So, warum ich nun eigentlich hier bin … Es geht um Eliath.“

„Da konnten wir auch etwas erfahren“, bemerkte Lereia. „Aber Ihr bitte zuerst.“

„Habt Ihr ihn gesprochen?“ wollte Terrance wissen.

Bedauernd schüttelte die Tigerin den Kopf. „Nein, er ist tot.“

Skeptisch runzelte Terrance die Stirn. Was erzählte sie da?

„Wir haben es von einer Gruppe Sammler erfahren“, erklärte die Tigerin. „Wir fanden einen Leichnam, und die Sammler, die kurz darauf zu uns stießen, erzählten von zwei weiteren Toten, darunter auch Eliath. Toranna von den Staubmenschen bestätigte dies.“

„Aber Eliath ist nicht tot“, erwiderte Terrance ernst.

„Was?“

Trotz fehlender humanoider Mimik konnte er Lereia ihren Schrecken anmerken. Auch Sgillin und Naghûl machten große Augen. Kiyoshi hingegen räusperte sich.

„Ja?“ forderte Terrance ihn auf, zu sprechen.

„Ich hatte darauf hingewiesen, dass Toranna etwas vor uns verbirgt“, erklärte der junge Mann. „Wir wollten sie auch befragen, doch sie entkam.“

Der Bundmeister nickte ernst. „Aha ... Ja, offensichtlich wurde etwas verborgen. Ganz sicher hat erst heute Vormittag Caylean, einer unserer Athaons, Eliath in den Schwarzen Segeln gesehen. In Gesellschaft einiger Schicksalsgardisten.“

„Verdammt“, zischte Naghûl und stellte geräuschvoll seinen Krug auf dem Tisch ab.

„Ja“, stimmte Terrance zu. „Das ist dumm gelaufen.“

„Aber das würde heißen, dass auch die Sammler uns belogen haben?“ fragte Lereia und hielt dann inne. „Oder es nicht besser wussten ... Was bedeutet das für uns?“

„Dass noch andere Bünde im Spiel sind“, erwiderte Naghûl.

Kiyoshi lehnte sich zurück. „Also haben wir damit den Beweis“, stellte er zufrieden fest. „Dass sie uns belogen hat. Sie hat behauptet, sie hätte Eliath selbst verbrannt. Dafür sollte sie verhaftet und verurteilt werden.“

„Wahrscheinlich wurde sie bedroht“, schwächte Sgillin ab.

Terrance wiegte nachdenklich den Kopf. „Wer weiß? Die Schicksalsgarde und die Staubmenschen können ganz gut miteinander. Aber wir wissen zu wenig, um ein Urteil zu fällen.“ Dann blickte er zu Naghûl. „ Andere Bünde? Wer noch?“

„Also, auf jeden Fall scheinen die Gnadentöter mit im Spiel zu sein“, erklärte der Tiefling. „Wahrscheinlich kooperierend mit den Herrschnern oder dem Prädestinat.“

„Inwiefern?“, hakte Terrance skeptisch nach. „Ihr meint sie arbeiten mit den Staubmenschen oder den Sinkern zusammen?“

„Eher als dritte Partei, würde ich sagen. Laut dieser Toranna hat sie die beiden ebenso abgewimmelt. Ich glaube nicht, dass sie mit den Sinkern kooperieren.“

Der Bundmeister nickte. „Das würde mich auch wundern, sowohl von Mallin als auch von Hashkar. Der Herzog ... na ja, dem traue ich manches zu, aber dennoch ...“ Er dachte kurz nach. „Berichtet mir doch bitte in Kürze, was Ihr herausfinden konntet.“

Die Männer sahen prompt zu Lereia, und Terrance musste ein wenig schmunzeln. Wie schon bei dem Treffen im Berronar's schien es die Aufgabe der jungen Frau, eine Zusammenfassung des Wesentlichen zu geben. Sie dies allerdings in der Gestalt einer weißen Tigerin tun zu sehen, war ein Erlebnis für sich. Lereia berichtete von den Ermittlungen bei den Trostlosen und in der Blutgrube, von dem dort anwesenden Halbelfen, der ihnen seltsam erschienen war. Von dem Verrückten, den sie kurz darauf verfolgt und dann tot aufgefunden hatten. Von den Berichten der Sammler über Verden und Eliath. Von den Ermittlungen bei den Staubmenschen bis hin zu dem Kampf gegen die Schläger und den Halbelfen, als diese eine Sammlerin bedroht hatten. Von der sprechenden Fratze und von dem Brief einer gewissen Derioch an Eliath. Von Naghûls Zeichen und den Xaositekten, von Janas Vision und den Seelen-Signaturen, die nun stets bei Personen spüren konnte. Terrance hörte sich alles an und schüttelte langsam den Kopf.

„Ihr habt ja einiges erlebt ... Und nicht alles macht für mich Sinn, aber wer weiß, was Ihr noch herausfindet.“ Dann sah er zu Kiyoshi, um eine Frage zu stellen, die ihn schon seit der ersten Erwähnung des Vorfalls beschäftigte. „Was sagte diese Fratze?“

Der junge Mann straffte sich, ganz so als würde er Haltung annehmen. „Sie sagte, dass wir die Hüterin und den Verkünder suchen müssten, ehrwürdiger Bundmeister Terrance-heika. Sie sagte außerdem: Findet sie unter den Himmeln des Himmels. Findet sie, wo das Land in den Wellen nur ist wie die Sterne am Himmel. Findet sie, wo Tränen wie Juwelen sind.

„Das sagte sie?“ Der Bundmeister seufzte. „Das sind ja wieder äußerst genaue Anweisungen.“

„Hm“, machte Sgillin nachdenklich. „Das klingt irgendwie nach dem Elysium, oder?“

Die rasche, intuitive Assoziation eines Materiers dieser rätselhaften Worte mit Terrances Heimatebene überraschte ihn. Der Halbelf schien ein gutes Gespür zu haben.

„Ehrlich gesagt, das war auch mein erster Gedanke“, erklärte der Hohepriester.

„Hüterin und Verkünder ...“, grübelte Lereia.

Askorion hob die Schultern. „Das könnten zwei weitere Erwählte sein, oder?“

„Es klingt so“, stimmte Lereia zu. „Ich überlege gerade, ob es zu den Hinweisen passt, die wir bisher kennen. Vielleicht zu Wächter und Prophet, aber zu den Fähigkeiten eine Verbindung herzustellen, ist mit nur einer Bezeichnung schwierig.“

Sgillin seufzte. „Diejenigen, die sich diese Prophezeiung ausgedacht haben, hatten wahrscheinlich einen diebischen Spaß dabei. Aber ein Rätsel kann ich zumindest lösen. - Ich weiß, wer für die Morde im Stock verantwortlich ist.“

„Was?!“ Lereias Kopf ruckte zu ihm herum, und auch Naghûl und Kiyoshi wirkten überrascht. „Du ... das fällt dir jetzt erst ein?“

Die Tigerin klang einigermaßen schockiert, was Terrance aufhorchen ließ. Interessant. Es wurde offenbar nicht jedes Wissen zu allen Zeitpunkten innerhalb der Gruppe geteilt. Was auch immer das bedeuten mochte.

„Ich wollte es ja vorhin schon sagen“, beschwichtigte Sgillin. „Aber da hieß es, wir warten auf den Bundmeister. Und dann habe ich euch erstmal erzählen lassen, höflich wie ich bin.“

„Da hat er recht“, kam ihm Naghûl zu Hilfe, und auch Kiyoshi nickte zustimmend.

Lereia nickte und schnaufte durch. So ganz schien ihr die Sache nach wie vor nicht zu gefallen, doch sie ließ es fürs erste dabei bewenden.

„Also ...“, fuhr Sgillin fort. „Es ist der Halbelf, der zusammen mit den Schlägern laut euren Erzählungen die Sammlerin bedroht hat.“

„Den wir auch bereits in der Blutgrube gesehen haben?“ fragte Lereia nach.

Sgillin nickte. „Ja. Also, es ist zumindest sehr wahrscheinlich, dass er es ist.“

Terrance beugte sich leicht vor und musterte ihn forschend. „Woher wisst Ihr das?“

„Ich habe es von jemandem erfahren, der beobachtet hat, wie dieser Halbelf zusammen mit zwei Schlägern einen Fusler ermordet hat. Vielleicht diesen Verden.“

Sgillins leicht ausweichende Antwort machte Terrance erst recht neugierig. „Wer ist dieser jemand, wenn ich fragen darf.“

„Ein vertrauenswürdiger Informant.“

Natürlich. Wie man jede Quelle bezeichnete, die man auf keinen Fall nennen wollte. Wer genau nun hinter diesen Informationen stecken mochte, ob es eine harmlose, kleine Geheimnistuerei oder etwas Dunkleres war, vermochte Terrance in diesem Moment nicht zu ergründen. Doch die Sache gefiel ihm nicht wirklich.

„Sgillin, hört zu“, sagte er daher ruhig, aber ernst. „Ihr gehört zu keinem Bund und seid daher keinem Bundmeister Rechenschaft schuldig, das mag sein. Auf Dauer wird es aber weder Euch noch den Erwählten insgesamt gut tun, wenn Ihr uns nicht alles erzählt, was Ihr wisst. Für den Anfang mögt Ihr wissen, was Ihr tut, aber für die Zukunft wird das keine Option sein.“

Der Halbelf nickte. „Da pflichte ich Euch bei, werter Bundmeister. Und würden wir jetzt im Bundhaus eines der Bünde sitzen und nicht in einer Spelunke mitten im Stock, würde ich auch mehr über diesen Informanten erzählen. Aber hier ist es mir ehrlich gesagt zu unsicher, und ich möchte nicht, dass diese Quelle als nächstes irgendwo tot im Stock herumliegt.“

Er wirkte aufrichtig, das musste Terrance ihm lassen. Daher ließ er es fürs erste gut sein.

„Das rechne ich Euch durchaus an. Und beim nächsten gemeinsamen Treffen könnt Ihr dann alles erzählen.“

„Das werde ich auch“, versprach Sgillin. „Aber was ich noch sagen wollte … Nachdem der Halbelf den Fusler mittels Magie getötet hatte, wies er die Schläger an, die Leiche an einen Ort zu bringen, an dem man den Toten finden sollte. Ich nehme an, ein Ort mit etwas mehr Publikumsverkehr. Der Halbelf verschwand danach in Richtung Tollhausdistrikt. Leider konnte mein Informant nicht verstehen, welche Silben der Halbelf während des Zauberns sprach noch sich daran erinnern, welche Gesten er benutzte.“

„Schläger ...“, murmelte Lereia. „Das würde erklären, warum sie uns einmal aufhielten und warum er mit ihnen zusammen die Sammlerin bedrohte.“

„Ja“, stimmte Terrance zu. „Sie wäre wohl ein Opfer geworden.“

„Vielleicht können wir sie finden“, überlegte die Tigerin. „Sie ist eventuell eine von uns. Und wir sollten auch diese Derioch vom Torhaus befragen. Der Brief an Eliath war vielleicht gefälscht, aber es kann auch sein, dass sie uns mehr über ihn erzählen kann.“

Kiyoshi nickte dazu, aber es schien ihn noch etwas anderes zu beschäftigen. „Verzeiht meine Unwissenheit, ehrwürdiger Bundmeister Terrance-heika, aber wie würdet Ihr die Priorität der beiden Personen einschätzen, von welchen die Metallfratze berichtete?“

Das war in der Tat eine gute Frage. Diese Sache schien eine wichtige Rolle für die nebulöse Prophezeiung zu spielen. „Diese Priorität würde ich ebenfalls als hoch einschätzen“, erwiderte der Bundmeister daher. „Ich möchte mich allerdings noch mit Ambar, Sarin und Lady Erin dazu besprechen. Aber wenn plötzlich ein Bestandteil der Sigiler Architektur lebendig wird und in der Alten Sprache zu Euch spricht, dann dürfte das schon ziemlich wichtig sein.“

„Stimmt schon“, warf Sgillin ein. „Ich halte das Risiko aber für etwas geringer, dass diese beiden im Elysium gemeuchelt werden - sofern sie dort sind. Bei Eliath und der Sammlerin sieht das anders aus.“

Damit hatte der Halbelf zweifelsfrei recht, und Terrance nickte.

„Ja, daher solltet Ihr erst den ursprünglichen Auftrag zu Ende bringen.“

„Die einzige Spur zu Eliath war der Brief von einer gewissen Derioch“, meinte Lereia. „Vielleicht hatte ja ein anderer Mann seinen Brief bei sich, deshalb dachten die Sammler er wäre Eliath.“

„Ich würde Euch ans Herz legen, in die Schwarzen Segel zu gehen, die Taverne, in der Caylean ihn gesehen hat. Und mit ihm zu reden. Aber seid vorsichtig, es ist eine Art Stammkneipe der Sinker.“ Er sah zu Kiyoshi. „Ihr solltet dort also lieber nicht offiziell als Harmoniumsoldat auftreten.“

In diesem Moment murmelte die auf der Bank liegende Jana leise, und Terrance stand sofort auf und ging zu ihr hinüber. Er kniete sich neben die Bank und berührte sacht ihren Arm.

„Kind“, sagte er leise und beruhigend.

Sie öffnete die Augen und blickte ihn verwirrt an. „Habe ich geschlafen?“ Sie machte Anstalten, aufzustehen, stemmte sich mühsam hoch und setzte sich schließlich auf die Bank. „Ich brauche noch einen Moment bis ich ... stehen kann, Bundmeister.“

Terrance half ihr beim Aufrichten und hielt sacht ihre Schulter. „Bleibt sitzen“, entgegnete er freundlich. „Ihr wart eine Weile weg, das war offenbar eine heftige Vision. Zumindest haben wir das vermutet.“

„Danke“, murmelte Jana. „Ich glaube ... also, ich habe von Bundmeister Sarin geträumt. Wie lange war ich ... wie lange seid Ihr schon hier, Bundmeister?“

„Na ja, eine Weile“, erwiderte er mit einem Lächeln. „Ich wollte Euch nicht wecken, weil ich fürchtete, dass es mehr schadet als nutzt.“

Naghûl nickte. „Die Ruhe scheinst du auch nötig gehabt zu haben.“

„Eine Weile?“ Jana wirkte sichtlich erschüttert. „Dann kam es mir nicht nur wie eine Ewigkeit vor. … Also, ich habe Bundmeister Sarin gesehen, aber er war jünger.“

Terrance nahm neben ihr auf der Bank Platz. „Ihr habt etwas Vergangenes gesehen?“

„Ja, falls so etwas möglich ist. Ich bin mir sicher, er war jünger. Vielleicht zehn Zyklen?“

„Das war also, bevor er Bundmeister war ...“ folgerte Terrance. „Interessant. Was genau habt Ihr gesehen?“

„Er trug ein Rangabzeichen, das ich nicht kenne“, beschrieb Jana ihre Vision. „Und es waren andere da, drei Leute. Einen kannte ich, er gehört auch zum Harmonium. Außerdem ein Halbelf und ein Celest mit weißen Schwingen und blauen Augen. Bundmeister Sarin stritt sich mit ihm ... oder sie redeten erhitzt. Ich weiß aber nicht, worüber, denn sie sprachen Celestisch. Die anderen beiden haben erst nur zugehört und sich dann auch beteiligt. Sie alle wollten den Celesten zu etwas bewegen, glaube ich. Der wollte jedoch nicht und ist einfach gegangen. Die anderen haben dann weiter geredet. Ich …“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich glaube nicht, dass es große Bedeutung hat.“

Terrance seufzte leise. Sie war also immer noch an dem Punkt, ihre Gabe für zufällig oder belanglos zu halten. Nach der Vision über das geheimnisvolle Haus und dann das schwer einzuordnende Bild des Skelettes mit dem Baby nun eine Vision aus Sarins Vergangenheit. Es war gewiss schwer, sich einen Reim darauf zu machen. Doch es gefiel ihm nicht, dass Jana dies als unwichtig abtun wollte. Es erweckte den Eindruck, dass sie mit aller Macht zu verdrängen versuchte, was sie nicht begriff, und das konnte nicht gut sein. Askorion kam ihm zu Hilfe.

„Alles, was du siehst, hat Bedeutung“, sagte er lächelnd und aufmunternd zu Jana. „Da bin ich sicher.“

Terrance nickte dem Aasimar dankend zu und sah dann wieder zu der Hexenmeisterin „Wer waren die beiden anderen?“ fragte Terrance nach. „Konntet Ihr sie einordnen?“

„Also, einen kenne ich. Ich habe ihn in der Kaserne gesehen, als ich meine erste Vision halte.“

Der Bundmeister erinnerte sich lebhaft an die nämliche Szene in Sarins Büro. „Ach, Tonat Shar? Ja, er war auch dabei vor ein paar Tagen.“

„Der Halbelf …“, überlegte Askorion. „Hatte er langes, schwarzes Haar? Und war er ziemlich attraktiv? Du weißt schon, so wie ich, nur in dunkel.“

Er zwinkerte Jana scherzhaft zu und sie musste kurz grinsen.

„Hm ... Ja, langes, dunkles Haar und ziemlich attraktiv.“

„Vielleicht ist das ja unser Verdächtiger“, mutmaßte Sgillin, doch Askorion schüttelte den Kopf.

„Der Halbelf war Killeen Caine, ganz sicher.“

Da Jana Sarin und Tonat Shar gesehen hatte, lag diese Vermutung sehr nahe.

„Ja“, stimmte Terrance daher zu. „Das denke ich auch.“

Auch Naghûl nickte beipflichtend, während Jana fragend den Kopf schief legte.

„Killeen Caine?“

„Der zweite Legat des Harmoniums, neben Tonat Shar“, erklärte Naghûl. „Er kommandiert die Truppen auf Arcadia.“

„Also nicht der Verdächtige?“ fragte Lereia.

Terrance lächelte. „Ich wage mit Sicherheit zu sagen, dass Legat Caine keine Sammler im Stock überfallen lässt. Nein, Euer Mann muss ein anderer Halbelf sein.“

Sgillin schien nicht ganz überzeugt. „Kommandiert er die Truppen immer noch?“, wollte er wissen.

„Ja. Ab und an ist er auch in Sigil, aber öfter in Melodia, der Hauptstadt des Harmoniums auf Arcadia.“

„Ist er Magier oder Hexer?“ bohrte Sgillin nach.

Terrance ahnte, wo das hinführen würde. Er hoffte bei sich, dass die Erwählten, allen voran Sgillin, sich nicht in diese Idee verrannten. Das nächste Treffen mit Sarin konnte sonst lustig werden.

„Ein Magier“, gab er dennoch zur Auskunft. „Ein ziemlich mächtiger.“

„Hm.“ Sgillin runzelte die Stirn. „Der Halbelf, von dem mir berichtet wurde, ist auch ein Magier.“

Genau wie befürchtet.

„Nun ja, es mag einige halbelfische Magier geben“, schwächte der Bundmeister daher ab, und auch Naghûl schüttelte den Kopf.

„Sgillin, ich glaube nicht, dass der Legat durch den Stock stöbert und Verrückte ermordet. Wenn dem so wäre, dann wäre die Entropie näher als uns lieb ist.“

„Ich sage ja nicht, dass er es ist“, meinte Sgillin. „Aber bis jetzt haben wir keinen Gegenbeweis, dass er es nicht ist.“

Terrance atmete tief durch, doch er wurde von Jana unterbrochen, ehe er etwas darauf erwidern konnte, und war dankbar dafür. Wobei auch ihre Frage wieder in eine dieser Richtungen ging ...

„Glaubt Ihr wirklich, dass diese Träume eine tiefere Bedeutung haben?“

„Ja, Jana“, erklärte er geduldig. „Natürlich denke ich, dass das tiefere Bedeutung hat. Denkt Ihr wirklich, Ihr habt diese Gabe plötzlich völlig zufällig erhalten?“

Sie nickte, wobei sie nicht besonders glücklich über seine Antwort wirkte. „Und falls ja, sollten wir Bundmeister Sarin nach dem Inhalt des Gespräches fragen? Also, können wir damit zu ihm gehen?“

Es war interessant, dass Jana den Bundmeister des Harmoniums in ihren Visionen sah, und das in seiner Vergangenheit, vor seiner Bundmeisterschaft. Das musste etwas zu bedeuten haben, und man durfte es Sarin gewiss nicht vorenthalten. Zudem war auch sein neuer Rekrut anwesend, somit würde der Paladin es ohnehin erfahren. Nicht, dass Terrance in diesem Fall etwas vor ihm hätte verheimlichen wollen. Sarin schien das Harmonium in eine gute Richtung zu lenken, und der Bundmeister der Athar hatte eine höhere Meinung von ihm als er jemals offen zugeben würde. Er nickte daher.

„Ja, wenn Ihr Sarin in Euren Visionen seht, sollten wir darüber wohl mit ihm reden. Aber wenn wir ansprechen möchten, das wir Legat Caine verdächtigen, ein Mörder zu sein, sollten wir sehr diplomatisch vorgehen.“

Er warf dabei einen Blick zu Sgillin, der unbedarft mit den Schultern zuckte.

„Ich sehe das relativ neutral. Ein schwarzhaariger, magisch begabter Halbelf ist höchstwahrscheinlich der Stock-Mörder. Und Jana hat von einem schwarzhaarigen Halbelfen geträumt.“

Terrance unterdrückte ein Schmunzeln, als er sich unwillkürlich vorstellen musste, wie neutral Sarin das sehen würde. Naghûl schien seine Gedanken zu teilen und wirkte nun etwas angestrengt.

„Sgillin, es gibt unzählige schwarzhaarige, magiebegabte Halbelfen im Multiversum.“

„Ja, das ist mir klar“, erwiderte dieser. „Ich sag ja nur, dass ich nichts ausschließe.“

Terrance beschloss, dieses Thema abzubrechen. „Wenn Ihr alle ihn gesehen habt, werdet Ihr anhand eines Bildes von Legat Caine sicher sagen können, ob er es war oder nicht.“

Naghûl nickte. „Wir können sicher auch einen Bericht anfordern, was der Legat in den letzten Wochen so getrieben hat.“

Er grinste etwas, woraufhin Sgillin nur abwinkte. Terrance wandte sich nun wieder an Jana, denn es gab eine Frage zu dieser Vision, die ihn noch beschäftigte.

„Der Celest. Hatte er goldenes Haar wie Askorion und trug er eine Rüstung im empyreischen Stil?“

„Empyreischer Stil?“ Überfordert blickte die junge Frau ihn an. „Ich bin mir ... also, ich kenne mich mit Rüstungen nicht aus. Er war makellos schön, mit heller Haut, weißen Schwingen und saphirblauen Augen. Aber er wirkte auch merkwürdig einschüchternd und kühl.“

„Ein richtiger Engel eben“, stellte Naghûl fest. „Wunderschön anzusehen, aber irgendwie angsteinflößend und man will es vielleicht doch nicht mit ihnen zu tun haben.“

Terrance hörte sich ihre Beschreibung an und runzelte nachdenklich die Brauen. Das klang ganz nach Lord Valiant. Wenn Jana ihn in ihren Visionen sah und er mit der Prophezeiung zu tun hatte, war das alles andere als erfreulich. Die Hexenmeisterin sah unsicher in die Runde.

„Wisst ihr, um wen es sich handelt, oder habt ihr einen Verdacht?“

„Ich kenne nicht einmal diesen Tonat Shar“, erwiderte Lereia seufzend.

Ein kurzer Seitenblick zu Naghûl verriet Terrance, dass der Tiefling wohl eine Ahnung hatte, sie aber für sich behielt. Besser so, man musste ja nicht gleich die Pferde scheu machen, so lange es keine Beweise gab.

„Bundmeister Sarin wird es doch wissen“, meinte Jana.

„Mit Sicherheit weiß er das“, erwiderte der Hohepriester. „Und ich nehme an, dass er Euch sogar genau sagen kann, was für ein Gespräch Ihr da gesehen habt. Ich glaube, dazu sollte er sich selber äußern. Seine Vergangenheit hat wohl irgendwie mit unserer Gegenwart oder auch Zukunft zu tun.“

„Das finde ich beunruhigend“, murmelte Askorion, wenn auch mehr zu sich selbst.

„Ich würde auch gerne etwas über meine Fähigkeit berichten“, warf Lereia ein. „Ich weiß nicht, ob es wichtig ist.“

Anders als bei Jana schien diese Bemerkung nicht grundlegender Skepsis, sondern einer höflichen Zurückhaltung zu entspringen.

„Alles, was Eure Fähigkeiten angeht, scheint wichtig zu sein“, ermutigte Terrance sie. „Bitte.“

„Es geht um Euch, Bundmeister. Wie Ihr ja wisst, nehme ich an Personen gewisse Signaturen wahr, wie ich sie nenne. Bei dem Zebra damals war es zum Beispiel trockenes Gras und warmer Sand. Aber bei Euch ist die Wahrnehmung dieser Signatur sehr komplex, detaillierter als bei den meisten anderen. Ähnlich wie bei Ambar. Bei der Wirtin hier ist es beispielsweise einfach Salbei. Aber bei Euch ist es vielschichtiger. Ich weiß nicht, vielleicht liegt es an den Bundmeistern oder daran, wenn jemand viel erlebt hat im Leben.“

Er hörte nun zum ersten Mal in dieser Ausführlichkeit von Lereias Gabe, und es klang gleichermaßen geheimnisvoll wie faszinierend. Und weckte in ihm den Wunsch, Genaueres zu erfahren.

„Darf ich fragen, was genau Ihr wahrgenommen habt?“

„Bei Euch sind es viele Himmelstränen am Meeresufer, hingestreut in den weißen Sand und ganz sanft vom Wasser überspült. Hat das eine bestimmte Bedeutung für Euch?“

Terrance war angenehm berührt von dem Bild, mit dem Lereia ihm seine seelische Signatur beschrieb – etwas, von dem er nie zuvor gehört hatte, und das zugleich mysteriös und verlockend klang.

„Nun ja, ich stamme aus dem Elysium, und in meiner Jugend war ich natürlich auch oft auf Thalasia, also am Meer. In meinem Tempel damals, als ich noch Hohepriester der Mishakal war, hatten wir viel mit Himmelstränen geschmückt, Statuen, Mosaike ...“

Lereia nickte, als würden seine Worte Sinn für sie ergeben. „Bei Ambar waren es warmes Gold und frisches Birkenlaub an einem Frühlingstag“, erklärte sie dann.

„Ja.“ Er musste lächeln. „Das passt zu Ambar.“

„Was nehmt Ihr bei mir wahr?“ fragte Askorion neugierig.

Die Tigerin wandte ihm den Kopf zu. „Bei Euch ist es Sternenschein in dunkler Nacht.“

Ein erfreutes Lächeln erschien auf den Lippen des Aasimar, und seine türkis-goldenen Augen schienen ein wenig heller zu strahlen. „Das klingt schön. Das gefällt mir, denke ich.“

„Was hast du eigentlich uns wahrgenommen?“ wollte Sgillin wissen.

Lereia machte eine kurze Pause, ehe sie antwortete. „Bei euch nehme ich nichts wahr.“

„Was?!“ Der Halbelf riss die Augen auf. „Vom Stahlgießer-Gnom bis zum Bundmeister kannst du bei allen was wahrnehmen, nur bei uns nicht? Wenn das mal nicht merkwürdig ist.“

Das war es in der Tat, und Terrance verstand und teilte Sgillins Überraschung. Naghûl war sofort hellhörig geworden und sprang nun fast auf.

„Und was haben wir alle gemeinsam, hm?“

Jana nickte verstehend. „Das könnten wir nutzen, um andere wie uns zu finden!“

Lereia nickte. „Das stimmt. Zum Beispiel, bei dem Verrückten, den wir tot gefunden haben, konnte ich frisches Heu wahrnehmen, also war dieser keiner von uns. Auch die Xaositekten und die Tieflinge in der Blutgrube hatten Signaturen. Ich versuche es bei fast allen, die uns länger begegnen.“

Sgillin runzelte die Stirn. „Das ist super, das durchdringt jede Tarnung und Täuschung. Du könntest den Legaten derart prüfen, um zu sagen, ob er der derjenige ist, den wir suchen.“

Terrance musste lachen, als Sgillin wieder davon anfing. „Ja, bitte! Sagt Sarin, dass eine Wertigerin seinen Stellvertreter in Melodia überprüfen will, weil Ihr ihn verdächtigt, ein Mörder im Stock zu sein. Und ich möchte unbedingt dabei sein, wenn Ihr das tut.“

Trotz ihrer Tigergestalt meinte Terrance, Erheiterung in Lereias Augen zu erkennen, und Sgillin grinste schelmisch.

„Na ja, er muss es ja nicht merken.“

„Aber wenn wir Eliath treffen“, überlegte Lereia, „können wir so vielleicht schnell herausfinden, ob er tatsächlich einer von uns ist.“

An dieser Stelle runzelte Jana irritiert die Stirn. „Eliath treffen? Ist der nicht verbrannt?“

„Oh, das wisst Ihr ja noch gar nicht“, rief Terrance sich in Erinnerung. „Richtig, Eliath lebt. Caylean, einer unserer Athaons, hat ihn in den Schwarzen Segeln gesehen, in Begleitung einiger Schicksalsgardisten.“

Die Hexenmeisterin nahm die überraschende Neuigkeit recht gefasst und souverän auf „Und was werden wir unternehmen?“ fragte sie sachlich.

Sgillin stellte seinen Krug ab. „Na ja, entweder suchen wir Eliath oder reden mit Sarin.“

„Erst Eliath“, meinte Naghûl. „Nicht dass er uns am Ende doch noch wegstirbt.“

Da hatte der Tiefling recht und Terrance nickte. „Richtig. Sarin wird uns nicht weglaufen.“

„Das steht zu befürchten“, bemerkte Askorion seufzend, und Terrance warf ihm einen leise tadelnden Blick zu. Er versteckte das Schmunzeln, das er dabei jedoch nicht ganz verbergen konnte, hinter seinem Weinglas.

„Verzeihung, Bundmeister ...“, murmelte der Aasimar.

„Darf ich fragen, wo wir diese Schwarzen Segel finden?“ fragte Lereia.

„Es handelt sich um eine Taverne im Unteren Bezirk, nahe der Waffenkammer“, erklärte Terrance.

„Danke.“ Die Tigerin neigte leicht den Kopf. „Dort war ich noch nie.“

„Eigentlich meide ich die Nähe der Waffenkammer auch“, seufzte Naghûl.

Sgillin horchte auf. „Warum?“

„Sinnsaten und Schicksalsgardisten geht gar nicht“, meinte der Tiefling mit einem Schulterzucken.

Der Halbelf trank seinen Krug leer und schüttelte den Kopf. „Mann, ist das kompliziert hier bei euch.“

„Gar nicht“, entgegnete Naghûl. „Wir sind toll, die sind behämmert.“

Terrance musste darüber schmunzeln, wie der Tiefling seine Bundphilosophie für seinen Freund von der Materiellen aufs Wesentlichste herunterbrach. Der verdrehte auch prompt die Augen.

„Da bin ich doch lieber planlos.“

Auch Askorion wirkte erheitert, erhob sich dann aber und sah in die Runde. „Ich kann Euch hinführen, wenn Ihr wollt.“

Terrance nickte ihm zustimmend zu und stand dann ebenfalls auf. „Ich denke, ich sollte mich mit Ambar treffen und ihm von unseren neuen Erkenntnissen berichten.“ Er warf einen kurzen Blick zu Kiyoshi, sich an dessen Begrüßung erinnernd. „Und ich sollte mal ein paar Takte mit Sarin reden, nehme ich an. Auch auf die Gefahr hin, dass wir am Ende wieder über die Glaubensfrage streiten.“

Kiyoshi schien ein wenig blass zu werden, doch ganz sicher war Terrance sich bei dem gedämpften Licht in der Taverne nicht. Er blickte zum Tresen. Toozer war offenbar wieder hinten in der Küche. Kurz zögerte er, dann setzte er seinen Hut auf.

„Askorion, du bezahlst. Sagt Toozer meine besten Grüße. Ich gehe jetzt unbemerkt, damit es nicht wieder einen … unnötige Aufmerksamkeit gibt.“

Er erkannte, dass Askorion ihm wohl widersprechen wollte, sich dann aber eines Besseren besann. Gut. Er mochte Toozer und würde gewiss noch oft genug ins Lamm kommen. Doch ihre Begrüßung war ihm für diesen Tag genug an Aufmerksamkeit hier im Stock gewesen, daher zog er es vor, leise und ohne Aufsehen zu gehen. Er nickte Jana und den anderen Erwählten zum Abschied zu, schlug den Mantelkragen hoch und trat dann durch die Hintertür wieder hinaus in die kühle, klamme Luft des Käfigs.

 

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gespielt am 18. und 21. März 2012

Am ersten Abend war Janas Spieler nicht da, daher lag Jana bewusstlos auf der Bank. Am zweiten Abend war Kiyoshis Spieler nicht da, daher war Kiyoshi plötzlich so still.

 

 

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