Entropie ist Ekstase!“

Motto der Schicksalsgarde

 



 

Erster Gildentag von Retributus, 126 HR

Wie versprochen führte Askorion sie zu den Schwarzen Segeln, der Taverne, in der sie Eliath aufzufinden hofften. Sie verließen den Marmordistrikt, an dessen Ausläufern das Schlummernde Lamm lag, und durchquerten den Grauen Distrikt, der die Leichenhalle umgab. Dieser ging direkt über in den Zentralen Distrikt, eine der besseren Gegenden des Unteren Bezirks. Naghûl war erleichtert, den Stock vorerst hinter sich zu lassen – wenn auch nicht für lang, wie er befürchtete – und die anderen schienen seine Gefühle zu teilen. Nicht, dass die Sinker-Kneipe dem Sinnsaten ein deutlich willkommenerer Ort gewesen wäre. Sie passierten den Neuen Markt und die Große Gießerei inmitten des wie immer von Rauch und dem Lärm vieler Werkstätten erfüllten Gießerei-Distrikts. Dann schließlich erreichten sie Schwerthalt, das Viertel nahe der Waffenkammer, in dem sich die Schwarzen Segel befanden. Auch hier waren die Gebäude eher einfach und schlicht, teilweise durchaus hoch, doch bei Weitem bescheidener als in den Oberen Bezirken. In aller Regel gab es keine Gärten, nur größere Innen- und Hinterhöfe, in denen sich oft Lager von Werkstätten und Geschäften befanden oder auch kleinere Tiere wie Hühner, Trichas oder Sandechsen gehalten wurden. Hier und da freilich hatten einzelne Bewohner sich Samen besorgt und angesät, so dass man an manchen Stellen einen kleinen, mit Rasen bedeckten Hof erspähen konnte, einige Blumen oder Büsche, hier und da sogar einen einzelnen Baum. Doch das waren Ausnahmen. Im Großen und Ganzen war der Untere Bezirk grau, von wuchtigen Steinbauten dominiert, geschäftig und laut, die Luft rußig von all den Schmieden hier.

Doch es war nicht das Elend des Stocks, nicht die verfallenden Häuser und dazwischen geflickten Holzverschläge, nicht die allgegenwärtige Kriminalität und Armut. Der Untere Bezirk war die Heimat einfacher und robuster, doch zumeist ehrlicher und hart arbeitender Bürger, die nicht mehr wollten, als ungestört ihrem Handwerk nachzugehen und abends in einer der Tavernen einen guten Schluck zu trinken. Als sie am Ziel waren, verabschiedete sich Kiyoshi von ihnen. Er wollte endlich zur Kaserne gehen, um dort Bericht zu erstatten und sich weitere Instruktionen zu holen, vor allem bezüglich Toranna. Da sie sich nun nicht mehr im Stock befanden und Schwerthalt sogar schon am Übergang zum Bezirk der Dame lag, hatte Naghûl diesmal keine Bedenken, den jungen Soldaten seiner Wege gehen zu lassen. Sie beschlossen, dass Kiyoshi nach seinem Bericht zurückkehren und sie in den Schwarzen Segeln wieder treffen sollte. Dann ließ die Gruppe ihren Blick zu der Taverne wandern, auf die Askorion deutete. Es war ein Anblick für sich, und woher der Name der Kneipe kam, war vollkommen offensichtlich: Eingemauert in das Gebäude, knapp unter dem Giebel, war ein mittelgroßes Schiffswrack. Der Bug ragte auf einer Seite noch ein gutes Stück heraus und wurde von unten mit dicken Holzbohlen gestützt, damit er nicht wegbrach. Alle drei Masten befanden sich noch auf dem Deck, wobei zwei von ihnen durch das Dach des Gebäudes ragten. Schwarze Segel hingen daran. Es sah aus, als wäre das Schiff in voller Fahrt in das Gebäude gerast und dort stecken geblieben, und als habe man danach das Haus um das Wrack herum wieder aufgebaut. Fasziniert sah Lereia hinauf und Sgillin pfiff leise.

„Kam sicher durch ein Portal, oder?“

Der Aasimar nickte. „Ja, vermute ich stark. Aber keine Ahnung, woher genau. Es ist schon seit weit vor Hashkar da.“

„Doch schon eine Weile“, bemerkte Naghûl, und Askorion lachte.

„Allerdings. Die Segel waren wohl mal weiß, aber der Ruß des Unteren Bezirks hat sie letztlich schwarz gefärbt. Daher auch der Name. Ich würde ja darauf brennen, mitzukommen. Aber Jaya braucht mich für irgendetwas.“

„Also gut.“ Lereia nickte. „Dann versuchen wir unser Bestes, um mit Eliath zu sprechen. Haben wir eine Beschreibung?“

„Er ist in Begleitung mehrerer Sinker gewesen, sagte Caylean. Mensch mittleren Alters, längeres, braunes Haar, einfach gekleidet. Genaueres kann ich leider nicht sagen.“

Sie bedankten sich bei Askorion für die Begleitung, verabschiedeten sich und betraten dann die Taverne. Die Stimmung war eher rau, und das Publikum bestand auf den ersten Blick vor allem aus Sinkern, durchmischt mit ein paar Xaositekten, einfachen Handwerkern und Arbeitern des nahen Luftschiffhafens. Die Einrichtung spiegelte den Namen und das Schiffswrack außen wider: Überall hingen dicke Taue und Netze von den Deckenbalken, an den Wänden waren Steuerräder, alte Anker, ausgestopfte Meerestiere und Navigationsinstrumente angebracht. Rauchschwaden hingen dick in der Luft, es war stickig und das Licht eher diesig. Lereia winkte die anderen näher zu sich.

„Ich versuche, bei Vermummten oder wenn die Beschreibung einigermaßen zutrifft, eine Signatur zu erkennen“, erklärte sie leise. „Ich schätze, wir können uns einen Tisch nehmen. So lange sie in Sichtweite sind, sollte es funktionieren.“

Jana trat näher und nickte, sichtlich angespannt. Naghûl sah sich um, etwas ganz Bestimmtes im Sinn. Es dauerte nicht lange, bis er es gefunden hatte.

„Ah, da ist die Theke!“

„Ja, lasst uns bitte etwas trinken“, bat Jana seufzend. „Ich meine, dazu sind wir schließlich hier.“

„Bringst mir nen Met mit?“ fragte Sgillin, als Naghûl schon auf dem Weg nach hinten war.

„Aye“, nickte der Tiefling. Er ging bis zum Tresen, bestellte je einen großen Krug Wasser, Rum und Met und warf lässig die verlangten Münzen auf das schartige Holz. Man konnte wohl erkennen, dass die wuchtige Theke schon die eine oder andere Klinge abgefangen hatte. Dann bahnte er sich seinen Weg zurück durch die schon des Nachmittags durchaus gut gefüllte Taverne. Die anderen hatten einen runden Tisch in einer etwas erhöhten Nische gefunden, zu der man über ein paar ausgetretene Holzstufen hinaufsteigen musste. Abgetrennt durch einen Vorhang befand sich dort eine weitere Nische, in der eine Gruppe saß, die wohl das Interesse der anderen geweckt hatte: ein Zwerg, eine menschliche Frau und eine Medusa, alle drei mit dem Bundabzeichen der Schicksalsgarde – und ein menschlicher Mann mittleren Alters mit schulterlangem, braunem Haar, er jedoch ohne Bundabzeichen. Nun mochte es solche Menschen zwar viele geben, jedoch war der Mann zu diesem Zeitpunkt der einzige Mensch in der Taverne, auf den Askorions grobe Beschreibung zutraf. Naghûl fasste ihn und auch die Medusa kurz genauer ins Auge, als er die Stufen zu der Nische hinaufging. Selbst in Sigil war es klug, in der Nähe einer Medusa eine gewisse Vorsicht walten zu lassen. Und eine Medusa von der Schicksalsgarde … Naghûl wollte keine Vorurteile bedienen, aber … Nun, wenn er ehrlich zu sich war, wollte er das doch. Er mochte die Sinker einfach nicht, und Ende. Er stellte die Krüge ab und setzte sich. Sgillin hatte ein Päckchen Karten aus der Tasche gezogen.

„Na dann“, bemerkte er mit Blick auf den Tiefling. „Zeig mal, was du kannst.“

Er legte ein paar Münzen auf den Tisch und Naghûl folgte seinem Beispiel, warf ein paar Grüne vor sich hin.

„Ich misch zuerst“, meinte er und griff nach den Karten.

„Aber krempel die Ärmel zurück“, erwiderte Sgillin scherzend.

„Traust mir nicht, was?“

„Hm, lass mich kurz überlegen ... Nein.“

Sgillin lachte, und Naghûl schob grinsend die Ärmel zurück und mischte die Karten. Aus dem Augenwinkel sah er Lereia kurz stocken. Dann notierte sie schnell etwas auf einem Zettel und gab ihn an Jana weiter. Diese hatte sich gerade ein Glas Rum eingegossen und trank einen großen Schluck, während sie den gefalteten Zettel langsam zu sich zog. Sie las ihn, hob die Brauen und reichte ihn an Sgillin weiter. Naghûl bemühte sich, nicht zu neugierig hinüber zu sehen, teilte stattdessen zwei Karten an Sgillin aus, dann zwei für sich und deckte eine auf. Der Halbelf nahm derweil unauffällig den Zettel von Jana und las ihn, während Lereia sie gespannt ansah.

„Gibt's ja nicht ...“, murmelte er leise und reichte ihn dann an Naghûl weiter.

Endlich konnte auch der Tiefling das kleine Stück Papier zu sich ziehen, um zu sehen, was Lereia darauf geschrieben hatte. „Zwerg: erhitztes Blei – Frau: Weinblätter – Mann (Eliath?): Bernstein - Medusa: nichts!“ stand auf dem Zettel. Lereia hatte also erneut jemanden entdeckt, bei dem sie nichts wahrnahm. Aber warum, bei der Dame, musste es ausgerechnet eine Sinkerin sein? Der Sinnsat in Naghûl weinte innerlich. Doch er riss sich zusammen, tat als ob nichts wäre und steckte den Zettel ein, während er seine Karten vor sich auf den Tisch legte. „Siebzehn“, erklärte er.

Sgillin sah sich seine Karten an und warf sie auf den Tisch. „Dreiundzwanzig ... Verdammt.“

„Ha, dein Grüner in meinem Beutel“, rief Naghûl triumphierend und etwas lauter als nötig, um seine Unruhe über die fehlende Signatur der Medusa am Nebentisch zu überspielen.

„Noch ne Runde“, meinte Sgillin und begann, neu zu mischen.

Jana rieb sich die Schläfen und nickte langsam. „Also, der Rum ist zumindest gut“, stellte sie laut fest, und setzte dann deutlich leiser hinzu: „Eine Medusa? Was machen wir jetzt? Wir können sie doch nicht einfach einweihen, oder? Was wenn wir ihr nicht trauen können?“

„Ich würde gerne deren Gespräch mithören“, flüsterte Lereia und sah fragend in die Runde.

Sgillin mischte langsamer. „Hm, ich hätte eine Idee. Ist aber riskant.“

„Lass hören“, meinte Naghûl und beugte sich vor.

„Riskant ist nicht gut“, warf Jana ein, sah ihn aber dennoch gespannt an.

„Ich könnte mich im Schatten verstecken und in die Nähe ihres Tisches gehen“, erklärte der Halbelf. „Ich glaube nicht, dass die mich bemerken - es sei denn, jemand von denen hat den Wahren Blick.“

Naghûl nickte. „Verstehe. Aber eigentlich ist es eher ungewöhnlich, dass man das besitzt. Vor allem, wenn es keine hohen Tiere sind.“

„Gut, dann geh ich mal rüber ... haltet euch aber bereit, hier sehr schnell zu verschwinden, falls es schief geht.“

Jana trommelte unruhig mit den Fingern auf den Tisch. „Aber sei bitte vorsichtig. Ich will hier drin nicht kämpfen müssen.“

Sgillin nickte sacht, dann warf er die Karten vor sich auf den Tisch. „Zwanzig! Diesmal gehört der Grüne mir! So … Ich geh mal mein Wasser abschlagen. Bis gleich.“

Damit erhob er sich und ging Richtung Ausgang. Naghûl teilte eine Runde Karten aus, um Lereia und Jana abzulenken. Der Blick der beiden war zu offensichtlich besorgt, und er wollte ausnahmsweise wirklich keinerlei Aufmerksamkeit erregen. Die beiden nahmen die Karten und nickten ihm zu, verstehend. So begannen sie ein Spiel und unterhielten sich dabei leise, aber nicht zu leise über belanglose Themen wie den Ozonsturm vor vier Tagen und die Qualität des Rums, den Naghûl von der Bar geholt hatte. Es dauerte länger, als es dem Tiefling lieb war, bis Sgillin – der offenbar im Schatten versteckt nach draußen gehuscht war – wieder herein kam. „Tschuldigung, bin aufgehalten worden“, meinte er im Setzen.

Naghûl nickte. „Trink noch einen.“

„Das lass ich mir nicht zweimal sagen!“ erwiderte Sgillin und schenkte sich noch einen Krug voll Met. Dann beugte er sich vor und fuhr leiser fort. „Das Wichtigste zuerst: Den Mann mit dem längeren, braunen Haar, den haben sie tatsächlich mit Eliath angesprochen. Er ist also wirklich am Leben, und er sitzt dort drüben.“

Jana nickte aufgeregt und Lereia wirkte erleichtert. Auch Naghûl atmete auf. Immerhin eine gute Nachricht in all diesem Schlamassel.

„Das ist doch schonmal was“, flüsterte er. „Was haben sie so geredet?“

„Dies und das“, berichtete Sgillin mit gesenkter Stimme. „Sie unterhalten sich nicht gerade leise, daher musste ich gar nicht so nahe ran. Die drei Sinker reden recht viel und sind in guter Stimmung. Eliath wirkte auf mich irgendwie verwirrt und desorientiert. Wie man das von stark Verkaterten kennt, ihr wisst schon. Thema war erstmal ein Streit zwischen ein paar Bewahrern und Zerstörern in der Waffenkammer, wie sie von der Medusa genannt wurden. Keine Ahnung, was damit gemeint ist.“

Naghûl nickte bei sich. Zwei der Untergruppen in der Schicksalsgarde, die traditionell sehr entgegengesetzte Ansichten hatten und daher selten gut harmonierten. Er unterbrach Sgillin jedoch nicht in seinen Ausführungen, und der Halbelf fuhr fort.

„Dann kam das Thema auf die Morde im Stock. Offenbar wissen die Sinker aber nichts Näheres darüber. Die Frau meinte, das wäre gut, um den Lauf der Entropie zu beschleunigen, die Medusa und der Zwerg schienen es etwas anders zu sehen. Sie sagten, das Multiversum zerfällt genau in der richtigen Geschwindigkeit.“ Sgillin hob die Schultern, wie um zu demonstrieren, dass er keine Ahnung hatte, was das sollte. „Sie fragten Eliath nach seiner Meinung, aber der hat eher ausweichend geantwortet. Dann kam das Gespräch darauf, wo man das beste Höllenfeuerbräu im Stock kriegt und dass morgen eine Verhandlung gegen eine Frau ist, die angeblich mit Babyöl handelt. Es wurde aber weder etwas von Erwählten erwähnt noch darüber, dass Eliath mal tot oder verschwunden gewesen sein könnte. Dann ging es um irgendein Bordell und Ausschweifungen, die dort stattgefunden haben sollen. Hm …“ Sgillin grinste. „Da sollte ich vielleicht mal vorbei schauen.“

Naghûl schmunzelte bei diesem abschließenden Kommentar seines Freundes und lehnte sich nachdenklich zurück. Da war er also, der von ihnen so fieberhaft gesuchte Eliath – bei der Schicksalsgarde. Und in Begleitung einer Medusa ohne seelische Signatur – also möglicherweise eine von ihnen. Diese Wendung behagte ihm nicht.

 

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gespielt am 21. März 2012

 

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