„Die Ebenen werden von Gesetzen bestimmt, und Gesetze können erlernt werden. Lerne diese Gesetze und du wirst das Multiversum beherrschen. Das ist unser Ziel.“
Bundmeister Hashkar
Erster Dametag von Retributus, 126 HR
Yelmalis saß an seinem Schreibtisch und starrte aus dem Fenster. Das Sigiler Wetter zeigte sich an diesem Abend von seiner schlechtesten Seite, schwerer Regen prasselte heftig gegen die Scheiben. Die schwarzen Spuren, die er beim Hinabrinnen hinterließ, zeigten, dass eine gute Menge Ruß beigemischt war. Wahrscheinlich hatte ein Portal zur Aschenebene Schuld daran, und die Aussicht, am nächsten Tag die Fenster putzen zu müssen, hob Yelmalis Stimmung nicht gerade. Er überlegte, ob es sich nicht doch lohnen würde, seinem Monodronen-Vertrauten F-45 diese Tätigkeit beizubringen. Doch er wohnte im fünften Stock, und anders als der Luftgenasi konnte der kugelige, kleine Modron im Notfall nicht per Federfall sacht nach unten schweben. Er würde auf dem Pflaster zerschellen, und im günstigsten Fall würde Yelmalis eine ganze Weile brauchen, ihn wieder zusammenzuschrauben. Nein. Er verwarf die Idee wieder. Er hatte im Moment genug anderes zu tun, um das er sich kümmern musste. Vor allem Dinge, um die er sich im Grunde nicht kümmern wollte, von denen er nicht Teil hatte werden wollen. Er war kein Sinnsat, der ständig auf der Jagd nach neuen Erfahrungen war. Er war kein Gläubiger der Quelle, der all das als eine notwendige Prüfung ansah. Und er war erst recht kein Xaositekt, der jede noch so skurrile Überraschung willkommen hieß. Er war Mitglied der Bruderschaft der Ordnung und im Grunde vor allem daran interessiert, seine arkanen Studien zu vertiefen und seine Karriere als Anwalt weiter voranzutreiben. Was er ganz gewiss nicht wollte, war mit einem undurchsichtigen Yuan Ti und einer schroffen Halborkin im Stock herumzustöbern. Und erst recht wollte er nicht Teil einer dubiosen Prophezeiung sein. Und doch war er es. Die Worte seines Bundmeisters Hashkar ließen wenig Zweifel daran, dass er zu den Erwählten der so genannten Ring-Prophezeiung gehörte und es somit seine Aufgabe war, ein geheimnisvolles Artefakt namens Deus Machina zu finden. An sich eine spannende Sache, keine Frage. Und hätte es sich hier um eine Forschungs-Expedition oder ein akademisches Projekt gehandelt, er wäre sofort dabei gewesen. Eine gut vorbereitete und organisierte Reise, Kollegen, auf die man sich verlassen konnte, ein Arsenal an hochwertigen Forschungsinstrumenten und Bücher voller ordentlicher und erschöpfender Aufzeichnungen und Dokumentationen … Ja, das hätte ihm gefallen.
Aber hier war gar nichts gut vorbereitet, verlässlich oder gar dokumentiert. Ein paar Stücke Pergament mit nebulösen Bezeichnungen. Eine obskure Legende über ein noch obskureres Artefakt. Und Mitstreiter, die man sich nicht aussuchen konnte und die im besten Fall gut meinend, aber chaotisch waren oder aber rechtschaffen, doch offenbar ungebildet und aufbrausend. Die Halborkin fiel unzweifelhaft in letztere Kategorie. Die Gnadentöter mochten ein verbündeter Bund sein, doch musste Yelmalis zugeben, dass sie ihm immer ein gewisses Schaudern einflößten. Garush, eine Amazone von Acheron, überragte ihn leicht um einen Kopf und hatte keinerlei Hehl daraus gemacht, dass auch ihre Begeisterung über die ganze Angelegenheit sich in Grenzen hielt. Sie war stark und gewiss sowohl tapfer als auch ehrenhaft, doch ebenso barsch und unbeherrscht – Wesenszüge, die Yelmalis nicht nur fremd waren, sondern ihn auch einschüchterten. Das hatte sie offenbar auch bemerkt, und der Begriff „Schreiberling“, mit dem sie ihn seitdem mehrmals bedacht hatte, machte die Sache auch nicht besser. Er fragte sich wiederholt mit einem Seufzen, warum nicht jemand vom Harmonium hatte in der Gruppe sein können. Zumindest war Bundmeister Sarin, wenngleich direkt und energisch, nicht so schroff und herrisch wie Mallin, und somit wäre vielleicht auch ein entsprechender Erwählter im Umgang etwas angenehmer gewesen. Und doch, immerhin gehörte die Amazone zur Triade der Ordnung. Die Dunkelelfe hingegen? Sie war deutlich freundlicher gewesen, das immerhin musste er zugeben. Dilae Tor'ana, so hatte sie sich vorgestellt. Ausnehmend hübsch, wie ihm auffiel, obgleich sie als weibliches Wesen nicht in seinem Fokus stand. Sehr zart, sehr elegant, Tänzerin, Eilistraee-Klerikerin, offenbar von eher sanftem Wesen und von der ganzen Sache ebenso verwirrt und vielleicht auch eingeschüchtert wie er selbst. Das immerhin machte ihre Anwesenheit in der Gruppe definitiv erfreulich. Doch andererseits war sie, so sein Eindruck, eindeutig chaotisch und gehörte der Freien Liga an, einem Bund, der gar keiner sein wollte und von Regeln im Allgemeinen wie auch denen der Stadt Sigil im Besonderen nicht allzu viel hielt. Das konnte doch nur zu Spannungen führen, oder? Somit war er froh, dass mit den Zeichnern zumindest ein Bund mit im Spiel war, dessen Philosophie und Ziele er zwar exzentrisch und wenig produktiv, doch immerhin nicht gefährlich fand. Tarik kam ihm ruhig und zurückhaltend vor. Der Tiefling schien vieles zu beobachten und sich Gedanken zu machen, ehe er etwas sagte. Ein Wesenszug, den Yelmalis zu schätzen wusste und den sicher nicht alle der Erwählten teilten. Das einzige, was ihn als Tiefling auswies, waren seine roten Augen, ansonsten sah er ganz so aus wie die meisten menschlichen Einwohner seiner Heimat, des vedischen Reiches Tharpura: tiefschwarzes Haar, dunkle Haut und gekleidet in die für das Reich typischen Gewänder. Allzu chaotisch erschien er ihm nicht, dafür aber freundlich und hilfsbereit. Vielleicht, so dachte Yelmalis bei sich, war er gut beraten, sich erst einmal vor allem an Tarik zu halten. Zumindest hatte er dabei ein deutlich besseres Gefühl als bei Sekhemkare, einem Yuan Ti und Mitglied des Prädestinats, dem fünften Erwählten in ihrem Kreis. Der Nehmer erschien ihm undurchsichtig und distanziert, aber er musste zugeben, dass es vielleicht auch daran lag, dass humanoide Warmblüter die Angehörigen reptiloider Völker initial oft nicht gut zu deuten vermochten. Gleichwohl war das Prädestinat an sich ein Bund, mit dessen Philosophie er nicht viel anfangen konnte. Unterm Strich hätte es sicher schlechtere Bünde für eine aus der Notwendigkeit geborenen Allianz gegeben, aber auch einige, mit denen er lieber zusammen gearbeitet hätte. Doch es half nichts. Er war in diese Situation geraten und würde sich mit ihr arrangieren müssen. Sein Bundmeister hatte ihm dies klar gemacht - verständnisvoll für seine Lage und freundlich wie meist, aber auch unmissverständlich. Und natürlich wollte er Hashkar nicht enttäuschen. Nicht allein deswegen, weil das seiner Karriere als Anwalt sicher nicht allzu gut getan hätte. Nein, auch deswegen, weil er seinen Bundmeister in höchstem Maße respektierte. Der alte Zwerg leitete den Bund seit 126 Jahren und verfügte zu allen möglichen Themen über ein Wissen, das ihn nur allzu oft in Erstaunen versetzte. Und anders als Amtskollegen wie Mallin oder Rowan Dunkelwald besaß Hashkar trotz all seiner Würden im persönlichen Umgang eine angenehme und freundliche Art, versetzte einen weder in ständige Wachsamkeit noch ließ er einen die Macht seines Amtes spüren. Das hatte Yelmalis auch die ersten Begegnungen deutlich erleichtert. Als einfacher Anwalt und seit gerade erst einem Jahr Faktotum hatte er bislang noch nicht die Ehre gehabt, mit seinem Bundmeister direkt zusammenzuarbeiten oder bei ihm vorsprechen zu dürfen. So war es für ihn ein wichtiges Ereignis und eine große Aufregung gewesen, als er zu einem Gespräch bei Hashkar persönlich geladen worden war. Es ging um einen nicht unwichtigen Fall, zu dem nicht viele Faktoti hinzugezogen wurden, und er war als einer der wenigen von Richterin Jamis persönlich ausgewählt worden. Der Bundmeister hatte die am Fall beteiligten Faktoti sehen wollen, da er diese, anders als die Faktoren, nicht alle persönlich kannte. Yelmalis erinnerte sich noch allzu deutlich an seine Nervosität, als er das Büro seines Bundmeisters zum ersten Mal betreten hatte. Gemeinsam mit zwei anderen Faktoti hatte er vor Hashkars Schreibtisch gestanden. Um sich zu beruhigen waren seine Finger wie unbewusst zu seiner Westentasche gewandert, hatten begonnen, mit der goldenen Taschenuhr darin herumzuspielen. Gerade, als er sich dabei ertappt und sich selbst in Gedanken gescholten hatte, dass dies kein angemessenes Verhalten in Gegenwart seines Bundmeisters war, da war es passiert …
Plötzlich war er wieder vor der Tür gewesen. Mit denselben Personen, die gerade dasselbe Gespräch geführt hatten wie wenige Minuten zuvor, vor dem Eintreten. Er musste sie völlig überfordert und fassungslos angestarrt haben, doch sie hatten seinen gewiss dümmlichen Gesichtsausdruck höflich ignoriert und ihre Gespräch fortgesetzt. Yelmalis war so überrascht und überfordert gewesen, dass er nur hatte daneben stehen und weiter zuhören können, abwarten, ob sich die Szene auch weiterhin so wiederholen mochte. Und das hatte sie getan. Die Tür hatte sich geöffnet, Hashkars Sekretärin hatte sie herein gebeten. Sie waren mit einer tiefen Verbeugung vor ihren Bundmeister hingetreten und er hatte das Wort an sie gerichtet. Alles hatte sich genauso abgespielt, wie er es kurz zuvor bereits erlebt hatte. War er in der Zeit zurückgereist? Der Gedanke war langsam in ihn eingesickert, hatte ihn mit ungläubigem Entsetzen erfüllt … und er hatte Hashkars Worte kaum noch mitbekommen. Dann hatte er den Punkt erreicht, an dem er zurückgesprungen war, als er seine Uhr berührt hatte. Fast automatisch hatte er erneut die Hand in die Westentasche gesteckt und als es soweit gewesen war, als er exakt den Moment seines Zeitsprunges erreicht hatte, war ein Zittern durch seinen Körper gegangen, es hatte sich ein wenig angefühlt wie ein elektrischer Schlag. Die Beine hatten ihm nachgegeben und er war gestürzt … direkt gegen seines Bundmeisters Schreibtisch. Noch nie im Leben war ihm etwas so peinlich gewesen, im Erdboden hatte er versinken wollen. Doch Hashkar hatte nur die buschigen, weißen Augenbrauen gehoben und sich nach seinem Befinden erkundigt. In seiner Aufregung und Überforderung hatte er es sofort erzählt, seine Vermutung eines Zeitsprunges – wenn auch stotternd und stammelnd und mehr als unzusammenhängend. Die Seitenblicke der beiden anderen Faktoti hatten ihm das Blut heiß in die Wangen steigen lassen. Die Schmetterlinge, die ihn stets umgaben, waren gewiss tief rosa geworden, dessen war er sicher. Doch entgegen all seiner Befürchtungen hatte sein Bundmeister ihn weder getadelt noch sich über seine Ausführungen amüsiert. Er hatte die Vorstellung der beiden anderen Faktoti schnell und knapp abgehandelt, sie dann entlassen, ihn selbst aber bleiben lassen. Dann hatte er ein altes Pergament aus der Schublade geholt und ihm von der Ring-Prophezeiung und der Deus Machina erzählt. Er hatte ihn über seine Rolle als Kind, das sich durch die Zeit bewegt ins Bild gesetzt und ihn aufgefordert, diese Gabe zu erforschen und zu vertiefen.
An diesem Abend hatte Yelmalis drei Gläser Bytopianischen Brandy getrunken, was ansonsten absolut nicht seine Art war. Normalerweise hätte er seinen Bruder Finawel aufgesucht, mit ihm gesprochen, ihn um Rat gefragt. Doch sein Bundmeister hatte ihn angewiesen, Stillschweigen über die Sache zu bewahren, selbst seiner Familie und seinen engsten Freunden gegenüber. Nur Richterin Jamis und Hashkars Sekretärin durften außer ihm selbst und dem Faktol davon wissen. Nichts hätte ihm ferner gelegen als den Befehlen seines Bundmeisters nicht zu gehorchen, doch machte es die Sache nicht einfacher, allein mit diesem Wissen in seinem Schreibzimmer zu sitzen. Das zumindest war ein Pluspunkt, wenn es um die anderen Erwählten ging: Nicht mehr allein mit dieser ungeheuerlichen Sache zu sein. Als Hashkar ihn erneut zu sich gerufen hatte, diesmal aber in Gesellschaft von Mallin, dem Herzog, Darius und Bria Tomay von der Freien Liga, hatte Yelmalis noch deutlicher als beim ersten Treffen gespürt, dass etwas Großes sich anbahnte, etwas, das sein Leben gründlich umkrempeln würde. Und er mochte es nicht besonders, wenn etwas sein Leben durcheinander brachte. Er hatte gerne Gewissheiten und feste Strukturen. Er machte gerne Pläne, die eine hohe Wahrscheinlichkeit hatten, auch aufzugehen. Dies hier war unplanbar, unstrukturiert und chaotisch, und das schlug ihm auf den Magen. Er merkte seinem Bundmeister wohl an, dass es ihm genauso erging – was zumindest ein geringer Trost war. Mallin hatte ihn bei diesem Treffen ziemlich eingeschüchtert, und der Herzog war zwar vordergründig freundlich, ja jovial gewesen, doch auf eine leicht gönnerhafte Weise, die Yelmalis missfiel. Zudem war er sicher, dass Rowan Dunkelwald eine ganze Menge Hintergedanken und eigene Interessen in dieser Sache hatte und vielleicht auch Informationen besaß, die er trotz der Allianz ihrer Bünde nicht ohne weiteres mit den anderen teilte. Darius hingegen war freundlich und zugänglich gewesen, angenehm im Umgang und rücksichtsvoll gegenüber der Nervosität wie auch der Bedenken aller Erwählten. Ähnlich Bria Tomay, eine der drei Anführerinnen der Freien Liga, die sich nicht als Bund ansah und daher auch keinen Bundmeister hatte. Die Bardin war den Erwählten gegenüber herzlich und offen gewesen, jedoch hatte Yelmalis eine deutliche Spannung zwischen ihr und Mallin wahrgenommen, und auch ihr Verhältnis zu Rowan Dunkelwald schien nicht besonders warm. Hashkar hatte ihn vorgestellt, mit sehr lobenden Worten über seine Fähigkeiten als Magier und Anwalt, die ihn durchaus hatten erröten lassen. Doch er konnte nicht lügen, die Anerkennung seines Bundmeisters hatte ihn auch mit Stolz erfüllt. Der Verweis auf seine Gabe jedoch hatte ihn sofort wieder auf den Boden zurückgeholt, denn dies war ein Punkt, der ihm nach wie vor unergründlich und somit unheimlich war. Auch die Gaben der anderen waren erläutert worden: Garushs Stärke, Schnelligkeit und geschärfte Sinne, die sie zu dem Kind machten, das schneller als Wind und Gedanken ist. Sie hatte die Gabe ähnlich plötzlich und überraschend wie er selbst beim Training im Hof des Gefängnisses entdeckt. Bria nannte Dilae das Kind, das zur Musik des Daseins tanzt, und es hatte sich herausgestellt, dass sie über bestimmte Tanzschritte Illusionen erzeugen konnte. Tarik hingegen besaß offenbar die Fähigkeit des Traumwandelns und war das Kind, das durch die Träume wandert. Yelmalis hatte ein wenig schmunzeln müssen darüber, wie gut diese Gabe zu einem Zeichner passte. Sekhemkare schließlich war das Kind, das die uralten Seelen ruft und konnte wohl Kontakt mit Seelenfetzen mächtiger, aber bereits verstorbener Wesen aufnehmen und von deren Wissen und Fertigkeiten profitieren. Auf gewisse Weise, so sagte der Luftgenasi sich, passte das wiederum auch hervorragend zu einem Nehmer. Die Bundmeister und Bria hatten beschlossen, eine Allianz zu bilden, Wissen über die Prophezeiung auszutauschen, die Maschine gemeinsam zu finden – auch wenn nicht klar war, was man damit tun konnte, wollte oder sollte – und die Erwählten zusammenarbeiten zu lassen. Zusammenarbeiten lassen. Er konnte sich nicht helfen, doch fühlte er sich bei all dem ein wenig wie eine Figur, die man auf einem Schachbrett herum schob. Doch er hatte sich seines Bundmeisters Befehl und Wünschen gebeugt, wie alle anderen Erwählten auch. Nun saß er erneut abends in seinem Studierzimmer, grübelnd, allein mit vielen Fragen und ein wenig bang ob seiner Zukunft. Am nächsten Tag sollte er mit den anderen in den Stock gehen und mehr über den Verbleib eines gewissen Eliath herausfinden. Er, Yelmalis, im Stock. Was für eine großartige Idee. Garush mochte sich dort zumindest zu helfen wissen, und Dilae fand sich vielleicht ein wenig besser zurecht als die anderen, hatte die Freie Liga doch im Gegensatz zu Gnadentötern, Zeichnern, Nehmern und Herrschnern einige Mitglieder im Stock. Sekhemkare war schwer zu durchschauen gewesen, aber auch Tarik hatte keinen sehr glücklichen Eindruck über die Mission gemacht. Yelmalis hatte überlegt, sich mit ihm alleine zu treffen, mit ihm über die ganze Angelegenheit zu sprechen, herauszufinden, was er dazu dachte. Doch er war unsicher gewesen, wie er dieses Gespräch hätte anstoßen sollen. Und er hatte Befürchtungen, dass die anderen oder auch Tarik selbst es als spaltend hätten empfinden können, wenn er die übrigen Erwählten nicht einbezog. So hatte er den Gedanken wieder verworfen. Stattdessen saß er nun an seinem Schreibtisch und drehte seine goldene Taschenuhr vor sich hin und her. Bei seinem ersten Zeitsprung hatte er aus Nervosität damit gespielt, als seine Gabe sich aktiviert hatte. Seitdem war es ihm nur noch einmal gelungen, einen Sprung zu machen, auch diesen in die Vergangenheit. Es war im Archiv des Großen Gerichtshofes gewesen, und er ganz allein – und auch da hatte er die Uhr in der Hand gehalten. Hing seine Gabe also mit der Uhr zusammen? War sie eine Art Auslöser oder Fokus? Doch es war nicht nur die Uhr allein. Nur sie zu halten oder sich auf sie zu konzentrieren, löste die Gabe nicht aus. Er hatte es oft genug versucht. Warum konnte er es nicht kontrollieren? Hatte er überhaupt bewussten Einfluss darauf? Konnte er auch in die Zukunft reisen oder nur in die Vergangenheit? Konnte er weiter zurück als nur ein paar Minuten? Er wünschte so sehr, Antworten darauf zu haben und er hatte sich wortreich bei Hashkar entschuldigt, ihm noch nicht mehr sagen zu können. Die Gabe noch nicht besser ergründet zu haben. Sein Bundmeister hatte ihn freundlich beruhigt. Er sollte sich Zeit nehmen. Allmählich würde er gewiss mehr Zugang zu dieser Fähigkeit finden. Das sei seine Bestimmung, also müsse er sich nicht unter Druck setzen. So dankbar er Hashkar auch für die freundlichen und nachsichtigen Worte war, so ungeduldig blieb er dennoch gegenüber sich selbst. Und so zweifelnd. Die Fähigkeit, durch die Zeit zu reisen, das war doch im Grunde … Chronomantie? Diese Schule der Magie war nicht umsonst verrufen und an den meisten Orten explizit verboten. So auch in Sigil. Wenn seine Gabe etwas beinhaltete, das nach den Gesetzen der Stadt gar nicht erlaubt war, wie sollte er …? Und wenn er das nicht einmal kontrollieren konnte? Mallins Blick, als Hashkar seine Gabe erläutert hatte, hatte ihn zumindest schwer schlucken lassen. Er als Herrschner und Anwalt war gewiss der Letzte, der in irgendeiner Weise die Gesetze Sigils brechen wollte. Zwar hatte er die ausdrückliche Erlaubnis von Hashkar, diese Fähigkeit zu erforschen, aber auch der Oberste Richter Sigils stand nicht über dem Gesetz. Natürlich, die Gaben waren an sich keine Magie. Sie setzten keinerlei arkane Energie frei – noch klerikale, so viel war sicher. Sie waren etwas anderes, fast eher wie eine Erweiterung physikalischer Fähigkeiten. Also war es streng genommen keine Chronomantie. Und er hätte gelogen, hätte er behauptet, nicht neugierig auf diese neue Fähigkeit zu sein. Durch die Zeit zu reisen, war nicht nur spannend, sondern auch eine große Macht. Und man konnte gewiss eine Menge Unsinn oder gar Verderben damit anrichten. Er schauderte bei der Vorstellung, diese Gabe wäre einem Xaositekten zugefallen … Und doch, da sie in Betracht zogen, dass es noch weitere Erwählte gab … es war nicht ausgeschlossen, dass auch Mitglieder anderer Bünde gewisse Fähigkeiten hatten. Nur wer? Mochten Xaositekten, Sinker oder gar Anarchisten auch derartige Gaben besitzen? Diese Vorstellung war alles andere als erfreulich. Einmal mehr drehte Yelmalis die goldene Taschenuhr hin und her, dann starrte er wieder hinaus, in den nächtlichen Regen. Er sollte schlafen. Am nächsten Tag würde er mit den anderen in den Stock müssen, um diesen Eliath zu finden, der scheinbar immer wieder eine Art Visionen hatte. Und da es laut dem Pergamentstück der Freien Liga noch ein Kind gab, das in Vergangenheit und Zukunft blickte … Doch ob dieser Eliath nun einer von ihnen war oder nicht, die Mission, die sie morgen gemeinsam antreten würden, war der erste Schritt auf einem wahrscheinlich langen Weg. Einem Weg, den er sich weder erhofft noch ausgesucht hatte. Den er aber dennoch würde gehen müssen.




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