Das Multiversum hat immer jemanden wie uns gebraucht.“

Jhary von Heka, erster Satz im Buch des Harmoniums
 
 

 

Vierter Stocktag von Kapriziosus, 125 HR

Naghûl war nicht allzu oft in der Harmoniumstraße unterwegs. Zu ordentlich, zu viele Dickschädel, zu wenig Musik und Leben. Doch ab und an musste man wohl in den sauren Apfel beißen – vor allem dann, wenn man für das Harmonium arbeitete. Zumindest hatte er Sgillin dabei, wenn auch der Halbelf am Eingang ihm das Reden überließ.

„Der Segen der Dame, Verehrteste“, grüßte Naghûl eine der Wächterinnen am Tor. „Ich möchte gerne in die Kaserne eintreten und um eine Unterhaltung mit Bundmeister Sarin bitten.“

Die Offizierin stutzte kurz und musste dann lachen. „Klar. Und was wollt Ihr wirklich?“

Naghûl lächelt sie freundlich an. Er hatte sich schon gedacht, dass es nicht ganz so einfach werden würde. „Ich möchte gerne mit Bundmeister Sarin sprechen“, beharrte er.

Nun hatte die Wächterin offenbar genug vom Spaß des Sinnsaten und runzelte missbilligend die Stirn. „Also, ich weiß ja nicht, wie Ihr Euch das vorstellt, aber es kann doch nicht einfach jeder daherkommen und um eine Audienz beim Bundmeister bitten. Wisst Ihr, was Sarin alles zu tun hat?“

Sgillin setzte bereits an, biss sich jedoch auf einen warnenden Blick des Tieflings hin auf die Lippen und sagte klugerweise nichts.

„Gewiss weiß ich das“, erklärte Naghûl höflich. „Und ich würde nicht einfach so darum bitten, wenn ich nicht wüsste, dass er mich empfangen würde. Ach ja, und sollte er tatsächlich verhindert sein, dann würde sicher seine Gemahlin, die verehrte Faith, mit mir reden.“

Dies genügte, um die Offizierin zumindest zu verwirren. „Aha. Ähm, Ihr habt also sozusagen einen Termin?“

„Sozusagen, ja.“ Als sie ihn weiterhin prüfend musterte, seufzte der Sinnsat „Natürlich habe ich keinen Termin, werte Dame. Aber er wird mich baldmöglichst empfangen, wenn Ihr ihm sagt, dass Naghûl Ka'Tesh, Faktotum der Sinnsaten, mit ihm sprechen möchte.“

Nun schien es der Wächterin zu bunt zu werden. „Ihr Sinnsaten habt immer Nerven.“ Sie schüttelt den Kopf. „Macht das bitte mit Diana aus, sie wird wissen, wie sie ... ähm, mit diesem Anliegen umgehen soll.“

„Natürlich. Ich finde sie wo?“

Die Offizierin deutete auf die Tür. „In der Empfangshalle.“

„Ich danke Euch aufrichtig, werte Dame“, erwiderte der Tiefling. „Ich wünsche einen guten Dienst und ein paar gerechte Festnahmen.“

„Die werden wir haben“, entgegnete die Wächterin etwas bissig.

Naghûl und Sgillin öffneten die Tür, schon dies nicht unbedingt ein einfaches Unterfangen, da die Türflügel aus massivem Holz waren und hoch genug, um auch einem Oger bequem Einlass zu gewähren. Nachdem sie eingetreten waren, fiel die Tür laut und krachend hinter ihnen ins Schloss, ein donnerndes Geräusch, das die Ruhe, die über der Eingangshalle gelegen hatte, gründlich erschütterte. Naghûl biss sich auf die Lippen und machte innerlich eine Notiz: Beim nächsten Mal, Türflügel beim Schließen festhalten. Der Tiefling und der Halbelf sahen sich um. Sie standen in einer Halle, die gut etwa dreihundert Personen gefasst hätte und deren Decke von massiven Säulen getragen wurde. Die Architektur war schlicht und robust, jedoch nicht ohne einen gewissen Reiz. Die Kapitelle der Säulen und das Bodenmosaik zeigten stilisierte Sonnen, Schilde und Schwerter, alles Bestandteile des Bundsymboles des Harmoniums. Zentral in der Halle stand ein schwerer Schreibtisch aus dunklem Holz, bedeckt von zahlreichen Pergamenten, mehreren Tintenfässern und einigen Schriftrollen. Dahinter saß eine attraktive Frau, etwa Ende dreißig, die Freundlichkeit und Charme ausstrahlte. Der Lärm, den die Besucher beim Eintreten verursacht hatten, schien sie nicht erzürnt zu haben, denn sie lächelte ihnen zu.

„Der Segen der Dame, meine Herren“, grüßte die Frau, die wohl die von der Wächterin erwähnte Diana sein musste, „Wie kann ich Euch helfen?“

Der Sinnsat trat bis auf einen Schritt an den Tisch heran und neigte zur Begrüßung den Kopf. „Mein Name ist Naghûl Ka'Tesh. Und auch, wenn ich im Moment lieber Eure Gesellschaft genießen würde, so müsste ich doch mit Bundmeister Sarin sprechen. Leider habe ich keinen Termin, aber ich bin mir sicher, dass er mich empfangen wird.“

Sgillin rieb sich mit einem zweifelnden Blick den Nacken, doch die Concierge wölbte vielsagend die linke Braue. „Ja, der Sinnsat, ich bin im Bilde.“

„Oh, tatsächlich?“ Naghûl war positiv überrascht. „Dann darf ich davon ausgehen, dass er mich empfängt?“

„Das wird er“, erwiderte die Frau und rief dann über die Schulter. „Jostos.“

Aus dem hinteren Teil der Eingangshalle eilte nun eine rothaarige Halbelfe in leichter Rüstung herbei und salutierte. „Lady Diana?“

„Wäret Ihr bitte so freundlich, diese beiden Herren zu Bundmeister Sarin zu bringen.“

Naghûl bemerkte, dass Sgillin Jostos recht unverhohlen musterte und mit den Lippen ein lautloses „Wow“ andeutete. Er verkniff sich ein Schmunzeln. Dass der chaotische Halbelf bei der rechtschaffenen Harmoniumsoldatin allzu große Chancen hätte, stand zu bezweifeln. Allerdings war Sgillin ohnehin mit Lereia zusammen. Jostos machte große Augen ob Dianas Anweisung.

„Zum Bundmeister? Ähm, natürlich ... Ähm ... in welchen Raum? Oben oder unten?“

„In sein Büro, bitte“, wies Diana an.

Jostos hustete etwas. „In sein Büro? Also, in das Bundmeisterbüro?“

„Das sagte ich“, erwiderte Diana unvermindert freundlich.

Die Halbelfe salutierte erneut. „Ja, sicher.“ Sie drehte sich zu Naghûl und Sgillin und verneigte sich hastig. „Ja, die Herren ... sehr verehrte Herren, natürlich. Bitte folgt mir doch. Also, wenn Ihr die Güte haben wollt, natürlich.“

„Die haben wir, die haben wir“, erwiderte Sgillin, der seine Augen offensichtlich nicht von der jungen Soldatin lassen konnte.

Sie wirkte etwas nervös, was Naghûl darauf zurückführte, dass normalerweise nur hochrangige Gäste direkt in des Bundmeisters Büro gebracht wurden.

Naghûl wandte sich noch einmal an die Concierge. „Lady Diana, es war mir eine wahrhaft große Ehre, Euch einmal kennenlernen zu dürfen. Es würde mich freuen, Euch für ähnliche Belange einst wieder zu sehen.“

Diana nickte ihm lächelnd zu. „Der Segen der Dame.“

Dann wandte der Tiefling sich an Jostos. „Ich bin sicher, mein Freund hier würde Euch bis ans Ende von Sigil folgen.“

Sgillin grinste. „Und noch weiter.“

Dies war ganz offensichtlich nicht der gewohnte Umgangston im Hauptquartier des Harmoniums, denn Jostos errötete und öffnete rasch die Tür, die offenbar weiter ins Innere der Kaserne führte. „Bitte sehr. Ich bringe Euch ins obere Stockwerk. Wart Ihr schon einmal hier?“

„Nein, noch nie“, erwiderte Sgillin.

„Nur zur Untersuchungshaft“, fügte Naghûl mit einem Grinsen an.

Jostos lachte auf, wirkte jedoch etwas verunsichert, unschlüssig, ob der Sinnsat wohl scherzte oder nicht. „Ah ja ... Ähm, ja dann ... werde ich eine kleine Führung machen. Das gebietet die Höflichkeit den Gästen gegenüber.“

„Wir wären entzückt“, erklärte Naghûl.

„Mehr als das“, setzte Sgillin nach, woraufhin der Tiefling nur leicht den Kopf schüttelte.

Der Halbelf war ja heute in Hochform. Die junge Soldatin führte die Besucher durch einen langen Gang, von dem immer wieder viele Türen abgingen, dann bog sie links ab und erneut führte ein langer, wenn auch breiter Korridor geradeaus. Der quadratische Grundriss der Kaserne war bei dem Rundgang auch im Inneren gut zu erahnen. Schließlich erreichten sie eine sehr große Halle, die gewiss mehrere tausend Personen fassen konnte, wenn sie voll war.

„Dies ist das Große Auditorium“, erklärte Jostos, „Unser Bundmeister hält hier immer die Ansprachen an die neuen Rekruten. Seine Reden sind wirklich immer sehr beeindruckend, Ihr solltet mal eine hören. Die Halle hier ist dann immer gesteckt voll.“

„Wären denn Gasthörer erlaubt?“ fragte Naghûl mit ehrlichem Interesse.

„Ab und an darf jemand zuhören“, nickte die Halbelfe, „Natürlich muss man sich vorher anmelden und es wird dann geprüft, ob das in Ordnung geht.“

„Interessieren würde es mich schon. Ich muss auch zugeben, dass Bundmeister Sarin eine durch und durch beeindruckende Persönlichkeit ist.“ Obgleich er oft zum Scherzen neigte, meinte der Sinnsat dies völlig ernst und ohne jegliche Ironie.

Sgillin grinste einmal mehr. „Dich lässt er sicher gerne zuhören.“

Den Seitenblick, den Naghûl dem Halbelfen zuwarf, bemerkte Jostos nicht, da sie ihren Blick durch das Auditorium schweifen ließ, wohl in Erinnerung an vergangene Versammlungen.

„Das ist er“, pflichtete sie dem Tiefling bei. „Er führt das Harmonium jetzt seit fünf Jahren und wir haben ihn alle sehr ins Herz geschlossen. Ich dachte erst, er wäre vielleicht seltsam ... weil er doch Materier ist und so. Aber er ist eigentlich mehr wie ein Planarer.“

Naghûl nickte zustimmend. Ja, so hatte er es bei dem ersten Treffen in der Festhalle auch empfunden. In Sigil wurde oft und gerne einmal darüber gesprochen, dass Sarin Materier war. Doch niemand im Käfig machte sich die Illusion, dass er planlos sei. Eine derartige Fehleinschätzung begingen nicht einmal seine Gegner.

„Außerdem finden hier die Instruktionen statt“, fuhr Jostos fort, „Zum Beispiel, wenn es sehr große Einsätze gibt oder Sigil besonders in Aufruhr ist.“

„Wenn zum Beispiel die Xaositekten wieder Unsinn treiben“, stellte Naghûl fest.

Jostos lachte. „Genau. Ach ja, ich darf Euer Kompliment übrigens zurückgeben, Eure Bundmeisterin ist ebenfalls sehr beeindruckend. Eine beachtliche Frau!“

Der Tiefling strahlte. Er redete oft und gerne über seine Bundmeisterin. Das war ihm natürlich bewusst, doch konnte man es ihm verdenken?

„Wahrlich!“ erwiderte er. „Sie ist eine Perle Sigils, möchte ich behaupten.“

„Eures Bundes würdig“, stimmte Jostos zu und zeigte im Vorbeigehen auf eine vom Auditorium wegführende Tür. „Durch diese Tür geht es in den Innenhof der Kaserne. Dort werden alle größeren Exerzierübungen abgehalten.“

„Ich verstehe.“ Naghûl nickte. „Die perfekte Organisation muss ja auch geübt werden.“

„Allerdings. Gerade den neuen Rekruten fällt das nicht immer ganz leicht.“

„Ich denke, das haben wir gemein“, antwortete der Sinnsat und begutachtete während des Gehens anerkennend den Boden. Hier im Auditorium war der einfache Steinboden einem Mosaik gewichen, das hauptsächlich aus weißen und roten Tönen zusammengesetzt war. Es waren schlichte, unverschnörkelte Muster, wie sie zu einem so militärisch organisierten Bund passten. Aber Naghûls geübtes Auge konnte erkennen, dass das Mosaik von hoher Qualität war. Jostos führte sie nun zu einer steinernen Treppe.

„Das obere Stockwerk ist eigentlich der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Eigentlich.“, fügte sie lächelnd an.

„Ich fühle mich geehrt“, bemerkte Sgillin.

„Wir sind ja auch nicht die richtige Öffentlichkeit“, fügte Naghûl scherzend hinzu.

Jostos nickte. „Sarin sieht das offenbar so.“

Die Treppe führte in eine weitere Halle mit ähnlich gestaltetem Mosaikboden, jedoch deutlich kleiner als die untere.

„Dies ist das Obere Auditorium. Hier werden vor allem Beförderungen vorgenommen und besondere Auszeichnungen verliehen.“

„Sehr interessant“, stellte der Tiefling fest. „Wobei ich wahrscheinlich nie in den Genuss kommen werde, eine Auszeichnung zu erhalten.“

Sgillin lachte. „Du bist schon ausgezeichnet genug.“

„Natürlich betrifft es unsere Bundmitglieder“, gab Jostos schmunzelnd zu und deutete im Vorbeigehen auf einige weitere Stufen, „Diese Treppe führt zu einem der vier Türme. Dort oben befindet sich die Landeplattform für fliegende Einheiten wie zum Beispiel die Greifenreiter.“

„Da kann man nicht hoch?“ Sgillin wirkte enttäuscht. „Bestimmt eine tolle Aussicht.“

Naghûl nickte. „Ich würde viel darum geben, den Einheiten einmal zuzusehen.“

„Ohne Befugnis ist der Turm leider nicht zugänglich“, erklärte die Halbelfe. „Ich bedaure. Ihr könnt ja den Bundmeister danach fragen.“

Der Sinnsat fragte sich, was Sarin dazu sagen würde, wenn er ihm seine Zeit mit einer Anfrage nach einem Rundgang durch die Kaserne stahl. Er konnte sich die Frage in etwa beantworten und begnügte sich daher zu erwidern: „Das verstehen wir natürlich.“

Die junge Soldatin führte sie aus dem Oberen Auditorium, nun wieder in einen längeren Gang. Naghûl wurde allmählich bewusst, wie groß die Kaserne war. Natürlich hatte er sich nie der Illusion hingegeben, dass nur die Sinnsaten mit der Festhalle ein riesiges Bundhauptquartier hatten. (Wenn auch das schönste und prachtvollste, das stand außer Frage.) Doch die wuchtige, massive Kaserne wirkte auf ihrem Hügel im Bezirk der Dame von außen nicht so weitläufig, wie sie es offensichtlich von innen war. Sie kamen nun an einigen Türen vorbei, über denen heilige Symbole angebracht waren. Naghûl konnte unter anderem die der Gottheiten Torm, Helm, Bahamut und Moradin erkennen, aber auch andere, die er nicht zuzuordnen vermochte.

„Hier sind die Schreine einiger Gottheiten, die in unserem Bund häufig verehrt werden“, erklärte Jostos, „Da zum Beispiel seht ihr die Schreine von Torm, Tyr, Marduk und Iomedae.“

Naghûl nickte. „Sehr schön, dass die religiösen Anhänger innerhalb der eigenen Mauern einen Platz haben.“

Sgillin besah sich eine der Türen, auf die Jostos gezeigt hatte, genauer. Darüber war das Symbol eines nach unten gerichteten Schwertes vor einer Sonne.

„Iomedae?“ fragte der Halbelf.

Jostos machte große Augen. „Ihr kennt Iomedae nicht?“

„Materier.“ Naghûl zwinkerte ihr zu, während er einem mächtigen Halbork Platz machte, der ihnen entgegen kam, vielleicht auf dem Weg zu oder von seiner Schicht.

„Nein, die kenne ich nicht“, gab Sgillin offen zu.

„Aber ganz sicher kein Materier von Ortho“, erwiderte Jostos, „Iomedae ist eine ziemlich populäre Göttin auf Ortho, auch wenn ihre Heimatwelt eigentlich Golarion ist Sie hat ihr Reich natürlich auf Arcadia. Unser Bundmeister ist einer ihrer Paladine.“

„Gut merken“, wies Naghûl Sgillin scherzhaft an.

„Ist gemerkt“, entgegnete der Halbelf grinsend.

Der lange Gang führte weiter, abermals gingen links und rechts zahlreiche Türen ab.

„Hier sind unsere Büros und nachfolgend die Offiziersquartiere“, erklärte Jostos und deutete auf eine prachtvoller verzierte Tür rechts von ihr, „Dort ist Tonat Shars Büro. Er ist Sarins Stellvertreter.“

Die Erklärung schien sich direkt an Sgillin zu richten. Möglicherweise ging die junge Frau davon aus, dass er als Planloser selbst über einen in Sigil so wohlbekannten Fakt im Unklaren sein konnte. Naghûl musste schmunzeln. Sie hatte nicht Unrecht. Dann endlich blieb sie stehen, vor einer schweren Holztür, in die das Symbol des Harmoniums geschnitzt war. Zwei Offiziere hielten dort Wache.

„Und hier ist Bundmeister Sarins Büro. Er empfängt hier nur selten Nicht-Bundmitglieder.“

Sie sagte es mit einem Blick, der dem Tiefling irgendwie eine Aufforderung zu beinhalten schien, sie sollten sich benehmen.

Er nickte ernsthaft. „Wir sind uns der Ehre bewusst.“

Jostos nickte, klopfte an die Tür und wartete auf Antwort. Als Sarins tiefe Stimme von drinnen antwortete, öffnete sie und meldete die Besucher an. Dann bat sie die zwei mit einer Handbewegung einzutreten, blieb selbst jedoch vor der Tür stehen. Der Tiefling und der Halbelf traten ein, und Naghûl konnte kaum glauben, dass er sich tatsächlich in Sarins Büro befand. Diese Erfahrung allein war die ganze Sache eigentlich schon wert. Der Raum war mit hellem Parkett ausgelegt und wirkte wärmer und freundlicher als der Sinnsat erwartet hatte. Auf der rechten Seite stand ein langer Tisch mit zehn Stühlen, gewiss für Besprechungen des Führungsstabes. An der Wand hing eine große Karte, die mehrere Kontinente einer wahrscheinlich materiellen Welt zeigte. Ein hinter dem Tisch stehender Globus wies dieselbe Geographie auf. Wahrscheinlich handelte es sich um Sarins Heimatwelt Ortho. Links von der Tür befand sich Sarins Schreibtisch, auf dem eine Menge an Papieren und ein Stadtplan von Sigil lagen. In einem hölzernen Stuhl mit hoher Lehne saß der Bundmeister, der wie auch beim letzten Treffen seine rot-goldene Rüstung trug. Als Naghûl und Sgillin eintraten, blickte er auf und steckte eine Feder, die gerade gehalten hatte, zurück ins Tintenfass. Der Halbelf ließ die Tür offen und Naghûl bemerkte wohl, dass Sarins Blick mit einem tadelnden Ausdruck zum Eingang wanderte.

„In Sigil gibt es Türen, Sgillin“, bemerkte der Sinnsat grinsend, „Die darf man auch schließen.“

„Gut bemerkt“, stellte Sarin mit gehobener Braue fest. „Der Segen der Dame.“

Naghûl verneigte sich tief. „Der Segen der Dame. Ich grüße Euch, Bundmeister Sarin.“

Sgillin folgte seinem Beispiel und Naghûl war erleichtert, dass der chaotische Halbelf von der Materiellen zumindest die grundlegende Etikette Sigils respektierte. Sarin sah kurz zu Sgillin, dann zu Naghûl, der seinen Stab fast so militärisch neben sich abgestellt hatte wie die wachhabenden Offiziere vor der Tür ihre Hellebarden.

„Ich grüße Euch, Faktotum und ... wie war Euer Name gleich?“

„Sgillin, Bundmeister“, erwiderte der Halbelf.

„Sgillin, richtig.“ Der Paladin nickte. Er wirkte diesmal deutlich ruhiger und gelassener als beim letzten Treffen. Und natürlich konnte Sgillin sich nicht mit einem Kommentar zurückhalten.

„Ihr seht entspannter aus als letztes Mal, werter Bundmeister.“

Der Tiefling atmete durch. Als ob dieser Hinweis nötig gewesen wäre. Manchmal war er nicht ganz sicher, ob Sgillins Verhalten unbedarft oder bewusst gewählt war. Der Bundmeister blickte den Halbelfen an, doch statt einer scharfen Bemerkung erschien zu Naghûls Erleichterung die Andeutung eines Lächelns auf seinen Lippen.

„Sagt bloß.“

„Ja, mein scharfes Halbelfenauge hat das sofort erkannt“, machte Sgillin weiter.

Nun reichte es. Naghûl beschloss einzuschreiten. „Ich glaube, Sgillin möchte nun schweigen“, erklärte er mit einem scharfen Blick zu seinem Freund.

Die Intervention des Sinnsaten entlockte Sarin ein Schmunzeln und das Lächeln erreichte nun auch seine Augen.

„Es mag daran liegen, dass sich die Xaositekten seit drei Wochen ruhig verhalten oder auch daran, dass vier meiner Kinder zu Besuch auf Ortho sind. Doch wie auch immer, der Grund unseres Treffens ist meine Erstgeborene, und sie ist hier in Sigil.“

Naghûl nickte. „Ganz genau. Und wenn Ihr erlaubt, würde ich nur wenig von Eurer Zeit stehlen und schnell zum eigentlichen Thema kommen, Bundmeister Sarin.“

„Nur zu. Schön, dass Lady Erin Euch entbehren kann.“

Naghûl neigte leicht den Kopf. „Ich hoffe, ich genieße Euer Vertrauen, auch wenn es vielleicht in Euren Augen ein gewisses Risiko sein mag.“

„Würdet Ihr es nicht genießen, stündet Ihr nicht hier“, erwiderte der Bundmeister ernst. „Und würde ich Erin nicht vertrauen, dass sie mir jemanden schickt, der meinen Vorstellungen entspricht, hätte ich Eure Bundmeisterin nicht aufgesucht.“

„Ich danke Euch“, antwortete Naghûl mit einem erleichterten Lächeln. „Zum einen geht es um den Plan, den Eichelhäher hierher zu bringen. Ich habe nachgeforscht und mich mit Leuten unterhalten, die etwas von seinem Geschäft verstehen.“

Sarin verschränkte die Arme. „Ich höre.“

„Sollte er hierher gebracht werden“, fuhr der Sinnsat vorsichtig fort, „dann würde er es auf jeden Fall zu seinen Gunsten nutzen. Egal auf welche Weise Ihr es tun würdet, er würde diese Gelegenheit ausnutzen und - verzeiht die folgende Ausdrucksweise - und er würde es in seinen Liedern ausschlachten. Was ich damit sagen will ist: Ihr würdet ihm nur in die Hände spielen und seinem pubertären Gehampel Aufmerksamkeit schenken.“

„Ich würde ihm gerne mehr Aufmerksamkeit schenken als ihm lieb ist“, erwiderte der Paladin finster. „Aber bitte fahrt fort.“

Naghûl hatte plötzlich ein Déjà-vu an das erste Gespräch in der Festhalle. Auch damals hatten seine Worte bei Sarin erst nicht so gewirkt wie erhofft, und das hatte in ein wenig ins Schleudern gebracht. Diesmal musste es besser laufen.

„Natürlich würdet Ihr das und Ihr würdet vielleicht auch keinen falschen erwischen, doch müsste erstmal bewiesen werden ... ich verrenne mich, verzeiht. Jedenfalls ist so einem Möchtegern-Revoluzzer damit mehr geholfen, als wenn man ihn einfach ignoriert. Hören die öffentlichen Behörden nicht zu, dann tut es bald keiner mehr. Und so weit wie Änderbier geht der Knabe nicht, da sind sich die Spezialisten einig.“

Sgillin nickte beflissen. „Sein infantiler Verstand ist dazu auch gar nicht in der Lage.“

Es war ein gewisses Maß an Selbstbeherrschung nötig, nicht auf Sgillins Sticheleien zu reagieren. Mit einem tiefen Durchatmen gelang es dem Tiefling dennoch, unbeirrt fortzufahren.

„Ich bin nicht hier, um unsere Philosophie emporzuheben oder die Eure zu kritisieren, Bundmeister. Ich will Euch lediglich bestmöglich meine Dienste erweisen und daher meinen wärmsten Rat empfehlen. Lediglich eine Empfehlung, die Entscheidung obliegt selbstverständlich Euch, Bundmeister.“

Erneut erschien ein kleines Lächeln auf Sarins Lippen und Naghûl vermeinte, kurz einen amüsierten Ausdruck in seinen Augen zu erkennen.

„Faktotum, ich schätze Euren Respekt, es ist aber nicht nötig, mir Honig um den Mund zu schmieren. Ich werde Euch schon nicht fressen, wenn unsere Philosophien nicht immer Hand in Hand gehen.“

Naghûl stockte kurz. Gerade hier in der Kaserne, beim Harmonium hatte er so viel Pragmatismus nicht erwartet und war nun tatsächlich überrascht. Er begann zu begreifen, warum Sarin den Ruf genoss, andere Teilnehmer des Kriegstanzes immer wieder auf dem falschen Fuß zu erwischen.

„Verzeiht, ich wollte Euch nicht kränken oder beleidigen ...“ Er hielt kurz inne. „Und ich habe just in diesem Moment das Gefühl, dass ich mich irgendwohin verrenne.“

Nun erhob Sarin sich und ging um den Tisch herum. „Naghûl, ich kann Euch versichern, wenn ich mich beleidigt fühle, merkt mein Gegenüber das sehr rasch. Was ich sagen wollte ist, dass Ihr mit mir nicht sprechen müsst, als würdet Ihr arboreanische Kristalle unversehrt über eine spiegelglatte Eisfläche transportieren müssen. Das heißt nicht, dass ich Respektlosigkeit hinnehme, aber es gibt ja noch etwas dazwischen.“

Naghûl wusste nicht sofort, war er erwidern sollte, und das geschah wahrlich nicht oft. Er schluckte und fragte sich eine verrückte Sekunde lang, ob Sarin ihn womöglich irgendwie auf die Probe stellte. Doch das war Unsinn. Der Paladin schien einfach tatsächlich so direkt und unverblümt zu sein, wie man sich erzählte. Und im Grunde machte das den Umgang mit ihm doch einfacher. Zumindest stand das zu hoffen. Naghûl atmete einmal tief ein und aus und lächelte dann erleichtert.

„Auf diesem Wege möchte ich Euch meinen höchsten Respekt aussprechen.“

Sgillin schien das ganz Hin und Her allmählich zu viel zu werden. „Komm mal langsam auf den Punkt“, brummte er.

Sarin schmunzelte auf die Worte des Halbelfen hin, wandte sich aber nach wie vor an Naghûl. „Seid bedankt. Ihr beginnt gerade zu verstehen, warum meine Art und Weise nicht immer in das politische Taktieren und zwischen den Zeilen Sprechen in der Halle der Redner passt, nehme ich an. Und nein, es liegt nicht daran, dass ich Materier bin.“

Naghûl nickte. Ja, vielleicht ahnte er allmählich, warum die Sigiler Zeitungen über den Bundmeister so berichteten wie sie es taten. „Dann gehe ich davon aus, dass ich mich kurz fassen kann und die überflüssigen Formalitäten nun beiseite legen darf. Ich nehme auch an, dass meine Meinung über den Eichelhäher offen darliegt.“

Sarin nickte, doch ehe Naghûl fortfahren konnte, wurde schwungvoll die Tür aufgerissen und ein breit gebauter Mann in Rüstung und mit kurzem, blondem Haar stürmte herein.

„Bundm …“ Er stockte, als ihm klar wurde, dass Sarin nicht alleine war.

Der Paladin warf ihm einen tadelnden Blick zu. „Tonat, auch mein Stellvertreter darf anklopfen, ehe er eintritt.“

Naghûl und Sgillin traten eilig aus der Sichtlinie der beiden und Tonat Shar räusperte sich verlegen.

„Verzeihung, Sarin ...“ Er unterbrach sich und nahm Haltung an. „Bundmeister Sarin, ich wusste nicht, dass Ihr ein Gespräch führt, es stand nichts im Plan.“

„Ja“, erwiderte Sarin und eine gewisse Selbstironie schien in seiner Stimme mitzuschwingen, „Ab und an passiert auch im Harmonium mal etwas Unplanmäßiges. Ganz selten mal.“

Tonat schien nicht genau zu wissen, was er auf diese Bemerkung entgegnen sollte „Genau, ganz selten mal ...“

Sarins Gesichtsausdruck wechselte von tadelnd zu ungeduldig. „Tonat, es ist gerade etwas ungelegen, also ...“

„Entschuldigung, Bundmeister“, antwortete sein Stellvertreter, „Die auf Ortho wollen schon wieder ...“ Er unterbrach sich erneut nach einem Blick zu Sgillin und Naghûl. „Na ja egal, ich komme nachher wieder.“

„Was wollen …“ setze Sarin an, beendete den Satz aber sofort wieder. Es war ihm anzumerken, dass er am liebsten sofort gehört hätte, was Tonat ihm zu sagen hatte und dass er es ungern aufschob. „Die Dame verschone mich.“ Er rieb sich die Schläfen. „Ja, ich habe gleich Zeit dafür.“

„Danke“, erwiderte Shar militärisch knapp, „Verzeiht die Störung.“ Er eilte wieder hinaus und der Bundmeister seufzte.

„Verzeihung. Wie Ihr seht, es ist hier manchmal ... viel los. Wie ist nun Euer Plan?“

Naghûl, der die Szene mit Interesse verfolgt hatte, konzentrierte sich wieder auf das eigentliche Gesprächsthema. „Um die Zeit kurz zu halten: Ich brauche den Plan Eurer Tochter, wann sie wo patrouilliert.“

„Patrouilliert?“ fragte Sgillin verwirrt.

„Meine erstgeborene Tochter“, antwortete Sarin, „ist Mitglied im militärischen Flügel des Harmoniums. Und sie nimmt natürlich alle Pflichten wahr, die damit verbunden sind.“

„Ich verstehe“, erwiderte der Halbelf, „Ich wusste nur nicht, dass Ihr auch schon so junge Mitglieder habt.“

„Marinda ist siebzehn“, entgegnete Sarin knapp und wandte sich dann ohne weitere Erklärungen an Naghûl. „Also, Faktotum, diese Informationen sind sehr ... na ja, delikat. Wenn ich sie weitergebe, dann müsst Ihr sie hüten wie Euren eigenen Sinnstein - ich hoffe, die Metapher trifft es in Eurem Fall.“

„Natürlich, Bundmeister“, versicherte Naghûl, „Ich möchte Euch aber vorwarnen. Es kann durchaus sein, dass sie in den nächsten Tagen sehr enttäuscht sein wird, weil sie in diesem Vogel wohl gerne etwas anderes gesehen hätte.“

„Damit kann ich leben“, erwiderte der Paladin, „Lieber eine Tochter mit verquerem Liebeskummer, als eine, die unter Anarchisten gerät oder entführt wird oder die Dame weiß was.“

„Das sehe ich ganz genau so“, pflichtete der Tiefling bei. „Mit Anarchisten habe ich es persönlich auch nicht so. Und das ist meine ehrliche Meinung, kein Honig.“

Sarin lächelte tatsächlich kurz. „Das glaube ich Euch. Die Sinnsaten sind ein merkwürdiger Haufen, wenn Ihr die Wortwahl verzeiht, aber sie sind ebenso wie wir an der Stabilität dieser Stadt interessiert.“ Er begann nebenbei, die Papiere auf seinem Schreibtisch zu durchsuchen.

Naghûl grinste. „Ich bestehe auf dieser Wortwahl.“

Sarin blickte auf und hob eine Braue. „Ich bin beruhigt, meine Vorurteile gerechtfertigt zu finden. Aber richtet Lady Erin bitte aus, ich werde trotzdem keinen Sinnstein benutzen, vor allem nicht den mit ...“ Zu Naghûls Enttäuschung ließ er die Papiere sinken, ehe er erwähnen konnte, um welchen Sinnstein es ging. "Ach, verdammt ...“, rutschte es ihm heraus. „Verzeihung ...“ Er ging zu einer Tür im hinteren Teil des Büros und wandte sich an den Sinnsaten, als er dessen fragenden Blick bemerkte. „Ich dachte, ich hätte ihren Dienstplan hier liegen, aber Marinda hat ihn wohl schon mitgenommen. Einen Moment bitte.“ Er öffnete die Tür, hinter der prompt einige Kinderstimmen zu hören waren. Naghûl nickt kaum merklich. Der Durchgang führte offenbar direkt zu den privaten Gemächern des Bundmeisters und seiner Familie.

„Marinda!“ rief Sarin. Als keine Antwort kam, wiederholte er sich, diesmal lauter. „MARINDA!“ Der Tiefling zuckte ob der unerwarteten Lautstärke von Sarins Stimme kurz zusammen. Kein Wunder, dass er sich mühelos auch in den chaotischen Straßen Sigils Gehör verschaffen konnte. Als sich immer noch nichts tat, bekam seine Stimme einen unverkennbar ungeduldigen Beiklang. „Marinda, heute noch! … Meine Güte.“

Naghûl blickte etwas betroffen drein. Die Situation entwickelte sich nicht ganz so wie gewünscht. Er hoffte wirklich, dass das Mädchen keinen Ärger bekam, das war das Letzte, was er wollte. Dann endlich kam Marinda angehetzt. Sie hatte das schwarze Haar beider Eltern, aber den hellen Teint der Mutter geerbt, und Naghûl hätte sie vielleicht sogar jünger als siebzehn Jahre geschätzt. Sie trug einen Waffenrock mit dem Symbol des Harmoniums und stolperte nun eilig durch die Tür.

„Ich bin ja schon da, Bundmeister.“

„Hast du vorher noch einen Abstecher nach Melodia gemacht?“ Ihr Vater schüttelte missbilligend den Kopf.

Sgillin und Naghûl verneigten sich gen Marinda, die erst jetzt die beiden Besucher in ihres Vater Büro bemerkte und diesen höflich zunickte.

„Zum Gruße“, sagte sie und wandte sich dann wieder Sarin zu. „Verzeihung, ich habe nur ...“

Der Bundmeister ließ sie nicht zu Wort kommen. „Tür!“ unterbrach er sie energisch.

„Verzeihung!“ Das Mädchen drehte sich um und schloss die Tür hinter sich.

Naghûl weitete die Augen. War dies etwa der normale Umgang des Bundmeisters mit seinen Kindern? Er hoffte zu der Dame, dass dem nicht so war.

„Was ist denn?“ fragte Marinda nun.

Sarin warf ihr einen finsteren Blick zu. „Was ist denn? Ich höre wohl nicht richtig. Was soll das für ein Auftritt sein? Haltung!“

Marinda nahm sofort Haltung an. „Verzeihung.“ Sie gab sich sichtlich Mühe. „Melde mich zum Dienst.“

Sarin winkte ab. „Ach was, zum Dienst. Der fängt doch erst in einer Stunde an.“

„Ach so, ja ...“ Das Mädchen wirkte nun leicht überfordert. „Also, jetzt nicht antreten, oder wie …?“

Sgillin musste sich ein Grinsen verbeißen und Naghûl blickte Marinda mitfühlend an. Er hatte das Gefühl, er sollte diese Szene wirklich nicht miterleben.

„Oder wie?“ wiederholte Sarin aufgebracht, „Also bitte, eine angemessenere Wortwahl!“

„Verzeihung, Vater.“

Der Paladin hob eine Braue. „Vater?“

„Ähm, Bundmeister.“ Das Mädchen runzelte die Stirn. „Also, jetzt doch im Dienst, oder w... ?“ Sie verschluckte den Rest des Satzes.

Sarin vergrub kurz das Gesicht in den Händen. „Ja, schon gut. Ich wollte hier eigentlich einen vorbildlichen Auftritt, der zeigt, dass ... Egal, zu spät. Meine Güte.“

Marinda stand sichtlich überfordert im Raum und Naghûl versuchte, unschuldig zu lächeln und biss dabei auf seiner Unterlippe herum. Er wäre am liebsten im Boden versunken, und das obwohl er nicht einmal das Ziel von Sarins Unmut war.

Der Bundmeister streckte nun die linke Hand aus. „Dienstplan.“

Verunsichert blickte Marinda auf ihres Vaters Hand. „Ich ... sehe keinen.“

„Dienstplan!“ wiederholte Sarin ungehalten.

Sgillin fiel es offensichtlich immer schwerer, das Grinsen zu unterdrücken, während Naghûl sich eher verzweifelt fühlte. Hätte er doch nie nach dem dummen Dienstplan gefragt. Hundert andere Möglichkeiten hätte es gegeben!

Marinda sah ihren Vater zweifelnd an. „Vater, du hast doch gar keinen in der Hand. Bist du überarbeitet?“ Ihr schien erst jetzt wieder einzufallen, dass ja Sgillin und Naghûl noch im Raum waren und sie biss sich auf die Lippen.

Sarin atmete tief ein, was fast wie ein leises Grollen klang. „Dein Dienstplan! Wo ist er?“

Trotz aller Harmoniumsdisziplin – oder versuchten Disziplin – war Marindas Gesichtsausdruck eindeutig der einer genervten Siebzehnjährigen. „Ähm ... in meinem Zimmer?“

„Ja, dann her damit!“ befahl Sarin barsch, „Wozu rufe ich dich denn?“

Sgillin wandte sich ab und täuschte einen Hustenanfall vor, um das Lachen zu verbergen.

„Ähm, keine Ahnung“, erwiderte das Mädchen nun mit einem Anflug von Trotz, „Du hast ja nur MARINDA gebrüllt.“

Sarin atmete erneut durch, ehe er betont ruhig und langsam befahl: „Hol - deinen - Dienstplan.“

„Ja, Va …“ Sie zögerte. „Bundmeister?“

„Egal wie, aber hol ihn!“

Marinda verschwand schnell durch die Tür, ohne sie jedoch hinter sich zu schließen.

„Tür!“ rief Sarin ihr nach.

Sie kam zurück, um die Tür zu schließen, man hörte noch ein gedämpftes „Ja, ja ...“, ehe sie ins Schloss fiel.

Der Bundmeister rieb sich die Schläfen. „Verzeihung … Kinder.“

Naghûl versuchte noch immer, völlig ruhig und unberührt zu wirken. „Ähm ja … in in diesen Genuss werde ich wohl nie kommen.“

„Warum nicht?“ fragte Sarin in seiner direkten Art. „Möchtet Ihr keine Kinder?“

„Meine Frau ist eine Bal'aasi“, erklärte Naghûl sachlich.

„Oh.“ Der Paladin nickte und seine Miene wechselte von angespannt zu bedauernd. „Ich verstehe, das ist natürlich etwas anderes. Tut mir leid, die Frage stand mir auch nicht zu.“

Naghûl lächelte entschuldigend. „Würdet Ihr nicht fragen, würdet Ihr es nicht erfahren. Wir leben damit und denken über eine Adoption nach.“

Sarin lachte kurz. „Ich habe neun davon, ich könnte eventuell eines abtreten.“ Dann räusperte er sich. „Verzeihung, man gewinnt einen gewissen, wenn auch unangebrachten, schwarzen Humor in meiner Lage, fürchte ich.“

„Ihr solltet eine Kegelbahn aufbauen lassen“, rutschte es Naghûl heraus und im selben Moment biss er sich auf die Zunge. Er sollte es wirklich nicht zu weit treiben.

Doch Sarin seufzte nur. „Reizvoller Gedanke. … Wenn das meine Frau gehört hätte ...“ Er ging zur Tür und öffnete sie wieder. „Marinda, heute noch!“

Tatsächlich eilte wenig später seine Tochter heran, ging drei Schritte in den Raum, stoppte dann, drehte sich um und schloss die Tür. Sie streckte ihrem Vater die Hand mit einem Zettel hin. „Dienstplan!“

Etwas unsanft nahm Sarin den Zettel an sich. „Danke.“

Marinda salutierte. „Bundmeister!“

„Ja, schon gut.“ Sarin winkte gereizt ab.

Nun wurde ihr Gesichtsausdruck nicht trotzig. Zu Naghûls Überraschung auch nicht traurig oder wütend. Ihr Blick war in der Tat besorgt.

„Was ist denn los?“ fragte sie leise.

Sarin ließ die Hand mit dem Dienstplan sinken und seufzte. Mit einem Mal fiel alle Strenge und Schroffheit von ihm ab und er warf seiner Tochter einen entschuldigenden Blick zu.

„Ich habe einfach viel zu tun, Marinda. Anarchisten, Ortho, Nem … viel eben. Ist schon gut.“ Seine Stimme war nun leiser und deutlich sanfter. „Ich will nur nicht, dass der Eindruck entsteht, ich würde in unserem Bund meine eigenen Kinder als Mitglieder bevorzugen.“

Marinda lächelte und Naghûl hatte den Eindruck, dass sie ganz genau wusste, worum es ihrem Vater hier ging. Sie reagierte wie auf ein vertrautes Thema, das ihr nur allzu bekannt war. „Ich weiß. Wenn es dir hilft, werde ich jedem erzählen, wie schlecht du mich behandelst.“ Sie stockte und blickte zu den Besuchern. „Also, nur im Dienst. Na, du weißt schon.“

Sarin musste schmunzeln. „Das habe ich überhört.“ Er klang jedoch durchaus erheitert. „Danke, Marinda, das war es schon. Komm bitte pünktlich zu deiner Schicht.“

„Komm ich doch immer!“ versicherte das Mädchen im Brustton der Überzeugung. Auf einen Blick ihres Vaters hin grinste sie etwas. „Also, fast. Schon gut, dann bis zum Abendessen, Papa. - Hab dich lieb“, fügte sie noch etwas leiser hinzu.

Sgillin schmunzelte und Naghûl war sicher, dass man ihm die Erleichterung hätte ansehen können, hätte in diesem Moment jemand zu ihm geblickt. Es war schön zu sehen, dass der Bundmeister und seine Tochter offenbar doch ein herzliches Verhältnis pflegten, so wie man es von Eltern und Kindern in den meisten Ecken der Ebenen erhoffte.

Sarin strich Marinda kurz über das Haar. „Ich dich auch“, erwiderte er. „Geh schon.“

Sie eilte hinaus ohne die Tür zu schließen, doch diesmal rief ihr Vater ihr keine Rüge hinterher, sondern seufzte nur und schloss die Tür selbst. Dann reichte er Naghûl den Dienstplan. „Bitte sehr. Ihr Dienst beginnt in einer Stunde. Darf ich fragen, was Euch vorschwebt?“

Naghûl lächelte. „Ein Gesicht des Eichelhähers, das ihr nicht gefallen wird. Alles vollkommen legal, moralisch in Ordnung, aber bestimmt nicht nach ihrem Geschmack.“ Er studierte dabei kurz den Plan und Sarin nickte.

„Solange es legal ist, soll es mir Recht sein.“

„Ach was soll's.“ Naghûl beschloss, dass es sicherer und nur angemessen war, den Bundmeister in seinen Plan einzuweihen. Es ging immerhin um seine Tochter. „Der Eichelhäher scheint in der Wahl des Geschlechts seiner Partner nicht immer eindeutig zu sein.“

Sarin lächelte ein wenig. „Tatsächlich? Und Ihr denkt, sie lässt sich dadurch abschrecken? Na ja, warum nicht? Es ist vielleicht einen Versuch wert.“

„Es wäre wohl die angenehmste Lösung für alle“, erwiderte der Sinnsat, „Er tut, was er immer tut, und sie sieht es, weil ich ein klein wenig Einfluss darauf nehmen kann.“

Sarin schien nicht vollkommen überzeugt, nickte aber. „Ihr werdet wissen, was Ihr macht. Ich wünsche Euch viel Erfolg bei dieser leidigen Geschichte. Richtet bitte Lady Erin meine Grüße aus. Ach ja, und sagt ihr, wenn ich wieder eine Empfehlung wegen eines Geschenks für meine Gattin brauche, werde ich auf sie zurückkommen. Ihr letzter Rat war ein großer Erfolg.“

„Ihr Geschmack ist vortrefflich“, bestätigte Naghûl schmunzelnd, „Ich werde es sie wissen lassen.“

„Dann warte ich auf Euren Bericht. Der Segen der Dame.“

„Der Segen der Dame, Bundmeister Sarin“, antwortete der Tiefling, „Habt Dank für Eure Zeit.“

Sarin hob eine Braue. „Natürlich, Ihr arbeitet ja immerhin für mich.“

Naghûl sagte nichts dazu, doch trotz allen diplomatischen Geschicks konnte er nicht verhindern, dass seine Miene keine uneingeschränkte Freude ausstrahlte. Sarin schien seinen Gesichtsausdruck durchaus deuten zu können, denn es erschien ein winziges, wissendes Lächeln in seinen Mundwinkeln, ehe er seine Gäste mit einer gnädigen Handbewegung entließ. Naghûl und Sgillin verbeugten sich und verließen des Bundmeisters Büro. Die hilfsbereite Jostos brachte die beiden Männer wieder nach unten, und Naghûl bemerkte, dass er sich erst vor dem Eingang der Kaserne wieder wirklich entspannte. Der Auftrag war gewiss eine seltene und spannende Erfahrung, aber bei der Dame, was hatte er sich da nur eingebrockt?

 

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gespielt am 11. Dezember 2011

 

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