„Auf unsere Weise oder gar nicht.“
Philosophie des Harmoniums
Vierter Markttag von Regula, 126 HR
Amariel schritt den langen Gang hinunter, von dem die Quartiere der einfachen Soldaten abgingen. Er nahm eine ganze Seite im unteren Geschoss der Kaserne ein, und somit dauerte es eine Weile, bis sie die Tür mit der von ihr gesuchten Nummer erreicht hatte. Ihr Bundmeister höchstselbst hatte sie beauftragt, hier einem neuen Bundmitglied zur Seite zu stehen. Sie war von der Aufgabe ein wenig überrascht gewesen, denn sie wusste nicht viel mehr, als dass der junge Mann Materier war und aus Gründen, die Sarin noch unter Verschluss hielt, die achtwöchige Grundausbildung übersprungen hatte und sogleich als Soldat aufgenommen geworden war. Sie hatte jedoch keine weiteren Fragen gestellt, denn wenn ihr Bundmeister sich nicht näher dazu äußerte, so hatte er gewiss gute Gründe dafür. Im Gegensatz zu den anderen Bundmitgliedern, die den Rang einfacher Krieger einnahmen, war Kiyoshi, so hatte Sarin ihn genannt, ein Raum für sich allein zugewiesen worden. Auch das war ungewöhnlich, da es ansonsten nur einem Faktotum vom Rang eines Triarius dritten Grades aufwärts zustand. Der Bundmeister hatte erwähnt, dass der neue Soldat sich erst zwei Mal gegen das Privileg gewehrt hatte, ein eigenes Zimmer zu bekommen. Erst beim dritten Mal hatte er schließlich nachgegeben. Nun war Amariel gespannt, wen sie in diesem Raum antreffen würde, der zwar ganz neu im Bund, aber offenbar dennoch wichtig genug war, dass Sarin ihm seine persönliche Adjutantin als Unterstützung zur Seite stellte. Sie klopfte an und fast sofort wurde die Tür geöffnet. Amariel erblickte einen jungen Mann von kaum mehr als zwanzig Jahren, mit kurzem, schwarzem Haar und dunklen, mandelförmigen Augen. Seine Haut hatte einen bronzenen Schimmer.
„Der Segen der Dame, Soldat“, grüßte die Halbelfe freundlich. „Ihr müsst Kiyoshi sein, nicht wahr? Ich bin Dekuria Amariel, sehr erfreut. Bundmeister Sarin teilte mir mit, dass aufgrund besonderer Umstände die achtwöchige Grundausbildung für Euch wegfällt und Ihr sofort in den aktiven Dienst tretet. Ich soll Euch in alle wichtigen Gegebenheiten einweisen und bei Fragen und eventuellen Schwierigkeiten unterstützen.“ Sie hielt ihm zwei Bücher entgegen. „Außerdem soll ich Euch dies hier geben. Es ist einmal das Gesetzbuch der Stadt Sigil und einmal das Buch des Harmoniums. Viele Dinge, die Ihr wissen müsst, stehen dort niedergeschrieben. Und für alles andere könnt Ihr Euch an mich wenden.“ Sie machte eine kurze Pause, doch als er sich nur verneigte und schwieg, fuhr sie fort. „Und wie sieht es aus? Gibt es etwas besonders Wichtiges, das ich Euch erklären soll oder möchtet Ihr erst mit mir durch die Kaserne gehen, damit ich Euch alles zeigen kann?“
Kiyoshi nahm die beiden Bücher mit einer weiteren Verbeugung entgegen und antwortete: „Erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei. In der Tat ist mein unwürdiger Name Kiyoshi und ich bin wohl ein Soldat des ehrenwerten Harmoniums. Ich danke Euch vielmals für die auf Euch genommenen Mühen, mir diese Bücher zu überreichen und mich zu unterrichten. Da Ihr die größere Erfahrung habt, würde ich selbstverständlich Euch den Ablauf der Ausbildung überlassen, wie es sich gebührt.“
Dann legte er die beiden Bücher respektvoll auf das Bett, neben den gewaltigen Schmiedehammer, der dort bereits die Matratze zusammendrückte - doch nicht zu viel, was auf eine harte Matratze schließen ließ. Seine Wortwahl überraschte Amariel, und sie musste lächeln.
„Unsere Rekruten und Soldaten sind natürlich stets diszipliniert und respektvoll“, erklärte sie. „Aber ich muss zugeben, nur sehr selten drückt sich jemand aus wie Ihr. Legat Shar hatte angemerkt, dass Ihr aus einer Welt kommt, die offenbar großen Wert auf korrekte Umgangsformen legt. - Wie nanntet Ihr mich? Eine ... Sensei? Das ist eine Art Lehrerin, oder? Das würde die Sache schon ganz treffend beschreiben, denke ich.“
Kiyoshi nickte mit ernstem Gesichtsausdruck. „Ihr habt, wie zu erwarten, richtig erkannt, wofür die Ehrenbezeichnung steht, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei.“ Dabei verneigte er sich vor ihr mit vor der Brust gefalteten Händen.
Sie nickte ihm zu. „Also gut, Kiyoshi. Bitte folgt mir, ich werde Euch zuerst alle Einrichtungen und wichtigen Orte in der Kaserne zeigen. Legat Shar sagte mir, das hätte bisher noch niemand getan.“ Sie trat hinaus auf den langen Flur und deutete dabei nach rechts und links. „Diesen Flügel kennt Ihr ja. Hier befinden sich die Quartiere der einfachen Soldaten. Normalerweise sind zwei bis vier in einem Raum, aber der Bundmeister sagte, es gäbe wichtige Gründe, weshalb Ihr ein Zimmer alleine habt. Er klang recht geheimnisvoll, aber da er mir nicht gesagt hat, worum es dabei geht, ist es auch nichts, das mich zu interessieren hätte.“ Sie deutete wieder den Flur hinauf und hinunter. „Hier ist natürlich nicht Platz für alle Bundmitglieder der Stadt. Wir haben immerhin um die 35.000 Leute in Sigil. Das bedeutet, dass Soldaten auch in eigenen Quartieren außerhalb der Kaserne leben. Manche davon gehören ihnen selbst, andere stellt das Harmonium bereit. Oh.“ Sie unterbrach sich. „Wenn Ihr Fragen haben solltet, dann stellt sie mir bitte einfach. Ich bin schließlich hier, um Euch zu helfen.“
Kiyoshi folgte der Halbelfe schweigend und aufmerksam. Jede Information schien er in sich aufzusaugen und an passenden Stellen nickte er, wie um anzuzeigen, dass er die Worte verstanden und aufgenommen hatte.
„Ich danke Euch für diese Erlaubnis, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei“, antwortete er, als die Frage an ihn gerichtet wurde. „Ich werde Euch jede Frage, die ich habe, stellen und mich völlig auf Eure Weisheit und Eure Erfahrung stützen. Und in der Tat habe ich eine Frage. Vergebt meine Unwissenheit, aber sind die Verbrechen unterschiedlich im Rang? Muss ich also ein geringeres Verbrechen ungestraft lassen, wenn ich dadurch ein schlimmeres Verbrechen vereiteln kann? Und wenn ja, wie lautet die Priorität?“
Abermals überrascht hob Amariel eine ihrer Brauen. Rekruten und neue Soldaten fragten für gewöhnlich erst einmal, wann und und wo es Essen gab, wie schnell man befördert werden konnte oder wie oft man freie Tage hatte, je nach Ehrgeiz und Veranlagung. Dass ein Neuling sich sofort nach der Priorisierung von Verbrechen erkundigte, kam eher selten vor.
„Das ist eine sehr gute Frage, Kiyoshi“, antwortete sie. „Tatsächlich müssen wir ab und an entscheiden, welches von zwei Verbrechen wir verfolgen. Wie Ihr bereits richtig vermutet habt, hat es dabei natürlich Vorrang, ein schweres Verbrechen zu ahnden oder zu verhindern. Wenn Ihr beispielsweise einen Diebstahl müsstet durchgehen lassen, um einen Mörder festzusetzen, dann hätte ganz klar der Mordfall Priorität. Als schwere Verbrechen ordnen wir Mord, direkte Angriffe gegen die Stadt Sigil oder die Bünde, Verehrung der Dame und Aoskars, Angriffe auf Dabus, Manipulation oder Blockade von Portalen, illegalen Sklavenhandel und Brandstiftung ein. Mittelschwere Verbrechen wären beispielsweise Raubüberfall, Einbruch, schwere Körperverletzung, schwerer Diebstahl oder Betrug und illegaler Handel mit verbotenen Substanzen. Harmlosere Verbrechen wären Diebstahl von weniger wertvoller Ware, geringerer Betrug oder Vandalismus in geringem Ausmaß. Dann gibt es noch Dingen, die eher Ordnungswidrigkeiten als Verbrechen sind, zum Beispiel Ruhestörung oder Belästigung. Eine genaue Auflistung findet Ihr im Gesetzbuch von Sigil, das ich Euch gegeben habe.“
Kiyoshi nickte und lauschte aufmerksam, als sie ihm erklärte, wie das Gesetz zu handhaben war. Dann deutete er abermals eine Verbeugung mit gefalteten Händen vor der Brust an und antwortete: „Ich danke Euch vielmals dafür, dass Ihr mich erleuchtet habt, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei. Ich bin nun wieder bereit, Euren weiteren Worten bezüglich dieses Gebäudes zu lauschen.“
Sie konnte ein erneutes Schmunzeln ob seiner Ausdrucksweise nicht unterdrücken, als er ihr weiter auf dem Weg durch die Kaserne folgte und offenbar versuchte, sich aufmerksam alles einzuprägen, was sie ihm über den Aufbau, die Verwendung der Räume und sonstiges Prozedere erklärte. Amariel führte ihn den langen Gang hinab, und es dauerte eine ganze Weile, ehe der Gang sich verbreiterte und dann nach rechts abknickte, um wieder in einer langen Linie geradeaus zu führen.
„Hier befinden sich nun die meisten unserer Büros und ein großer Teil der Instruktionsräume“, erklärte die Dekuria, „Die Büros brauchen wir für Verwaltungszwecke wie das Erstellen der Schicht- und Dienstpläne, die Aufnahme von Personalien oder weniger wichtige Termine und Unterredungen mit anderen Bünden und Organisationen. In den Instruktionsräumen werden Einsätze besprochen und wichtige Informationen an die Patrouillen weitergegeben. Allerdings findet auch die theoretische Ausbildung der neuen Mitglieder hier statt sowie der Unterricht für die Offiziersanwärter. Denn sie müssen sich eingehender mit den Gesetzen Sigils und der Geschichte und Philosophie unseres Bundes befassen. Insbesondere werden auch unsere Kleriker und Paladine hier in religiösen Fragen weitergebildet, aber ebenso die Kampfmagier in arkanen Fragen.“
Als sie dem langen Gang weiter folgten, passierten sie die Empfangshalle zu ihrer Linken sowie mehrere vergitterte Zellen zur Rechten.
„Die Rezeption kennt Ihr ja bereits“, wandte sich Amariel an Kiyoshi. „Tagsüber ist dort meistens Lady Diana anzutreffen, um Gäste zu empfangen oder Besuchern zu sagen, wohin sie sich mit welchem Anliegen wenden sollen. Ist sie nicht da, wird sie zumeist von Dekuria Jostos vertreten. Rechts sind die Zellen, in denen Verdächtige erst einmal arretiert werden, ehe wir sie ins Gefängnis verlegen. Da wir nicht so viele Zellen haben, dass wir alle, die auf einen Prozess im Gerichtshof warten, hier unterbringen könnten, sind viele Angeklagte bis zur Verhandlung im Gefängnis, auch wenn sie noch nicht verurteilt wurden.“
Während
sie an den Zellen vorübergingen, konnten sie unter anderem einen
grobschlächtigen Halbork, eine einfach, aber nicht abgerissen gekleidete
Halbelfe und einen grünen Kobold mit einer seltsamen Mütze hinter den
Gitterstäben erkennen.
„Verhöre werden auch oft direkt hier in den
Zellen durchgeführt“, erklärte Amariel. „Unsere Vorschriften besagen,
dass bei jedem Verhör mindestens zwei Mitglieder des Harmoniums anwesend
zu sein haben, und davon zumindest eines im Rang eines Triarius zweiten
Grades stehen muss. Ich lege Wert auf die Feststellung, dass Verhöre in
der Kaserne nur verbal durchgeführt werden. Folter in jeder Weise ist
die Aufgabe der Gnadentöter und wird ausschließlich vom Roten Tod im
Gefängnis angewendet, aber nicht hier in der Kaserne.“
Sie
wusste, dass gerade Neu-Mitglieder mit dunklerem Herzen diese Regeln
und Richtlinien nicht immer gerne hörten und ebenso, dass – trotz aller
besseren Bemühungen des Bundmeisters und der Führungsriege – einige
Mitglieder sich nicht immer an diese Vorgaben hielten, wenn sie dachten,
damit davonkommen zu können. Sie schätzte Kiyoshi zwar nicht so ein,
hatte aber dennoch bei diesen Worten einen gewissen Nachdruck in ihre
Stimme gelegt. Dann blieb sie kurz stehen, um abzuwarten, ob der junge
Mann Fragen hatte. Er musterte die drei Gefangenen zwar für einen
längeren Zeitraum, wollte jedoch ansonsten nichts dazu wissen. So führte
Amariel ihn weiter, und er folgte ihr wortlos. Sie gelangten in eine
sehr weitläufige, von vielen Säulen eingerahmte Halle, in der sich
mehrere erhöhte Podien befanden.
„Dies ist das große Auditorium“,
erklärte die Dekuria, „Dreimal täglich finden hier Einweisungen für die
Patrouillen statt, ehe sie sich auf den Weg durch den Käfig machen. Es
werden dabei vor allem wichtige Informationen zur aktuellen Lage in den
Straßen Sigils gegeben. Zum Beispiel, ob es irgendwo Unruhen gab und wo,
welche religiösen Feste an jedem Tag stattfinden, ob es öffentliche
Prozessionen oder andere Veranstaltungen in dieser Art gibt und so
weiter. Außerdem versammeln wir uns hier für größere Ereignisse wie
Auszeichnungen und Beförderungen von Mitgliedern oder Ansprachen unseres
Bundmeisters. Ich hoffe, Ihr könnt das bald einmal selbst miterleben."
Amariel vermutete, sie konnte nicht ganz verhindern, dass ihre Augen zu
strahlen begannen. "Sarin ist unglaublich, wenn er spricht. Egal, ob
hier in der Kaserne oder in der Halle der Redner. Ich glaube, das
Harmonium hatte seit langem keinen so beachtlichen Bundmeister - wobei
Sarins Vorgängerin, Lady Spesinfracta, natürlich eine großartige Frau
war! Doch Sarin ist wirklich einzigartig, wisst Ihr? Er ist ein
geborener Anführer! Wir verehren ihn sehr.“
Kiyoshi antwortete mit der ihm eigenen Ruhe. „Selbstverständlich habt Ihr recht, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei. Der ehrwürdige Bundmeister Sarin-gensui ist in der Tat eine beeindruckende Persönlichkeit.“
Amariel spürte, wie ihr etwas wärmer wurde und sie fürchtete, ein wenig zu erröten. Ihre enthusiastische Begeisterung war gewiss nicht zu übersehen gewesen. Sie schalt sich innerlich eine Närrin, ihre Gefühle für ihren Bundmeister nach außen hin nicht professioneller verstecken zu können. Sie musste das in den Griff bekommen, unbedingt. Für einen Moment war ihr Lächeln daher ein wenig verlegen. Sie strich sich eine lange, blonde Haarsträhne aus der Stirn und räusperte sich. „Das ist er! Also, ähm ... wo war ich? Ach ja, ich wollte Euch den Innenhof zeigen. Folgt mir doch bitte.“
Dann wandte sie sich rasch dem anderen Ausgang zu und führte Kiyoshi durch das weitläufige Auditorium, vorbei an den erhöhten steinernen Podesten. Auf einem davon stand der Sitz des Bundmeisters, wie bei den meisten Bünden Sigils auch im Harmonium gemeinhin als „Thron“ bezeichnet. Jener Thron, den Sarin niemals benutzte. Noch nicht ein einziges Mal seit seinem Amtsantritt vor mehr als vier Jahren hatte er darauf gesessen. Und es wirkte nicht so, als hätte er es je vor. Warum er das nicht tat, entzog sich Amariels Kenntnis und war im Bund wie auch außerhalb davon Gegenstand verschiedener Spekulationen. Es lag wohl nicht daran, dass Delazar sehr oft auf diesem Thron gesessen hatte, da sowohl Lady Juliana nach ihm als auch Lady Arella zuvor den Thron ebenfalls regelmäßig genutzt hatten. Und auch bundübergreifend war das in Sigil vollkommen üblich. Selbst allgemein als sehr volksnah bekannte Bundmeister wie Terrance, Darius oder Ambar, die wenig Wert auf übertriebene Status-Demonstrationen legten, nutzten ihre jeweiligen Throne mehr oder weniger regelmäßig. Es war also keine Geste, von man sagen konnte, dass sie von Unbescheidenheit, Überheblichkeit oder gar Herrschsucht gesprochen hätte. Und dennoch ignorierte Sarin diesen Stuhl, so als würde er schlichtweg nicht existieren und empfing Gäste, egal welchen Ranges, stets in seinem Büro. Vielleicht, so dachte Amariel bei sich, würde sie eines Tages wagen, ihren Bundmeister danach zu fragen. Wenn sie ihre neue Rolle als seine Adjutantin länger und zu seiner Zufriedenheit ausübte. Aber bis dahin würde Sarins Verhalten ihr wohl erst einmal unbegreiflich bleiben. Sie riss sich aus diesen Gedanken und öffnete die Tür am anderen Ende des Auditoriums, das sie inzwischen erreicht hatten. Sie führte in einen weiteren großen Raum, in dem viele Tische und Bänke standen.
„Dies ist die große Messe. Hier
nehmen die Soldaten ihre Mahlzeiten ein“, erklärte Amariel. „Natürlich
in mehreren verschiedenen Schichten, da nicht alle im aktiven Dienst
befindlichen Mitglieder auf einmal in diese Halle passen würden.“ Sie
deutete auf eine große Tür zu ihrer Rechten. "Und dort geht es in den
Innenhof.“
Sie nickte den dort Wache stehenden Soldaten zu, und man
ließ sie sofort passieren. Die kühle Luft eines grauen Sigiler
Nachmittags umfing sie, als die beiden nun einen sehr großen Hof
betraten, der von den vier Türmen und den langen, dunklen Mauern der
Kaserne eingerahmt wurde. Er erstreckte sich in Länge und Breite über
etwa 300 Schritt, der Boden war zu weiten Teilen nicht gepflastert,
sondern bestand aus festgetretener Erde, die an vielen Stellen mit Gras
bewachsen war. Man konnte deutlich erkennen, wo besonders viel trainiert
wurde, dort war nur die blanke Erde zu sehen.
„Hier findet die
Ausbildung der neuen Mitglieder statt“, erklärte Amariel. „Aber auch die
täglichen Übungen der erfahreneren Soldaten und der Offiziere. Selbst
unser Bundmeister trainiert regelmäßig hier draußen. Der
Nahkampf-Bereich ist dort, in diesem mit Holzzäunen abgetrennten Areal.
Dort drüben sind die Ziele für die Bogen- und Armbrustschützen
aufgestellt. Auf der anderen Seite dort, spitzewärts, ist ein Bereich
für den berittenen Kampf. Es gibt nicht allzu viele Pferde oder andere
Reittiere in Sigil, auch nicht in unseren Reihen, aber einige höhere
Offiziere besitzen welche. Außerdem werden hier auch größere Übungen
abgehalten, die nicht nur einzelne Mitglieder oder Trupps, sondern ganze
Kompanien oder sogar Bataillone betreffen. Der Bundmeister spricht hier
draußen, wenn sehr viele Mitglieder zuhören sollen, denn dann wäre auch
im großen Auditorium nicht genug Platz dafür. Bestrafungen für
schwerere bundinterne Vergehen werden ebenfalls hier draußen
durchgeführt, wenn sie öffentlich sein sollen.“
Bei diesen Worten schien Kiyoshi aufzuhorchen. „Verzeiht ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei“, meldete er sich zu Wort. „Doch gibt es irgendwo eine Liste der bundinternen Vergehen und der Bestrafungen, auf dass ich mich entsprechend vorbereiten und diese Dinge umgehen kann, um so ein besseres Mitglied des Harmoniums zu werden?“
Amariel nickte. „Im Buch des Harmoniums, das ich Euch gegeben habe, könnt Ihr diese Punkte genauer nachschlagen. Ich gebe Euch aber einen kurzen Überblick: Verboten ist uns natürlich alles, was durch die Gesetze der Stadt Sigil untersagt wird. Verbrechen wie Mord, Diebstahl, Herumspielen an Portalen, Steuerhinterziehung, Anbeten der Dame oder Aoskars und so weiter. Wenn ein Mitglied dagegen verstößt, wird es gemäß den Gesetzen Sigils bestraft. Bundinterne Vergehen umfassen zudem Pflichtversäumnis oder -verletzung, Ungehorsam oder Missachtung der Grundsätze des Harmoniums. Ein Nicht-Erscheinen zum Dienst oder wiederholte Verspätungen wären ein Pflichtversäumnis, wohingegen das absichtliche Nicht-Verfolgen eines Verbrechens eine grobe Pflichtverletzung wäre. Hierbei muss natürlich ein Vorgesetzter immer von Fall zu Fall unterscheiden. Einen Taschendieb nicht in die Tiefen des Stocks hinein zu verfolgen, wäre zum Beispiel keine Pflichtverletzung. Das sollen wir sogar ausdrücklich unterlassen. Es ist ein zu großes Risiko für ein vergleichsweise geringes Vergehen. Wird aber zum Beispiel mitten im Kuratorenbezirk jemand bedroht oder angegriffen, dürfen wir nicht einfach vorbeigehen. Was Ungehorsam gegenüber Vorgesetzten bedeutet, ist sicher klar. Wie streng ein Vorgesetzter gegenüber seinen Untergebenen ist, variiert aber auch in unserem Bund durchaus. Übliche Bestrafungen für harmlosere Verstöße sind zum Beispiel zusätzliche Wachdienste oder Patrouillengänge, zusätzliche Exerzierübungen oder das Kürzen des Soldes, falls der Betreffende keine Familie zu ernähren hat. Für schwerwiegendere Vergehen kommen Arrest von unterschiedlicher Dauer, Versetzungen und Degradierungen in Frage. Auch die körperliche Züchtigung ist eine Strafe, die verhängt werden kann. Dies kam allerdings in den letzten Jahren nicht mehr vor, da sowohl Bundmeister Sarin als auch schon seine Vorgängerin Bundmeisterin Juliana diese Art der Bestrafung nicht begünstigen. Sie sagen, wir seien hier nicht bei den Gnadentötern.“ Amariel lächelte kurz, ehe sie wieder ernster wurde. „Desertation wird in schweren Fällen mit dem Tod bestraft, in geringeren Fällen mit Arrest. Wenn man seiner Pflicht nicht mehr nachkommen will, dann muss man den Bund verlassen. Aber dies muss auf offiziellem Weg geschehen und ist eine endgültige Entscheidung. Zudem sollte es gute Gründe dafür geben. Man darf sich aber nicht seinen Pflichten entziehen, solange man Mitglied ist. Ich hatte zudem die Grundsätze des Harmoniums erwähnt. Es handelt sich dabei um zehn Grundregeln unsere Bundes, die Ihr auch im Buch des Harmoniums findet. Wenn Ihr wünscht, kann ich dazu auch etwas erklären.“
Kiyoshi hörte sich alles aufmerksam an und antwortete dann: „Ich verstehe bis hierhin das meiste, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei. Eine Frage stellt sich mir jedoch, wenn Ihr verzeiht. Ich habe bereits eine Pflicht gegenüber meinem Herrn und Fürsten, dem Daimyo Musashi Ittosai, Herr über Kamigawa. Wenn er mich ruft, muss ich seinem Ruf folgen. Wie soll das möglich sein, wenn ich doch dem Harmonium ebenso dienen soll?“
Diese
Bemerkung überraschte Amariel sehr. Der junge Mann war für Sarin
offenbar von gehobener Wichtigkeit. Aber wie konnte es dann sein, dass
er dabei zugleich auch einem anderen Herrn verpflichtet war, auf
irgendeiner materiellen Welt? Das konnte nicht gut sein. Sie musterte
Kiyoshi eingehend, und während sie sich seine Frage durch den Kopf gehen
ließ, wechselte ihr Gesichtsausdruck von nachdenklich zu besorgt.
„Das
ist eine wirklich gute Frage, werter Kiyoshi“, erwiderte sie. „Und ich
muss gestehen, dass ich keine Antwort darauf weiß. Ich bin lediglich
Dekuria, dies übersteigt mein Wissen über die genauen Mechanismen
unserer Pflichten-Hierarchie. Ich schlage vor - insbesondere da Ihr
offenbar wichtig für unseren Bundmeister seid - dass Ihr diese Frage mit
ihm selber klärt. Ich kann ... mir nicht vorstellen, dass es Sarin
gefallen würde, wenn Ihr plötzlich anderweitige Pflichten habt.“
Kiyoshi nickte. „Ich danke Euch, dass Ihr mich erleuchtet habt, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei. Ich werde mit dem ehrwürdigen Bundmeister Sarin-gensui darüber sprechen. Ich würde gerne noch etwas über die Tugenden des Buches des Harmoniums hören.“
Amariel nickte und fuhr fort. „Das Buch des Harmoniums enthält alle Grundsätze und die ureigene Philosophie unseres Bundes. Es wurde ursprünglich von Jhary von Heka verfasst. Die Weisen und Gelehrten unseres Bundes fügen jedoch immer wieder Erweiterungen und Verfeinerungen hinzu. Die zehn wichtigsten Grundsätze und Verhaltensregeln werden als Pax Benevola bezeichnet. Laut der Überlieferung beruhen sie auf einer Übereinkunft der guten und rechtschaffenen Götter, wie die Sterblichen ihr Leben gestalten sollen. Die Grundsätze der Pax Benevola lauten folgendermaßen:
1. Es ist falsch, zu morden.
2. Es ist falsch, zu begehren, was nicht dein eigen ist.
3. Es ist falsch, Ehebruch zu begehen, sei es mit Sterblichen oder Göttern.
4. Es ist falsch, zu stehlen.
5. Es ist falsch, zu lügen und die Wahrheit zu verbiegen, um dir Vorteile zu verschaffen.
6. Es ist falsch, den Göttern Leben zu opfern.
7. Es ist falsch, deine Eltern und deine Familie zu entehren.
8. Es ist falsch, die Reinheit Orthos zu beflecken.
9. Es ist falsch, Umgang mit Dämonen zu haben.
10. Es ist falsch, an heiligen Tagen zu arbeiten.
An
diese Regeln muss sich ebenfalls jedes Mitglied des Harmoniums halten.
Falls Ihr zu bestimmten Grundsätzen Fragen habt, scheut Euch nicht, sie
zu stellen.“
Kiyoshi nickte bei jeder Regel, wobei sein Antlitz aber regungslos blieb und keinen Rückschluss auf seine Emotionen erlaubte. Bei der neunten jedoch zögerte er und nickte auch nicht, ebenso wie bei der zehnten. „Verzeiht meine Unwissenheit, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei, doch wird es meine Aufgabe als Mitglied des Harmoniums nicht unweigerlich mit sich bringen, Umgang mit Oni zu haben? Und sei es nur um sie zu verhaften? Was, wenn ein Oni das Harmonium zu Hilfe ruft, weil in sein Haus eingebrochen wurde? Dann muss ich doch mit ihm sprechen, oder?“
Amariel konnte nicht verhindern, dass sie bei dieser Frage ein wenig schmunzeln musste. "Oni? So nennt Ihr auf Eurer Welt die Dämonen, nicht wahr? Nun, keinen Umgang mit ihnen haben bedeutet, man soll nicht mit ihnen befreundet sein oder gar noch Weitergehendes. Verhaften dürft Ihr sie natürlich. Und sollte tatsächlich mal ein Tanar'Ri Euch rechtmäßigerweise zu Hilfe rufen, so müsst Ihr auch hier Eure Pflicht erfüllen. Aber nichts, was über Eure Pflichten hinausgeht.“
Im Hintergrund hob nun das Klirren von Waffen an und immer wieder wurden kurze Kommandos gerufen, als einige Soldaten sich zum Waffentraining im Innenhof einfanden. Kiyoshi nickte verstehend, hatte jedoch eine weitere Frage.
„Und weshalb dürfen wir an heiligen Tagen nicht arbeiten? Lädt diese Regel nicht dazu ein, dass Verbrecher an diesen Tagen besonders stark zuschlagen, da wir alle außer Dienst sind?“
Die Halbelfe nickte. „Was die heiligen Tage angeht, ja ... Das ist immer ein etwas schwieriges Thema hier im Planaren Harmonium. Auf der Heimatwelt Ortho ist das einfacher. Da gelten für die gesamte Welt dieselben heiligen Tage. An diesen arbeiten nur einige wenige Ausgewählte, damit nicht alles zusammenbricht. Der Rest der Bevölkerung begeht aber die Festtage. In Sigil und den Ebenen ist das schwieriger. Zwar feiern wir alle die heiligen Tage von Ortho, doch hat auch noch jedes Volk oder jede Religion eigene Festtage. Da Dutzende von Völkern und Religionen in unserem Bund vertreten sind, ist es sehr kompliziert und aufwändig, die Schichten und Dienstzeiten so einzuteilen, dass nie jemand an irgendeinem ihn betreffenden Festtag im Dienst ist. Denn natürlich patrouillieren wir jeden Tag in Sigil, es gibt keinen Tag, an dem das Harmonium nicht zur Stelle wäre. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, dies ist ein Grundsatz, den wir hier in den Ebenen in der Praxis kaum aufrecht erhalten können.“
Es war einer der wenigen Momente seit Beginn ihres Rundgangs, in denen Kiyoshi eine Emotion zeigte: Er wirkte etwas entsetzt.
„Verzeiht, ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei“, erwiderte er. „Aber ich glaube, ich habe Euch falsch verstanden. Ihr wolltet sicherlich nicht andeuten, dass es nicht möglich ist, die zehn Regeln des Buches des Harmoniums zu befolgen. Schließlich sind es doch Gesetze, an die sich jedes Mitglied des Harmoniums zu halten hat.“
Amariel musterte
Kiyoshi ernst. Was Sarin ihr über seine Weltfremdheit gemessen an
Sigiler Maßstäben berichtet hatte, schien nicht übertrieben gewesen zu
sein. Sie seufzte.
„Ich will ganz ehrlich zu Euch sein, Kiyoshi.
Diese zehn Grundsätze sind sehr wichtig für uns. Wir bemühen uns, sie
einzuhalten, wann immer es uns möglich ist. Vor allem so wichtige wie
nicht zu morden oder zu stehlen. Jedoch wurde das Buch des Harmoniums
vor vielen Jahrhunderten verfasst, auf der materiellen Welt Ortho. Und
Ortho ...“ Sie suchte nach den richtigen Worten. „Ortho kann sehr weit
weg sein hier in Sigil. Wie schon gesagt ist zum Beispiel der zehnte
Grundsatz bezüglich der heiligen Tage aus den genannten Gründen in Sigil
nicht einfach zu halten. Und es gibt ... noch andere Dinge, die wir in
den Ebenen manchmal anders ... handhaben als auf der Heimatwelt und ...“
Sie brach ab und seufzte erneut. „Das ist jetzt ein kompliziertes
Thema, das Ihr gerade ansprecht. Ich bin nicht sicher, ob ich mit meinen
Ausführungen nicht zu weit gehe.“
Es war Kiyoshi trotz seiner hohen Disziplin und Selbstbeherrschung anzusehen, dass er irgendwie erschüttert war von dem, was er eben gehört hatte. Amariel fragte sich, ob sie etwas falsch gemacht hatte. Doch was sonst hätte sie ihm sagen sollen? Dies war Sigil, und je eher er sich daran gewöhnte, desto besser.
„Ehrenwerte Dekuria Amariel-sensei“, erklärte Kiyoshi. „Mit Eurer Erlaubnis würde ich mich gerne zurückziehen, um über das Gehörte nachzudenken. Gibt es einen Ort, an dem ich Euch erreichen kann, wenn ich weitere Fragen haben sollte?“
Die Halbelfe nickte. „Es tut mir leid, sollte ich Euch überfordert oder verunsichert haben. Ich weiß, dass Sigil verwirrend sein kann. Von mir aus könnt Ihr Euch zurückziehen und über alles nachdenken. Mein Quartier befindet sich im ersten Stock der Kaserne, im Offizierstrakt. Die Zimmernummer ist die 7. Solltet Ihr wichtige Fragen haben, schaut einfach vorbei. Ich lasse Euch meinen Dienstplan in Euer Zimmer bringen, damit Ihr wisst, wann Ihr mich am besten antreffen könnt.“
Sie blickte ihm nach, als er über den Innenhof davon marschierte und schüttelte sacht den Kopf. Ein ziemlich ungewöhnlicher junger Mann. Sie brannte darauf, mehr darüber zu erfahren, warum er für ihren Bundmeister so wichtig war.
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aus unserem Foren-Rollenspiel




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