„Alles verfällt. Wir sind nur hier, um dabei zu helfen.“
Bundmeisterin Pentar
Erster Kuratorentag von Retributus, 126 HR
Sgillin, Lereia und Naghûl trafen Jana und Kiyoshi wie abgemacht im Haus der Hexenmeisterin an und berichteten von ihrer Unterredung mit Ambar am Vorabend und mit Derioch und Schwarzhuf kurz zuvor. Jana wiederum war Eliath gefolgt, als er spätnachts die Schwarzen Segel verlassen hatte. Sie hatte es geschafft, ihm bis zu seiner Unterkunft nachzugehen, einer kleineren Wohnung in einem Haus nahe der Waffenkammer. Schnell einigte die Gruppe sich darauf, Eliath dort aufzusuchen und machte sich einmal mehr auf den Weg vom Tollhausdistrikt des Stocks nach Schwerthalt im Unteren Bezirk. Jana führte sie zielstrebig zu dem Haus, in dem sie Eliath in der Nacht zuvor hatte verschwinden sehen. Es handelte sich um ein dreistöckiges Steingebäude, nicht in bestem Zustand, aber für die Verhältnisse des Unteren Bezirks durchaus annehmbar. Die Grundfläche war nicht sehr groß, so dass Eliath nur eine kleine Wohnung haben konnte, selbst für den Fall, dass er ein Stockwerk allein bewohnte. Sie klopften an, erst sachte, dann kräftiger. Doch niemand öffnete ihnen, weder Eliath noch ein anderer Bewohner. Auch hinter den Fenstern konnten sie keine Bewegungen erkennen – soweit das bei dem trüben, schmutzigen Glas zu beurteilen war. Ein wenig ratlos standen sie in der Straße herum, zogen sich dann in eine Seitengasse zurück, um von dort aus den Eingang zu beobachten, für den Fall, dass Eliath zurückkehrte. Doch fast eine Stunde verging, ohne dass er sich zeigte. Da sie keinesfalls in die Waffenkammer gehen wollten und ansonsten keinen besseren Anhaltspunkt hatten, beschlossen sie, es noch einmal in den Schwarzen Segeln zu versuchen. Obgleich es erst Nachmittag war, würden sich dort gewiss schon einige Gäste aufhalten. Vielleicht konnte man dem einen oder anderen eine Information über Eliath entlocken. Als sie eintraten und sich nach einem Tisch umsahen, fielen ihnen jedoch sofort zwei vertraute Gestalten ins Auge: eine Medusa – und Eliath. Sie waren offenbar wie auch am Tag zuvor bereits in die Taverne gekommen, um zu trinken, zu spielen und zu plaudern. Nun war nur noch die Frage, wie sie unauffällig mit Eliath ins Gespräch kommen konnten, ohne gleich die anderen Sinker zu alarmieren. Sie setzten sich an den freien Tisch gleich neben Eliaths Gruppe, um bei dem Gespräch der Schicksalsgardisten mithören zu können. Außer ihm und der Medusa saßen noch ein Drakonier, ein Kobold und eine menschliche Frau dort. Sgillin besorgte einen großen Krug Bier, während Naghûl Karten für ein Spiel austeilte und Jana und Lereia eine oberflächliche, nichtssagende Unterhaltung begannen. Die Sinker führten gerade ein relativ lautes Gespräch darüber, wie man den nächsten Modronen-Marsch aufhalten könnte. Der Drakonier und die menschliche Frau waren dabei offenbar schon recht angetrunken. Dann machten sie sich über die Göttermenschen lustig. Wer wolle schon ein Gott werden, wenn das Multiversum sowieso zugrunde ging? Naghûl beobachtete, wie Lereia dabei leicht mit den Augen rollte und nickte zustimmend. Was für Idioten, dachte er bei sich. Ihm fiel jedoch auf, dass Eliaths Art zu sprechen eher höflich war und seine Ausdrucksweise recht gebildet, er wirkte nicht wie ein typischer Bewohner des Unteren Bezirks oder gar des Stocks. Dann wurde das Gespräch neben ihnen deutlich lauter, als die Medusa ihren Krug auf die Tischplatte knallte.
„Quatsch!“ fuhr sie den Drakonier heftig an. „Nix machen wir kaputt! Es geht alles von selber kaputt, das ist es!“
„Aber zu langsam!“ erwiderte der knurrig. „Viel zu langsam geht es! Da muss man ein bisschen nachhelfen.“
„Gar nix muss man, Surtak, du Volltrottel! Es geht alles von selber, da muss man nicht nachhelfen.“ Spöttisch äffte sie seinen Tonfall nach und die menschliche Frau lachte.
Der mit Surtak Angesprochene erhob sich ruckartig, wobei er fast seinen Stuhl umstieß.
„Was bist du immer so verklemmt, Rakalla?“
Naghûl horchte auf. Rakalla. Das musste der Name der Medusa sein und er prägte ihn sich sofort ein. Diese stand nun ebenfalls auf und schob dabei die dunkel gefärbte Brille, die sie trug, ein wenig zurück.
„Ich bin nicht verklemmt, du Weichbirne. Ich find nur, dass unsere Philosophie auch funktioniert, ohne irgendwas wahllos anzuzünden.“
Der Drakonier lachte höhnisch. „Ihr Bewahrer seid die, die weich in der Birne sind!“
„Ich bin keine Bewahrerin, du Trottel!“ Die Schlangen der Medusa wurden unruhiger und zischelten leise. „Ich bin eine Beobachterin!“
„Pfft“, machte Surtak abfällig. „Bewahrer, Beobachter, ist doch völlig schnuppe.“
„Ihr Zerstörer nervt mich an“, knurrte Rakalla.
„Vorsicht!“ Der Drakonier grollte kehlig. „Die Bundmeisterin ist auch eine Zerstörerin.“
Die Medusa verzog ihre Lippen zu einem amüsierten Grinsen und entblößte dabei zwei spitze Fangzähne. „Mal sehen, ob die Bundmeisterin dir den Arsch rettet, wenn ich gleich reintrete.“
Provokant verschränkte Surtak die Arme. „Na komm, ich bring dir was über Entropie bei.“
„Mach dich nicht lächerlich, du aufgeblasene Eidechse“, erwiderte Rakalla verächtlich. „Aber wenn du ausgestopft die Waffenkammer schmücken willst, nur zu.“
Die menschliche Frau lachte erneut, und auch der Kobold kicherte keckernd. Ihre Erheiterung schien den Drakonier durchaus zu ärgern.
„Wird Zeit, dass es dir mal jemand richtig besorgt, Rakalla“, knurrte er. „Dein freches Mundwerk sollte mal jemand stopfen.“
Die Medusa erwiderte nichts darauf, sondern wandte sich stattdessen an die Frau, die neben ihr saß. „He, Lyssa, war das deine Idee, nen Zerstörer mit zum Saufen zu nehmen? Dir verpass ich gleich nach dem da ne Abreibung für deine blöden Ideen!“
Die Angesprochene grinste. „Kannst gerne versuchen. Aber erst will ich sehen, wie du unser Großmaul da vernaschst.“
Der einzige unter den Sinkern, dem nicht zu gefallen schien, wie sich die Situation immer mehr hochschaukelte, war Eliath. Er blickte ein wenig hilflos in die Runde, fast konnte man meinen, dass er gar nicht wirklich dazu gehörte. Der Drakonier trat indes einen Schritt auf Rakalla zu.
„Komm mit raus. Ich tu dir den Gefallen, dich mal gründlich im Graben zu baden. Dann riechst du besser als vorher!“
Die Medusa zog daraufhin einen langen Dolch. „Jetzt reicht's! Mit dir wisch ich draußen den Boden auf! Denkst du, du bist mir über, du jämmerliche Entschuldigung für ein Reptil?“
Der Kobold rutschte aufgeregt von seinem Stuhl. „Ich komm mit!“ verkündete er. „Das schau ich mir an!“
Surtak beugte sich Rakalla entgegen und grinste anzüglich. „Du brauchst nen Kerl, Rakalla“, erklärte er. „Wenn du willst, kann ich das gleich im Anschluss erledigen.“
Die Medusa nahm die Brille ab, und Naghûl bemerkte, wie er instinktiv zusammenzuckte. Doch sie machte keine Anstalten, ihren Blick einzusetzen. Man konnte nun lediglich die Geringschätzung in ihren orange leuchtenden Augen erkennen, als die den Drakonier musterte.
„Du bist kein Mann mehr, wenn ich mit dir fertig bin“, bemerkte sie mit einem schmalen Grinsen. „Komm mit!“
Surtak lachte grölend und ging zur Tür, dicht gefolgt von Rakalla, dem Kobold und der menschlichen Frau. An diese wandte sich die Medusa im Hinausgehen nochmals.
„Lyssa! Keine Zerstörer mehr, klar?“
Die Angesprochene kicherte nur, dann verließen die vier die Taverne, um ihre Zwistigkeiten draußen zu klären. Lediglich Eliath war am Tisch sitzen geblieben.
Er räusperte sich verlegen. „Ich … ich bleib lieber hier“, erklärte er leise, an niemand bestimmten gerichtet, da seine Bundgenossen ja alle bereits fort waren.
Da war sie, ihre Chance. Naghûl sah die anderen an, die offenbar genau dasselbe dachten. Sie nahmen ihre Krüge und gingen zum Nebentisch. Lediglich Sgillin folgte leise den Sinkern nach draußen, um die Medusa im Auge zu behalten.
„Hallo“, grüßte Jana freundlich. „Dürfen wir uns zu dir setzen? Sieht aus, als wärst du grade ziemlich überraschend allein gelassen worden.“
„Oh ...“ Eliath nickte zögernd. „Nun, gewiss. Alleine trinken ist ja … langweilig, nicht?“
Eigentlich wirkte er viel mehr, als ob er sich nach ein wenig Ruhe und Langeweile durchaus sehnte. Überhaupt schien er so gar nicht zum Rest der Sinker zu passen. Er trug einfache Kleidung, mochte um die vierzig sein und hatte schulterlanges, braunes Haar. Offenbar war er unbewaffnet und auch sonst wirkte er eigentlich für einen Sinker viel zu unauffällig, viel zu … harmlos. Sie nahmen Platz und Lereia, die rechts von ihm saß, lächelte ihm aufmunternd zu.
„Ich bin Lereia“, stellte sie sich vor. „Das alles hier ist für mich noch etwas … ungewohnt, weil ich noch nicht sehr lange in Sigil bin. Und Ihr?“
„Mein Name ist Eliath“, antwortete er. „Ich bin ursprünglich auch nicht von hier, sondern stamme von der materiellen Welt Toril. Ich war dort an einer Magier-Akademie, aber ich kam vor etwa fünfzehn Jahren nach Sigil. Ich arbeitete in der Halle der Aufzeichnungen im Bereich für Arkanes.“
„Ah, da wollte ich mich auch mal bewerben“, erklärte Jana. Naghûl vermutete einen Bluff, um tiefer mit Eliath ins Gespräch zu kommen. „Hat aber nicht geklappt, weil ich nicht studiert hab. Bin Hexe. Aber du … viel mit Büchern gemacht, hm?“
Eliath nahm einen Schluck Bier und seufzte. „Ich habe etwas zu viel mit Büchern gemacht.“
„Verzeiht meine Unwissenheit“, sagte Kiyoshi mit verwundertem Unterton. „Aber wie kann man zu viel studieren?“
„In einer Bücherei fand ich ein Zauberbuch, das eine verheerende Wirkung auf mich hatte“, erwiderte der Magier düster. „Es war mit einem Fluch belegt, der mich wahnsinnig machte.“
„Oh ...“ Betroffen sah Jana ihn an. „Und dann? Bist du bei den Trostlosen gelandet?“
„Ja, ich landete im Stock, bei den anderen Verrückten“, antwortete er. „Das war vor drei Jahren. Ich war eine ganze Weile im Torhaus.“
„Aber du wirkst gar nicht so wahnsinnig“, warf Lereia vorsichtig ein. „Bist du wieder gesund geworden?“
„Nein, nicht so richtig.“ Eliath seufzte tief. „Aber irgendwann kam ich wieder raus. Und dann … Ich weiß, das klingt nun doch wieder verrückt … dann wurde ich ermordet.“
Naghûl schüttelte sacht den Kopf. Dieselbe merkwürdige Geschichte. Rasch setzte er einen gespielt verständnislosen Ausdruck auf. „Hä?“
Lereia stieg mit ein und lachte etwas. „Ja, klar.“
„Nein, wirklich!“ beteuerte Eliath. „Ich wurde überfallen und erwürgt. Ich war tot. Aber dann ...“ Ein Strahlen breitete sich nun über seinem Gesicht aus. „Dann bekam ich eine zweite Chance. Lathander, der Gott, den ich in meiner Jugend verehrt hatte, erschien mir! Er war in Licht gehüllt und gütig und ... es war unglaublich! Er sagte mir, ich hätte mein Leben vergeudet. Aber ich sollte eine zweite Chance bekommen. Er sagte, es gäbe Dinge, die ich noch erledigen müsse. Ich sollte ... das war etwas seltsam, aber er sagte es ... ich sollte nach Sigil zurückkehren und zur Schicksalsgarde gehen. Dann erwachte ich im Unteren Bezirk - geistig gesund. Vollkommen gesund!“
Naghûl hob die Brauen. Diese Geschichte klang um einiges unschlüssiger als die von Tylaric, Cuthbert und dem Harmonium.
„Aha ...“ sagte er nur gedehnt.
Jana hingegen stellte ihren Krug ab und schüttelte den Kopf. „Also, ich kenn mich ja nicht so richtig aus mit diesem Götterzeug. Aber das passt doch nicht zu Lathander, oder?“
Sie sah in die Runde und dann wieder zu Eliath, der auch tatsächlich ehrlich verwirrt wirkte.
„Ich wollte eigentlich nicht wirklich zur Schicksalsgarde“, erklärte er. „Aber ... aber der Fürst des Morgens hat es mir gesagt. Ich verstehe das auch nicht ganz.“
„Jetzt kommt gleich einer und behauptet, Kelemvor hätte ihn zu den Staubis geschickt“, bemerkte Naghûl sarkastisch. „Hammer hart.“
„Verzeiht mir meine Unwissenheit“, meldete sich Kiyoshi mit der für ihn typischen Einleitung zu Wort. „Aber ist es das Ziel des Lathander, den Untergang aller Dinge herbeizuführen?“
„Ähm, nein“, erklärte Eliath zögernd. „Lathander ist der Gott der Morgendämmerung und der Sonne, der Hoffnung, der Lebensfreude und der Schaffenskraft ... also, nein, ehrlich gesagt, das passt nicht. Aber er sagte es mir!“ Hilflos breitete der Magier die Hände aus, um zu unterstreichen, dass es auch für ihn keinen wirklichen Sinn ergab.
„Und das war sicher Lathander?“ fragte Kiyoshi ernst.
„Ja, ich bin sicher …“ Eliath nickte. „Ich weiß nicht, es war alles einfach so … Es passte alles zusammen, in diesem Moment.“
„Darf ich dich noch was fragen?“ schaltete Jana sich wieder ein. „Als du umgebracht wurdest, da hast du doch bestimmt gesehen, wer's gewesen ist, oder?“
Eliath runzelte die Stirn und schien nachzudenken. „Ja ... Ja, ich erinnere mich dunkel daran.“
„Ich glaube, ich könnte viel besser schlafen, wenn ich wüsste, wie der Typ aussieht“, meinte Jana. „Kannst du vielleicht zeichnen?“
„Leider nicht“, erwiderte Eliath bedauernd. „Aber er war ein Halbelf, recht attraktiv für Frauen, würde ich annehmen. Groß, langes, schwarzes Haar und grüne Augen.“
Jana öffnete ihre Tasche, holte eine dünne Mappe und einen Kohlestift heraus, klappte die Mappe auf und suchte eine Weile nach einem leeren Blatt. Dann fing sie an, grob den beschriebenen Halbelfen zu skizzieren. Ab und an stellte sie Eliath weitere Fragen zu dessen Aussehen.
„So etwa?“ meinte sie schließlich und zeigte Eliath das gerade erstellte Porträt.
Der Magier beugte sich zu Jana, um ihre Zeichnung genauer betrachten zu können. Geistesgegenwärtig beugte sich auch Lereia weiter nach links, tat so, als würde auch sie das Bild ansehen wollen. Doch Naghûl erkannte, dass sie in Wahrheit Eliaths Hals musterte, genauer gesagt den Bereich hinter seinem rechten Ohr, der in diesem Moment zu sehen war, weil das längere braune Haar zurückgefallen war. Dann setzte sie sich wieder gerade hin, griff nach ihrem Bierkrug und nickte Naghûl und Kiyoshi leicht zu. Das in dem Brief von Marvent erwähnte Zeichen? Hatte sie es hinter seinem Ohr entdecken können? Es schien ganz so.
Jana zeichnete währenddessen das Porträt fertig. „Ist dir sonst noch was aufgefallen?“ fragte sie.
„Ich glaube, der Mann war recht dunkel gekleidet“, erwiderte Eliath. „Aber an mehr kann ich mich nicht erinnern.“
In diesem Moment kam Sgillin zurück und setzte sich zu ihnen an den Tisch. „Das war vielleicht ne Keilerei da draußen“, bemerkte er beeindruckt.
„Wie ging es aus?“ wollte Eliath sofort wissen.
Der Halbelf goss sich seinen Krug noch einmal mit Bier voll. „Die Dame mit den Schlangen hat den Drakonier ziemlich verdroschen.“
Eliath lachte, nicht wirklich überrascht, aber doch ein wenig erleichtert, wie es schien „Dachte ich mir. Rakalla ist in Ordnung. Und ziemlich gut mit ihrer Klinge.“
Sgillin nickte. „Ja, sieht man ihr gar nicht an, dass sie so zulangen kann. Dann hat sie ihm noch was in den Flügel geritzt. Anscheinend so eine Art Siegesritual.“
„Ich wusste nicht, dass wir heute einen Zerstörer dabei haben“, erklärte der Magier seufzend. „Sonst wäre ich vielleicht gar nicht mitgegangen.“
Sgillin wollte offenbar etwas erwidern, doch dann starrte er Eliath nur noch gedankenverloren an, während sein Humpen langsam seinen Händen entglitt. Kiyoshi konnte den Krug gerade noch auffangen, ehe er zu Boden fiel, doch ein Gutteil des Bieres verteilte sich über Sgillins Gewand. Alarmiert sah Lereia zu ihrem Gefährten. Auch Eliath war kurz erstarrt und sah dann verwirrt in die Gegend.
„Wo bin ich …?“ fragte er rau und schaute vollkommen entgeistert in die Runde.
„Oh oh“, machte Naghûl leise. Das sah ganz nach einem weiteren Körpertausch von Sgillin aus.
Der Halbelf, in dessen Körper nun wahrscheinlich Eliath steckte, stand derweil auf. Sofort erhob sich auch Kiyoshi, um Sgillin vorsichtshalber den Weg zu versperren.
„Wer … wo bin ich?“ fragte Eliath erneut.
Das wiederum verwirrte Naghûl. Wenn Sgillin gerade in Eliaths Körper steckte, sollte er dann nicht inzwischen wissen, was vor sich ging? Auch Lereia wirkte verunsichert.
„Eliath?“ fragte sie den Magier.
„Ja?“ antwortete prompt Sgillin. „Was ist?“
Er war also offenbar doch in Sgillins Körper. Der Halbelf in Eliaths Hülle schien aber nach wie vor seltsam verwirrt.
„Was bei allen Höllen läuft hier?“ stieß er leicht panisch hervor und starrte seinen eigentlichen Körper an.
„Ehrenwerter Sgillin-san?“ wandte Kiyoshi sich an Eliath.
„Was?“ Der Magier – oder Sgillin in dessen Körper – schüttelte verwirrt den Kopf. „Ja … ich … ach, verdammt.“ Er hielt sich am Tisch fest und Lereia packte ihn bei den Schultern.
„Alles gut, wir sind in den Schwarzen Segeln, wie schon die ganze Zeit. Haben getrunken und uns nett unterhalten. Ich bin es, Lereia.“
„Ich glaube, Sgillin ist nicht da …“ stellte Naghûl langsam fest und spürte, wie er dabei eine Gänsehaut bekam. Das war nicht, wie Sgillins Körpertausch bisher abgelaufen war. Irgendetwas stimmte nicht … Eliath sah Lereia immer noch verwirrt an.
„In den Schwarzen Segeln? Ja … stimmt … Es ist nicht so wie sonst immer … Irgendwas steckt noch hier mit drin …“
„Da ist noch etwas oder jemand anderes im Spiel“, meinte Naghûl leise.
„Du meinst, zwei Geister in diesem Körper?“ fragte Lereia beunruhigt.
Dann sank Eliath wieder auf seinen Stuhl und Sgillin sackte leicht in sich zusammen, hielt sich an der Tischplatte fest. War es vorbei? Es schien so, denn Sgillin wirkte nun wieder ganz wie der Alte. Er starrte Eliath an.
„Was verbirgst du?“ fragte er ihn ernst.
„Ich?“ Verwirrt sah Eliath sich um. „Ich verberge ... gar nichts. Was habt Ihr mit mir gemacht?“
Erleichtert atmete Naghûl aus. Diese merkwürdige Situation hatte ihm alles andere als gefallen und er war erleichtert, dass der Tausch wieder vorüber war.
„Jeder wieder daheim?“ fragte er gezwungen sachlich, obgleich er sich gerade recht aufgewühlt fühlte.
Eliath machte ebenso einen aufgekratzten Eindruck. „Was war das? Ich ... Ihr seid sehr seltsame Leute. Ich glaube, ich möchte gehen ...“
Sgillin setzte sich wieder und nahm einen tiefen Schluck Met. „Nein.“ Er schüttelte den Kopf gen Eliath. „Du bleibst erstmal hier.“
Kiyoshi nickte ernst zu diesen Worten. „Verzeiht meine offenen Worte, ehrenwerter Eliath-san, aber ich befürchte, Ihr seid in Gefahr.“
Eliath wurde nun deutlich unruhig und nervös. „Aber ich habe nichts verbrochen. Wieso sollte ich in Gefahr sein?“
„Ich denke, jemand benutzt Euch“, erklärte Kiyoshi. „Jemand hat Euch getäuscht, damit Ihr zu den Sinkern geht, und das kann nicht ungefährlich sein.“
„Getäuscht ...“, murmelte der Magier, noch immer recht blass um die Nase. „Na ja, ich … Warum Lathander mich zu den Sinkern schickt, das hab ich mich durchaus gefragt ...“
„Ich glaub auch nicht, dass das wirklich ein Gott war, der dich gerettet hat“, bemerkte Jana ernst.
Naghûl nickte zustimmend. Dies hatte nichts mit der Bundphilosophie der Athar zu tun. Aber Eliaths Geschichte machte einfach keinen Sinn, vor allem nicht in Zusammenhang mit der von Tylaric.
Eliath musterte nun Sgillin mit einigem Unbehagen. „Ich ... ich war in Eurem Körper, oder? So war es doch?“
Der Halbelf nickte. „Allerdings ... und ich in Eurem. Aber ich war da nicht allein ...“
Der Magier schloss kurz die Augen und schluckte schwer. „Und als ich in Eurem Körper war, da ... war irgendetwas anders als jetzt. Dachte ich zumindest.“
„Was war anders?“ wollte Sgillin wissen, und als Eliath nicht gleich antwortete, sprang er ruckartig auf. „WAS?“
Er brüllte fast, und Lereia schaute ihn entgeistert an. Auch Jana wirkte erschrocken und Naghûl war ebenso zusammengezuckt. So kannte er seinen Freund gar nicht. Eliath rutschte prompt mit seinem Stuhl ein Stück zurück.
„Der ist irre ...“ murmelte er.
„Sgillin?“ Naghûl legte dem Halbelfen vorsichtig eine Hand auf die Schulter, um ihn wieder ein wenig zu erden.
Dieser atmete tief durch. „Geht schon wieder ...“, erklärte er und wandte sich dann an Eliath. „Verzeiht mir. Bitte, helft uns, hier etwas Licht reinzubringen.“
Er setzte sich wieder, doch Eliath sah eingeschüchtert in die Runde.
„Versucht, Euch zu erinnern“, bat Sgillin. „Was habt Ihr in meinem Körper gespürt?“
Der Magier entspannte sich etwas, als der Halbelf ruhiger wurde und rieb sich die Schläfen. „Also, das Gefühl ... verblasst bereits. Es war ... Das ist so schwer zu beschreiben. Es war, als ob ich dort ... frei wäre. Und in meinem eigentlichen Körper... beengt. Was habt Ihr gefühlt?“
Sgillin nickte ernst. „Ich war nicht allein in Eurem Körper. Es war noch etwas anderes da.“
„Etwas anderes?“ Entsetzt sah Eliath auf seine Hände. „Aber jetzt ... jetzt kommt es mir wieder vor, als sei alles normal.“
„Es war wie in einem Käfig“, führte Sgillin sein Erlebnis aus. „Aber der Käfig war ... war ich. Ich hielt etwas gefangen, was in Euch ist, Eliath.“
Mit großen Augen sah der Magier ihn an. „Aber Ihr ... das bedeutet ich, oder?“
„Ja“, meinte Sgillin. „Und Ihr fühltet Euch bei mir frei, weil ich in meinem Körper alleine bin.“
Lereia stützte sich mit beiden Ellbogen auf die Tischplatte und runzelte nachdenklich die Stirn. „Also, der Käfig war Eliaths Körper?“
Sgillin schüttelte den Kopf. „Nein, es war nichts Körperliches.“
„Also etwas Geistiges“, führte Lereia den Gedanken weiter. „Und als du in Eliaths Körper warst, hast du dieses etwas irgendwie gefangen gehalten. Aber sonst tut es Eliaths Geist?“
Der Magier sah reichlich überfordert von einem zum anderen, während Sgillin sich zurück lehnte.
„Es war ... ein anderes Bewusstsein.“
„Was heißt das?“ fragte Eliath unglücklich.
„Vielleicht wurde irgendetwas in Euren Geist übertragen“, mutmaßte Lereia. „Nach dieser Todesgeschichte.“
Naghûl seufzte innerlich, als sich ihm aufdrängte, wonach das klang. „Ein Schläfer?“ meinte er.
Lereia nickte. „Das war auch mein Gedanke. Mit der Gestalt von Lathander als Vorwand.“
Ratlos starrte Eliath auf die Tischplatte. „Ich kehrte von jenseits der Ewigen Grenze zurück ...“
„Wie kommt Ihr auf den Ausdruck Ewige Grenze?“ wollte Lereia wissen, und der Magier hob die Schultern.
„Das sagte Lathander zu mir.“
Jana, die schon eine Weile mit gerunzelter Stirn zugehört hatte, stellte etwas zögernd die Frage, die sie offenbar beschäftigte. „Was ... ist denn ein Schläfer?“
„Ein Bewusstsein, das durch einen bestimmten Umstand gezielt hervorgerufen wird und für eine gewisse Zeit dominiert“, erklärte Naghûl. „Somit kann man andere Personen als Werkzeug benutzen und sie bekommen es nicht einmal mit.“
„Das würde vielleicht auch die Sache mit dem Siegel erklären“, warf Kiyoshi ein.
Eliath starrte sie beide an. „Das ist ja schrecklich! Wie kann ich das loswerden, falls es so ist?“
„Da brauchen wir jemanden, der richtig viel Ahnung davon hat“, erwiderte der Tiefling. „Aber bis dahin solltet ihr Euch irgendwo in Sicherheit begeben. Wo man Euch nichts antun kann, und Ihr auch niemandem etwas antun könnt.“
„Die Liste“, murmelte Jana. „Ob das alles solche Schläfer sind?“
Lereia nickte und sah zu dem deutlich überfordert wirkenden Magier. „Wenn dem so ist, seid Ihr damit sicherlich nicht allein, Eliath.“
Ihr Worte schienen ihn allerdings nicht gerade zu trösten. „Nicht allein? Es gibt noch andere?“
„Es sieht so aus“, meinte Naghûl seufzend und erhob sich. „Aber jetzt sollten wir Euch schleunigst in Sicherheit bringen.“
„Eliath“, meinte Lereia sanft. „Ich weiß, Ihr habt Angst, aber vertraut uns bitte. Wir wollen herausfinden, was das alles bedeutet. Wir gehen in mein Haus, da sind wir erst einmal in Sicherheit und finden Ruhe.“
Unglücklich und zögernd sah der Magier von einem zum anderen. „Aber ... ich muss doch zu meinem eigenen Bund mit so etwas ...“
„Was ist, wenn der Bund dann eine Gefahr in Euch sieht?“ wandte Lereia ein. „Wollt Ihr nicht erst wissen, was überhaupt los ist?“
Naghûl nickte zustimmend zu ihren Worten. „Ihr seid doch selber nicht ganz von Eurer Mitgliedschaft überzeugt. Und es es gäbe sicher welche, die Euch liebend gerne aufschneiden würden, um nachzusehen, was da los ist.“
Eliath starrte erst Lereia an, dann Naghûl, und seine Augen weiteten sich, als ihm wohl diverse Gedankengänge durch den Kopf schossen. „Pentar würde das ... am Ende … Oh Hilfe!“
Naghûl nickte, zufrieden damit, den armen Magier gedanklich ein wenig von den Sinkern zu entfernen. „Ganz genau. Kommt mit uns, und wir bringen Euch in Sicherheit.“
„A .... Also gut ...“ murmelte Eliath.
Er ließ sich eher mitziehen als dass er ging, wehrte sich aber auch nicht. Kiyoshi bildete das Schlusslicht, wie um einen Rückzug zu decken, und sie verließen die Schwarzen Segel in Richtung des Gießerei-Distrikts.
In Lereias Haus angekommen, schlug die junge Frau die Kapuze ihrer Robe zurück und schloss die Tür, nachdem alle eingetreten waren.
„Süße, hast du noch Met?“ wollte Sgillin wissen, schon auf dem Weg zur Küche.
„Ich bin noch nicht so gut ausgestattet“, rief Lereia ihm nach. „Aber irgendetwas sollte schon da sein. Bring bitte für alle etwas mit.“
„Bei Met muss ich leider dankend ablehnen“, stellte Kiyoshi höflich fest.
Lereia ging zum Eingang des Aufenthaltsraumes und hielt den Vorgang auf, mit Blick zu Eliath. „Sucht Euch einen Platz“, sagte sie freundlich und deutete auf die Sitzkissen. „Versucht Euch zu entspannen.“
„Entspannen ...?“ Der Magier blickte sie zweifelnd an. „Äh ... ich versuch's.“
Naghûl richtete derweil ungefragt die Wasserpfeife her. Er brauchte nach all dem definitiv noch etwas mehr Alkohol und einen starken Tabak. Sgillin kehrte mit drei Krügen aus der Küche zurück, offenbar Wein, Bier und Wasser.
„Hat jemand etwas dagegen, wenn ich Fliegenpilz in den Tabak mische?“ fragte Naghûl in die Runde.
Eliath war offenbar völlig durch den Wind und schien die Frage gar nicht zu hören, doch Sgillin nickte.
„Tu dir keinen Zwang an.“
Jana schenkte sich ein Bier ein und blickte gut gelaunt auf den getrockneten Fliegenpilz, den Naghûl aus der Tasche zog. „Nur zu.“
Lereia hingegen hob abwehrend die Hände. „Ich rauche nicht.“
„Ich ebenso wenig“, erklärte Kiyoshi, während er auf den Sitzkissen Platz nahm.
Naghûl nickte und begann, einen Teil des Fliegenpilzhutes in den Tabak zu bröseln. Dann goss er den Herzwein, den Sgillin aus der Küche geholt hatte, in den Wasserbehälter. Lereia musterte ihn etwas irritiert, wandte sich dann aber an ihren Gast.
„Eliath, ohne näher darauf einzugehen, wir haben jemanden getroffen, der eine ähnliche Geschichte erlebt hat wie Ihr. Ihr seid also sicher nicht alleine.“
„Ich ... bin nicht sicher, ob das die Sache besser macht“, erwiderte der Magier erschöpft.
„Ich hätte einen Vorschlag“, erklärte Naghûl, während er eine kleine Flamme zwischen seine Fingerspitzen zauberte, um den Tabak anzuzünden. „Ich würde Eliath gerne in Schutzhaft nehmen lassen. Wenn er einverstanden ist. In der Kaserne wäre er sicher und könnte auch nichts anstellen, falls der Schläfer aktiviert wird - insofern wir mit unserer Vermutung überhaupt richtig liegen, versteht sich. Aber dort könnte man der Sache unter den besten Umständen nachgehen.“
Lereia nickte. „Wenn wir es mit dem Bundmeister klären, wird es ihm an nichts fehlen.“
Unglücklich sah Eliath sie an. „Aber ... die Dickschädel ... also ...“
Kiyoshi blickte zu ihm, doch seine Miene zeigte keine Regung.
„So wild sind die nicht“, versuchte der Tiefling ihn zu beschwichtigen. „Da wird mehr propagiert als es wahr ist.“
Jana nickte zu Kiyoshi. „Der hier wird auf dich aufpassen. Also, keine Sorge und so.“
„Oh ...“ Erschrocken sah Eliath zu dem jungen Mann hinüber. „Ihr seid vom Harmonium?“
Ein kleines Lächeln erschien nun auf dessen Gesicht, geriet aber – so wollte es Naghûl scheinen - aufgrund der ungewohnten Umgebung in Panik und verblasste sofort wieder.
„In der Tat, ehrenwerter Eliath-san“, antwortete der junge Soldat. „Ich gehöre dem ehrenwerten Bund an, den Ihr die Dickschädel nanntet.“
Der Magier wurde ein wenig blass. „Ich möchte die Bezeichnung Dickschädel zurückziehen und mich dafür entschuldigen“, murmelte er.
Naghûl nahm den Schlauch der Wasserpfeife und zog ordentlich daran, während Sgillin nickte.
„Ich würde sagen, wir folgen Naghûls Vorschlag und bringen Eliath erstmal in die Kaserne. Alles weitere besprechen wir später.“ Er wandte sich an den Magier. „Wäre das in Ordnung für Euch?“
Eliath sah ihn erschöpft an und lächelte denn matt. „Habe ich überhaupt eine Wahl?“
Naghûl trank einen ordentlichen Schluck Bier nach dem ersten Zug und fühlte sich unter dem Einfluss des Fliegenpilzes bereits ein wenig entspannter.
„Zwingen können wir Euch schlecht“, sagte er zu Eliath. „Aber Ihr seid Magier und verfügt über einen logisch arbeitenden Verstand. Also sagt mir: Widerspricht es der Logik, so zu agieren?“
Eliath seufzte nur. „Ich … ich verstehe schon.“
Unterdessen stellte Jana ihren Krug ab und holte die Mappe mit den einzelnen Blättern aus ihrer Tasche. Sie zog das Porträt des vermeintlichen Mörders hervor, das sie nach Eliaths Angaben in den Schwarzen Segeln gezeichnet hatte, und musterte es noch einmal. „Ich frage mich ...“ murmelte sie. „Wie hieß noch einmal dieser Halbelf vom Harmonium?“
Naghûl schüttelte leicht den Kopf. Nun fing das wieder an. „Meinst du Killeen Caine, den Legaten von Arcadia, den Sgillin überprüfen will?“
Er warf seinem Freund ein neckendes Grinsen zu, doch Eliath horchte auf.
„Moment ...“ Er weitete die Augen. „Ihr glaubt, der Legat von Arcadia … hat mich ermordet?“
„Ich nicht“, erwiderte Naghûl und hob abwehrend die Hände.
„Nein“, versicherte auch Lereia. „Er passt nur ganz grob auf die Beschreibung des möglichen Mörders. Sgillin ist da etwas … na ja … paranoid.“
Der Halbelf zuckte mit den Schultern und Eliath blickte zweifelnd in die Runde.
„Aha, ich verstehe ...“
„Meiner Meinung nach ist das Schwachsinn“, erklärte Naghûl mit Nachdruck. „Aber ich werde garantiert nicht derjenige sein, der Bundmeister Sarin diese Vermutung darlegt. Daher lasse ich es auf mich zukommen.“
Kiyoshi nickte bei diesen Worten zufrieden und Lereia versuchte, das Thema zu beenden.
„Falls wir ihn treffen, kann ich unauffällig prüfen, ob er dieselbe seelische Signatur hat wie der Mörder. Damit sollte die Sache erledigt sein.“ Dann wandte sie sich an Eliath. „Lasst Euch nicht verunsichern. Wir bringen Euch in Sicherheit. Um alles andere kümmern wir uns.“
Der Magier nickte schicksalsergeben und sie lenkten das Gespräch auf harmlosere Dinge, um den Abend wenigstens noch einigermaßen entspannt ausklingen zu lassen. Am nächsten Morgen, so der einhellige Beschluss, würden sie Eliath in die Kaserne bringen.
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gespielt am 19. April 2012




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